Heute haben wir die Gewissheit, dass man in der Lage gewesen wäre, die Taten des NSU zu verhindern

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Im Folgenden zwei Auszüge aus den im NSU-Prozess gehaltenen Plädoyers. Das erste hat Yvonne Boulgarides gehalten, die Witwe von Theodoros Boulgarides, der am 15.06.2005 in München vom NSU ermordet wurde.
Das zweite Plädoyer hat ihr Rechtsanwalt Yavus Narin gehalten. Beide sind von einer Klarheit geprägt, die andernorts als „Verschwörungsphantasien“ abgetan werden. Dass dies die Bundesanwaltschaft tut, ist erwartbar. Dass dies auch in der „Linken“ geschieht, ist beschämend.
 
Yvonne Boulgarides:
Wie kam es, dass so viele Zeugen von epidemieartigem Gedächtnisverlust befallen wurden? Wieso bekamen V-Personen und ihre V-Mann-Führer nicht gleich eine umfassende Aussagegenehmigung? […] Warum werden diese Leute geschützt? Warum werden nicht die Opfer und ihre Familien geschützt?
Wie viele Opfer wären uns erspart geblieben, hätten die staatlichen Organe ehrenhaft und pflichtbewusst ermittelt? Warum wurden so viele Aktenseiten geschreddert? Warum wurden V-Personen und Unterstützer bis heute nicht angemessen vernommen? Wo sind all die, die durch ihr vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln diese Verbrechen ermöglicht haben? Wieso müssen sie keine Konsequenzen fürchten, wieso werden sie sogar, wie Lother Lingen, der vorsätzlich Akten vernichtet hat, aktiv vor Strafverfolgung geschützt? […]
Es wäre die Aufgabe der entsprechenden Staatsorgane gewesen, der Wahrheitsfindung zu dienen. Leider muss ich an dieser Stelle von einem kompletten Organversagen sprechen. All die zum Teil absurden Auf- und Erklärungsversuche haben uns mit noch mehr Fragen, Misstrauen und Ungewissheit zurückgelassen. (…)
Anstalt-Grafik-III

Als ich im Frühjahr 2011 unseren Anwalt, Herrn Narin, das erste Mal traf, berichtete er mir schon damals von einem offensichtlichen Zusammenhang der damals so genannten „Döner-Morde“ und dem Kölner Nagelbomben-Attentat. (…)
Es wundert mich heute nicht mehr, dass ich unmittelbar nach der Verpflichtung von Herrn Narin Besuch von einem Ermittler der „Soko Theo“ bekam. Dieser beschrieb mir Herrn Narin als äußerst dubiosen Menschen und riet mir, die Mandatserteilung zu revidieren. Sein Besuch hat genau das Gegenteil bei mir bewirkt.
Die zahlreichen Rechercheergebnisse unseres Anwalts haben sich im Laufe der Zeit alle bewahrheitet und nicht nur bei uns zur Aufklärung beigetragen.
Während der Jahre wurden gegen Yavuz Narin einige Ermittlungsverfahren eingeleitet, unter anderem wegen Geheimnisverrats.
Dazu möchte ich folgendes sagen: Geheimnisse, die dazu dienen, Verbrechen und desaströses Fehlverhalten zu vertuschen sind nicht schützenswert!!!“
 
Auszug aus dem Plädoyer des Rechtsanwaltes Yavus Narin, der die Interessen von Yvonne Boulgarides vertritt:
„Als die Öffentlichkeit im November 2011 von der Existenz des NSU erfuhr, sagte Yvonne Boulgarides, die ich damals seit einem halben Jahr vertrat und der ich von meiner Hypothese einer mordenden und bombenlegenden Combat-18-Zelle erzählt hatte: „Jetzt wird der Verfassungsschutz Akten vernichten.“
Ich antwortete: „Vielleicht. Aber wenn man ein Loch in eine CD bohrt, kann man immer noch die Musik hören.“
Und so ist es: Heute haben wir die Gewissheit, dass man in der Lage gewesen wäre, die Taten des NSU zu verhindern.
Wir haben die Gewissheit, dass wir und dieses Gericht bis zum heutigen Tag von den Verfassungsschutzbehörden belogen werden.
Wir haben die Gewissheit, dass zahlreiche V-Personen und Verfassungsschutzmitarbeiter bis heute vor Strafverfolgung geschützt werden. (…)
Worüber wir außerdem Gewissheit haben ist, dass der NSU weitaus mehr Unterstützer in der Nazi-Szene hatte, als die Bundesanwaltschaft uns weismachen will. Wie meine Kollegin Seda Basay bereits darlegte, stützen die bisherigen Erkenntnisse NICHT, dass es keine Unterstützer an den Tatorten gab, sondern genau das Gegenteil.
Schon ein simples Rechenbeispiel könnte die Trio-These der Bundesanwaltschaft widerlegen:
Der Zeuge Gründig von der Berliner Polizei hat in der HV ausgesagt, dass er an der Berliner Synagoge im Mai 2000, also wenige Monate vor dem ersten Mord, neben Beate Zschäpe drei weitere Personen beobachtet hatte, von denen er eine als Uwe Mundlos identifizierte. Bei der anderen männlichen Person handelte es sich höchstwahrscheinlich um Jan Werner.
Denn zur selben Zeit liefen gegen den Beschuldigten Jan Werner eine G-10-Maßnahme sowie eine Observation des sächsischen Verfassungsschutzes. Im G-10-Antrag vom 28. April 2000, also nur eine Woche vor der Synagogenausspähung hatte die Behörde davor gewarnt, dass von dem untergetauchten Trio schwerste Straftaten zu erwarten seien. Ich zitiere aus dem Antrag auf Anordnung der G-10-Maßnahmen:
 
