„Begegne den Feinden Deiner Nation mit Hass und rücksichtslosem Kampf.“ Der radikale ukrainische Nationalismus und die OUN.

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„Begegne den Feinden Deiner Nation mit Hass und rücksichtslosem Kampf.“ Der radikale ukrainische Nationalismus und die OUN.[1]

Von Klaus Wernecke/Markus Mohr

 

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 werden „Helden“ der OUN, der Organisation Ukrainischer Nationalisten, öffentlich geehrt. Im April 2015 erklärte die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, die Mitglieder der OUN offiziell zu Unabhängigkeitskämpfern. Dazu zählt Stepan Bandera, nachdem hunderte Straßen und Plätze umbenannt und für den lebensgroße Statuen und Denkmäler aufgestellt wurden.

 

Hinzu kommen vier Bandera-Museen. „In der Zeit des Maidans 2013/14 griff die Verehrung auch auf Kiew über.“[2] Seine Statue in Lwiw (Lemberg), einer Hochburg des nationalistischen „Helden“-Kult, ist, mit Sockel, sieben Meter hoch. Das Denkmal wurde 2007 vollendet.[3]

Auf dem Gelände der Zitadelle von Lemberg ermordeten die deutschen Eroberer im 2. Weltkrieg über 100.000 russische Kriegsgefangene. [4]

Zum 100. Geburtstag Banderas am 1. Januar 2009 erschien in der Ukraine eine Brief-Marke mit seinem Porträt. Zum 1. Januar 2023 twitterte ein ukrainischer Armeeoffizier „Alles Gute zum Geburtstag. Ruhm der Nation“.

Dazu zeigt ein Foto den Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, vor einem gemalten Bandera-Porträt. „Das Foto sei echt, stellen die ukrainefreundlichen Fact-Finder von Correctiv zähneknirschend fest.“[5]

Was für ein politisch-ideologischer Hintergrund verbindet sich historisch mit der OUN-B und einem ihrem langjährigen Aktivisten und Anführer, Stepan Bandera?

1929 in Wien gegründet, spaltete sich die OUN 1940 in eine von Oberst Andrij Melnyk geführte Organisation, auch genannt „Melnykisten“ (OUN-M) und die „Banderisten“ (OUN-B) unter Führung von Stepan Bandera. OUN-B-Angehörige zogen 1941 in den Bataillonen „Nachtigall“ und „Roland“ aufseiten der deutschen Wehrmacht zum Krieg gegen die Sowjetunion in die Ukraine. OUN-M-Mitglieder stellten Freiwillige für die Waffen-SS-Division „Galizien“. Die OUN-M entstand zunächst meist aus Emigranten, Anhängern von Oberst Andrij Melnyk (1890–1964). Die in der OUN-B versammelten Anhänger Stepan Banderas (1909–1959) waren jünger und radikaler, hatten ihre Basis vor allem im westukrainischen Galizien und wollten den bewaffneten Kampf für die Eigenstaatlichkeit der Ukrainer.

„Vor dem Angriff auf Polen 1939 und ebenso vor dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 traf die deutsche Abwehr[6] Absprachen mit der OUN, beziehungsweise der OUN-B, über Aufstände, die die OUN-Einheiten hinter der Front initiieren sollten. … Die Vereinbarung zwischen der Abwehr und der OUN zur politisch-militärischen Kooperation sah vor, dass die OUN eine nicht weiter präzisierte Form von Selbständigkeit erhielt, wenn sie im Falle eines Aufstands in der Westukraine die dort lebenden Juden und Polen vernichtete. OUN-Kader reisten mit deutschen Abwehroffizieren Mitte September 1939 nach Ostpolen, um die Lage vor Ort zu inspizieren. Hier berichtete man der Delegation von Massenerschießungen der Juden. Die OUN war also über wesentliche Entwicklungen des Krieges, vor allem über das mörderische Vorgehen gegen Juden, aus erster Hand informiert.“ (Bruder 129 f)

