Die Angst des Antifaschismus vor seinen eigenen (unbestimmten) Annahmen
Teil II der Halbzeitbilanz zum NSU-VS-Komplex
Der erste Teil (Teil I) setzte sich mit den Medien – von rechts mit mittig – auseinander. Wie erklären sich diese das ›Versagen‹ aller deutscher Behörden über dreizehn Jahre hinweg? Und wie erklären sie sich den vielfach belegten Umstand, dass staatliche Behörden u.a. im Gestalt von V-Leuten ›am Küchentisch‹ des NSU saßen, ohne diese einzigartigen Gelegenheiten zu nutzen, Mitglieder des NSU zu verhaften, die Terror- und Mordserie zu stoppen?
In diesem zweiten Teil geht es darum, die letzten beiden Jahre daraufhin zu überprüfen, wie die antifaschistischen und antirassistischen Spektren auf das Bekanntwerden des NSU reagiert haben. Wie wird dort der NSU-Terror eingeordnet? Wie erklärt man sich das ›Versagen‹ des Staates? Welche Rolle spielt der Staat beim dreizehn Jahre langen Gewährenlassen dieses neonazistischen Terrors? Spielt ein (sich verselbstständigender) Geheimdienst eine Schlüsselrolle? Gibt es eine Praxis, die sich aus diesen Schlussfolgerungen ergibt?
Eigentlich müsste man meinen, die Selbstbekanntmachung des NSU im November 2011 würde eine Hochphase antifaschistischer Bewegungen und Gruppen einläuten. Schließlich scheint die Terror- und Mordserie des NSU vor allem denen recht zu geben, die seit Jahren vor faschistischen und rassistischen Ideologien und neonazistischem Terror warnten und die staatlichen Behörden der Tatenlosigkeit, Verharmlosung, bis hin der Mittäterschaft (in Form des Gewährenlassens usw.) bezichtigten.
Genau das Gegenteil war und ist der Fall: Jene, die jahrzehntelang an der Verharmlosung, an der Verbreitung politischer Beruhigungen beteiligten waren, übernahmen bei der vermeintlichen Aufklärung die Führerschaft, während die Antifa in eine Art ›Schockstarre‹ (Antifaschistische Linke International/ALI Göttingen) verfiel.
Der Teil der Antifa-Gruppen, der sich im ›Ums Ganze Bündnis‹ organisiert, und sich vage dem Kommunismus verschreibt, tauchte fast völlig unter. Genau das, was man hätte erwarten können, eine Staatsanalyse und eine Staatskritik, eine Praxis, die vor allem die Rolle des Staates in den Mittelpunkt stellt, blieben aus.
Der andere Teil der Antifabewegung, der sich abseits des ›Ums-Ganze-Bündnisses‹ organisiert, einigte sich – grob zusammengefasst – auf: Der Rassismus ist das eigentliche Problem. Das ist sicherlich näher an der Wahrheit, als das Gerede vom Versagen Einzelner und dem Wirrwarr Aller. Aber diese Ursachenbeschreibung unterschlägt, dass auch Rassismus Herrschafts-, Klassen- und Staatsinteressen transportiert und transformiert, dass der Rassismus oben ein anderer ist als unten. Anders gesagt: Ideologie und Terror des NSU gleichen eben nicht der rassistischen Politik der politischen Klasse. Ganz praktisch erlebbar wird dieses Manko, wenn man den Nicht-Aufklärungswillen staatlicher Behörden im Fall des Mordanschlages auf Polizisten in Heilbronn 2007 verstehen will. Biopolitisch sind Polizeibeamte Deutsche, denen kein Haar gekrümmt werden darf, deren Mörder mit allen Mitteln (und ohne Pannen) gesucht werden. Wenn aber genau dies nicht geschieht, wenn dies sogar unterbunden wird, dann kann man dies nicht mit Rassismus erklären, dafür um so sicherer mit dem obersten Gebot: der Staatsraison.