„Die Unterstützungshandlungen der betrofenen 1-4 (gemeint sind Andreas Graupner, und die anderweitig Verfolgten Thomas Starke, Mandy Struck und Jan Werner) sind ein wesentlicher Anhaltspunkt dafür, dass sie den Zweck der Gruppe mit tragen. – Das Vorgehen der Gruppe ähnelt der Strategie terroristischer Gruppen, die durch Arbeitsteilung einen gemeinsamen Zweck verfolgen.“
Außerdem ging das LfV Sachsen davon aus, dass das Trio sich in Chemnitz aufhalte.
Aus dem Vermerk des sächsischen Lfv vom 17. Mai 2000 zur erfolgten G-10-Maßnahme geht hervor, dass Jan Werner am Tag der Ausspähung im Mai 2000 in Berlin war. Jan Werner war der Mann, mit dem der V-Mann Carsten Szcepanski alias Piatto bereits 1998 darüber kommuniziert hatte, dass sich das NSU-Trio bewaffnen wolle, um WEITERE Banküberfälle zu begehen. Ein V-Mann-Führer von Piatto war der Zeuge Gordian Meyer-Plath, heute Präsident des LfV Sachsen.
Auf einem Observationsfoto aus Berlin, einige Wochen nach der Synagogen-Ausspähung ist Jan Werner, über den ein BKA-Beamter hier aussagte, er gehe davon aus, dass Jan Werner als V-Mann tätig gewesen sei, mit zwei weiblichen Personen zu sehen. Eine davon, Annett Wendefeuer, war, wie wir heute wissen, die Mutter der Kinder des Blood & Honor-Chefs Deutschland, der, wie wir heute ebenfalls wissen, V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz war. Ein weiterer enger Kamerad von Frau Wendefeuer war Mirko Hesse, Gründer der sächsischen Hammerskins und ebenfalls V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz.
Ermittlungen durch die Bundesanwaltschaft gab es zu dem Berliner Sachverhalt bis Oktober 2016 – nicht.
Als das Gericht infolge meines Beweisantrags zur Synagogenausspähung weitere Ermittlungen zu dem Sachverhalt anordnete, antwortete Gordian Meyer Plath, ehemaliger V-Mann-Führer von Piatto, heute in seiner Funktion als Präsident des LfV Sachsen, mit Schreiben vom 16. Dezember 2016 persönlich, leider seien die G-10 Protokolle wie alle „nicht mehr benötigten personenbezogenen Daten“ vernichtet. Warum einzelne SMS-Nachrichten von Jan W. aus den betreffenden Tagen erhalten sind, wird nicht näher erläutert. Im selben Monat erfuhr man aus dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags allerdings auch, dass die Bundesanwaltschaft selbst Beweismittel zum Beschuldigten Jan Werner – trotz des Vernichtungsmoratoriums des Bundesinnenministeriums – vernichtet hatte. Die Erklärung lautete, die Bundesanwaltschaft, die das Ermittlungsverfahren gegen Jan Werner führt, habe Jan Werner nicht in Verbindung mit dem NSU gebracht, obwohl dieser wenige Wochen vor der Beweismittelvernichtung als Zeuge – hier – in diesem Saal geladen war. (…)
Worauf ich hinaus will, ist eigentlich nur ein sehr einfaches Rechenbeispiel:
An der Ausspähung der Berliner Synagoge im Mai 2000, also wenige Monate vor dem ersten Mord an Enver Simsek, waren beteiligt: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, mutmaßlich Jan Werner und eine unbekannte weibliche Person mit zwei Kindern. Wer fehlt, ist Uwe Böhnhardt, der sich an jenem Tag laut LfV Sachsen in Chemnitz aufhielt.
Man müsste also buchstäblich nur Eins und Eins zusammenzählen, um die Trio-These zu verwerfen. Ich glaube, dass jeder in diesem Saal zu dieser mathematischen Leistung fähig ist.”
Wolf Wetzel
Eine Zusammenfassung über fünf Jahre „Aufklärung“ findet sich hier:
Staatlich betreute Morde und fünf Jahre NSU-„Aufklärung“: https://wolfwetzel.wordpress.com/2017/09/07/staatlich-betreute-morde-und-fuenf-jahre-nsu-aufklaerung/
 
Quellen: http://www.nsu-nebenklage.de/blog/2018/02/08/08-02-2018/#more-2115
https://hajofunke.wordpress.com/2018/02/09/nsu-verfahrendie-plaedoyers-von-yvonne-boulgarides-und-yavuz-narin-im-nsu-mordfall-des-theo-boulgarides-muenchen/
 

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