NSU-watch/apabiz Berlin
Irgendwo zwischen diesen beiden beschriebenen Polen bewegt sich ›NSU-watch‹: »Das NSU-Watchblog wird herausgegeben und redaktionell betreut vom apabiz e.V. Ziel ist es, die unabhängige Aufklärung rund um die Terrorzelle des ›Nationalsozialistischen Untergrundes‹ (NSU) und ihrer rassistischen Morde voranzutreiben.« (NSU-Watch April 2013)
»NSU-Watch wird von einem Bündnis getragen, das aus rund einem Dutzend antifaschistischer und antirassistischer Gruppen und Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet besteht, die seit über einem Jahrzehnt zum Themenkomplex arbeiten.« (Zwischenbilanz November 2013)
Die Idee, eine überregionale Plattform zu schaffen, in der verschiedene politische Strömungen und (für gewöhnlich) neben einander agierende Gruppen aus dem antifaschistischen und antirassistischen Bereich zusammenkommen, sich ergänzen, war gut und notwendig. Sie wäre auch die Voraussetzung dafür gewesen, die unterschiedlichen politischen Einschätzungen offen auszutragen bzw. überhaupt erst sichtbar zu machen.
Genau dies ist nicht passiert. Das sehr frühe Angebot, verschiedene Texte der Plattform zur Verfügung zu stellen, blieb unbeantwortet. Kein allzu mutiges, couragiertes Zeichen.
Auch das Bedauern in der vorgestellten Zwischenbilanz, dass man die politische Analyse vernachlässigt habe, weil dafür Kraft und Kapazitäten fehlten, steht auf ziemlich wackligen Füssen. Selbstverständlich gab es und gibt es politische Analysen, die man zur Diskussion hätte stellen können. Die vorhandenen Beiträge zusammenzutragen, um eine Debatte über unterschiedliche politische Analysen zu beginnen, wollte man nicht.
Es fehlte nicht an Zugängen zu politischen Analysen, es fehlte die Bereitschaft, die Angebote anzunehmen bzw. klar und offen zu sagen, welche Analysen man nicht will.
Die Selbstreduzierung auf eine ›neutrale‹ und ›unabhängige‹ Berichterstattung über den NSU-Prozess in München unterschlägt, dass auch dies eine politische Positionierung darstellt. Denn es gibt gute und belegbare Gründe, den Aufklärungswillen des Gerichts als äußerst bescheiden einzuordnen und auch deshalb eine eigenständige Aufklärungsarbeit außerhalb des Gerichts zu stärken bzw. mitzutragen. Und sicherlich erwarten viele, gerade auch von Apabiz als alte antifaschistische Struktur, dass es der Legende vom Wirrwarr und Pannen etwas entgegensetzt – gerade mit dem Wissen von über 20 Jahren. Auf diese Fragen ging Apabiz zumindest in der Veranstaltung in Frankfurt am 10.12.2013 ein. Zuerst warnte ein Apabiz-Vertreter vor Verschwörungstheorien, mit der Aufforderung, sich nicht am eigenen Weltbild zu halten, sondern an Fakten und Belege. Dann führte er »unglaublich dämliche Bullen« an, ohne dies verallgemeinern zu wollen. Dem schloss sich die Analyse an, dass die Behörden von »falschen Theorien, falschen Methoden und falschen Schlussfolgerungen« geleitet werden. Des weiteren stellte er den Verfassungsschutz als eine Behörde dar, die Parlamentarier wie »Schmeißfliegen« behandeln würden, was den Vertreter von Apabiz zu dem Schluss führte, dass es einen ›Staat im Staat‹ gäbe.
Das Problem an dieser Skizze ist nicht nur, dass die einzelnen Fragmente überhaupt nicht zusammenpassen, sich vielmehr gegenseitig ausschließen. Noch schwerwiegender ist der Umstand, dass den Behauptungen, der Verfassungsschutz habe sich verselbstständigt und es gäbe einen ›Staat im Staat‹, genau das fehlt, was Apabiz eingangs uns allen (zurecht) abverlangte: eine nachvollziehbare Beweisführung.
Damit soll die aufwendige Beobachtung des NSU-Prozesses in München, die sehr detailreichen und informativen Protokolle zu jedem Prozesstag nicht kleingeredet werden. Diese Arbeit ist wertvoll und fruchtbar, wenn man sie mit den Recherchen und Gegenermittlungen verknüpft, die außerhalb des Gerichtssaales gemacht wurden und werden. Dazu gehört eben auch, dem Gericht, der Justiz nicht die ›Wahrheitsfindung‹ zu überlassen.
Abschaffung der Geheimdienste – eine Placebo-Forderung
Als (un-)praktischer, kleinster gemeinsamer Nenner wurde die Abschaffung der Geheimdienste gefordert. Jenseits dessen, dass eine solche Forderung immer richtig ist, stellt sich doch die wichtige Frage, ob für das Gewährenlassen, das Decken von staatsterroristischen Aktivitäten (z.B. in Gestalt von V-Leuten) die Geheimdienste federführend sind. Gleiches gilt für die mit der Forderung nach Abschaffung der Geheimdienste einhergehende Annahme, dass sich die Geheimdienste ›verselbstständigt‹ hätten. Gibt es dafür Belege? Wenn man diese Fragen für wichtig hält, um daraus eine Praxis zu entwickeln, die dem NSU-VS-Komplex gerecht wird, dann wird man anhand des vorliegenden Materials zu dem Ergebnis kommen, dass beides so nicht haltbar ist.
Dass diese Forderung theoretisch auf schwachen Füssen steht, dass sie praktisch nicht wirklich ernst gemeint ist, zeigt sich daran, dass bislang kein einziger Schritt unternommen wurde, diese Forderung aus dem Himmel bedeutungsloser Ansagen zu holen.
Erwartete und überraschende Lichtblicke
Die Tageszeitung ›Junge Welt‹ berichtet nicht nur sehr ausführlich über den Prozess in München. Sie hat schon lange davor sowohl das neonazistische Hinterland des NSU-Terrors ausgeleuchtet, als auch das staatliche Beihilfesystem im aktuellen Fall, aber auch, was seine historische Kontinuität anbelangt (wie z.B. den Staatsterrorismus namens ›Gladio‹ in den 70er und 80er Jahren, den Gladio-Prozess in Luxembourg, der fast total totgeschwiegen wurde). Das ist viel, wenn man das an dem misst, was die politische Aufgabe vieler wäre. Aber das allein wird der Bedeutung dieser Berichterstattung nicht gerecht. Denn es ist nicht dasselbe, ob man in Artikeln und Recherchen jede Aussage, die nicht der offiziellen Version entspricht, mit ›möglicherweise‹ und ›mutmaßlich‹ einwässert oder ob man das politische Risiko auf sich nimmt, das (viel) wahrscheinlicher klar und bestimmt zu benennen. Ebenfalls ist es nicht dasselbe gegen Geheimdienste zu sein, aber sich und jene, die man abschaffen möchte, zu schützen, indem man weder die bekannten Klarnamen der V-Leute nennt, noch die Klarnamen der V-Mann-Führer. Dass in vielen Antifa-Berichten (einschließlich NSU-watch) immer noch von Andreas T., und bei dem Neonazi und V-Mann immer noch von Benjamin G. die Rede ist, ist nicht nur Ausdruck einer ausbleibenden Konsequenz. Sie zeigt auch, dass selbst ganz kleine, aber notwendige Schritte hin zur Einlösung der Forderung nach Abschaffung der Geheimdienste, ausbleiben. Auch hier hat sich Junge Welt oft für die riskante Variante entschieden.
Und natürlich bedarf es keines übermenschlichen Mutes, der offiziellen Version zu misstrauen. Das gehört zum guten Ton und bleibt dann ein Habitus, wenn man keine Versuche unternimmt, eine andere, wahrscheinlichere Version der Ereignisse zu präsentieren und zu vertreten. Dazu muss niemand in die Glaskugel schauen, sondern das vorhandene Material einem anderen Geschehensablauf zuordnen. Wenn man der politischen und juristischen Farce entgegentreten will, dass der NSU drei Mitgliedern bestand/besteht, dann muss man auch das Wagnis eingehen, soweit dies durch Fakten gedeckt ist, andere (Neonazis) beim Namen zu nennen, wie dies im Fall Heilbronn 2007 möglich und vertretbar ist.
Es geht dabei auch darum, es nicht bei einem gepflegten Misstrauen zu belassen, sondern eigene Gegenermittlung durchzuführen, aus der passiven in eine aktive Rolle zu kommen, den Bällen nicht (immer) hinterherzulaufen, sondern eigene Bälle ins Spiel zu bringen.
All dies hat die Junge Welt oft genug gemacht und unterstützt – und das setzt Vertrauen voraus, aber auch eine politische Entscheidung, aus der Rolle des vagen ›Neins‹ herauszutreten.
Ebenfalls sind die Online-Zeitung Migration, die SoZ, die bittersüßen Kolumnen von Mely Kiyak und der Blog von Prof. Hajo Funke zu erwähnen, die alle auf ihre Weise einen Sprung über den eigenen Schatten gewagt haben.
Ermutigend ist auch, dass in Baden-Württemberg verschiedene Initiativen und Gruppierungen zusammenarbeiten, die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses/PUA zu fordern: Das reicht von Antifa-Gruppen, über die VVN bis hin zu antirassistischen Gruppierungen.
Dass dies eine der wenigen Initiativen ist, die auf den Ablauf der politischen ›Aufklärung‹ Einfluss nehmen, zeigt die Windstille an, die zur Zeit herrscht.
Weitermachen, als wäre nichts gewesen …
Erstaunlich oder auch konsequent ist an den hier grob skizzierten Schlussfolgerungen, dass sich in Hinblick auf eine Praxis so gut wie nichts geändert hat. Man macht das, was man schon immer gemacht hat, was nicht falsch ist, aber eben auch (auf Dauer) sehr ermüdend und extrem vorhersehbar. Natürlich liegt das auch an der Schwäche der antifaschistischen und antirassistischen Gruppen. Man verweilt im überschaubaren und eingeübten Sektor: Der Blick, das ganze Tun bleibt i.w. auf Neonazis fokussiert (Outing, Verhinderung von Aufmärschen, Recherche). Meist ist damit auch das Mobilisierungspotenzial ausgeschöpft und die tatsächlich handlungsfähigen Gruppen vollkommen ausgelastet.
Manchmal wird man den Verdacht nicht los, dass man die Theorie den sehr begrenzten Möglichkeiten, zu intervenieren anpasst. Sie ist präzise, geradezu mikroskopisch, was die neonazistischen Strukturen und ideologischen Verschiebungen angeht. Sie wird immer schwächer und flüchtiger, wenn es um eine genaue Bestimmung von staatlichen Behörden, um die Bedeutung von neonazistischen Gruppierungen/Ideologien als reaktionäre Antwort auf die kapitalistische Krise geht.
Doch eine genaue, komplexe Analyse, die das ungeheure Material im Fall des NSU-VS-Komplexes nutzt, muss keine Praxis parat haben, die dieser Analyse gerecht wird. Aber sie kann und muss die bisherige Praxis reflektieren und Mut machen, die bescheidenen Möglichkeiten zur Intervention gut, also besser einzusetzen.
Es wäre zu hoffen, dass dieser (unvollständige) Überblick nicht nur zu notwendigen Diskussionen anregt, sondern auch dazu, in diesem Jahr einiges besser und mutiger zu machen.
Wolf Wetzel 6. April 2014
Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf?, Unrast Verlag 2013, 180 Seiten, 2.Auflage
Teil I der Halbzeitbilanz findet sich hier: Dreizehn Jahre gekonntes Versagen im Fall der neonazistischen Terror- und Mordserie des NSU. Zwei Jahre geballter Unwille, diese aufzuklären.
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Hat dies auf Forum Politik rebloggt und kommentierte:
Antifa in der Krise?
Hat dies auf T*park rebloggt.
Woher kommt eigentlich die Angst der Linken vor alternativen historischen Narrationen (Verschwörungstheorien)? Es ist der alte dialektische Fimmel, die Narration der Herrschenden per se anzunehmen, um sie dann entlang der Vorgaben einer emanzipatorischen Ideologie auf Teufel komm raus zu überhöhen und als Herrschaftsidee zu entwerten.
Das funktioniert aber nur auf der Ebene der historischen Realität, nicht auf der Ebene manipulativer symbolischer Politik, die als Realität ausgegeben wird. Es funktioniert beim Terror der der Arbeitswelt, nicht aber beim Staatsterror.
Hier heißt es einfach, sich vom Marxismus lösen. Anders geht es nicht.
Praktikabel wird die marxistische Sicht in der Ideologiekritik, z.B. bezogen auf das Apabiz. Diese Leute leben vom bürgerlichen Staat und besorgen sein Geschäft. Dazu braucht man sie als hoch ideologisierte Akteure, die zu einer politischen Analyse des NSU-Staatstheaters nicht fähig sind. Je vernagelter und fanatischer der eingeengte Blick auf die neonazistische Urheberschaft des bürgerlichen Staatstheaters, desto nützlicher.