Nach dem Vollzug des deutsch-russischen Paktes mit dem Einmarsch der Roten Armee in die Westukraine (17.9.39) stoppte die Reichsregierung diese Aufstandsplanung. In seiner Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion wurde vom Oberkommando der Wehrmacht im März/April 1941 das Bataillon „Nachtigall“ gegründet. Es bestand zunächst aus 330 westukrainischen Soldaten, hauptsächlich von der OUN-B zusammengestellt. Den Oberbefehl hatten deutsche Offiziere.[7] Die Soldaten trugen Wehrmachtsuniform und als zusätzliche national-ukrainische Symbolik ein blau-gelbes Abzeichen auf den Schulterklappen, als Zeichen auch eines deutsch-ukrainischen Bündnisses. Ähnliches galt für das Bataillon „Roland“ mit 350 Ukrainischen Soldaten. „Nachtigall“ und „Roland“ „waren integraler Bestandteil der deutschen Kriegsführung“ und keine autonomen Einheiten, wie in der national-ukrainischen Geschichtsschreibung dargestellt. (Bruder 132)

Die Hegemonisierungsstrategie der OUN beinhaltete bereits in der Zwischenkriegszeit die totalitäre Unterwerfung aller Lebensbereiche. Unter Kriegsbedingungen hieß das, das politisch-ethnische Nationenverständnis der OUN-B durch paramilitärische Truppen flächendeckend mörderisch durchzusetzen.“ (Bruder 144 f)

 

Am 23. Juni 1941, einen Tag nach Beginn des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion, gab ein Vertreter der OUN-B in der Berliner Reichskanzlei eine Denkschrift ab. Sie informierte über ihre nun zu vollziehende Gründung eines selbständigen ukrainischen Staates. Den proklamierte die OUN-B am 30. Juni in Lemberg. An diesem Tag marschierte die Wehrmacht in Lemberg ein. Schon unmittelbar nach Beginn des deutschen Krieges am 22. Juni 1941 gab es in der Westukraine in „dutzenden Orten … Pogrome an Juden. Oft waren noch keine Einheiten der Wehrmacht vor Ort.“ Die Täter waren Ukrainer. Der israelische Historiker Shmuel Spector hält, so Bruder, „das Plündern jüdischen Eigentums für die wesentlichste Ursache der Pogrome.[8] Für zahlreiche, gleichzeitig stattfindende Pogrome bedarf es einer Initiativkraft. Aus den Schilderungen jüdischer Überlebender geht hervor, dass in der Regel eine ‚ukrainische Miliz‘ vor Ort diese Initiativkraft verkörperte. Die OUN-B verschleierte deren Tatbeteiligung. … als Akteur erscheint ausschließlich ‚die Bevölkerung‘.“ In der OUN-B Zeitschrift „Unser Kampf“ werden Pogrome mit dem Stereotyp der „Judenkommune“ und deren notwendiger Vernichtung legitimiert. Mit diesem Begriff wurden aus Opfern Täter gemacht, vereinigten sich radikaler Antikommunismus und Antisemitismus. (Bruder 145 f und 148)

Die „Ukrainische Nationale Miliz“ war auf Anordnung Banderas aufgestellt worden, als von den Nationalsozialisten unabhängige Truppe. In einem „Staatsakt“ verkündete die OUN am Abend des 30. Juni 1941 in Lwiw (Lemberg) die Gründung eines ukrainischen Staates. (Bruder 141:)

„Der Staatsakt war symbolisch aufgeladen und gründlich inszeniert.“ Zunächst trat ein Geistlicher auf, der Militärpriester des Bataillons Nachtigall. „Mit seinem Auftritt verkoppelte die OUN-B Religion, Militär und Staat, die in den Augen der ukrainischen Nationalisten Heilige Dreifaltigkeit.“ Dann wurden Grußworte des Oberhauptes der griechisch-katholischen Kirche überbracht. Die Reihenfolge der folgenden weiteren Grußworte „ist politisch leicht zu decodieren: An erster Stelle standen selbstverständlich die ‚Führer‘. Hier musste Banderas Name als erster fallen, um den Machtanspruch der OUN-B als ‚Herr im Hause‘ zu manifestieren. Danach wurde der Führer des ‚Bündnispartners‘, Hitler, gegrüßt sowie die Wehrmacht“. Ein anwesender deutscher Abwehroffizier versuchte vergeblich die Versammlung aufzulösen: „es sei Krieg und kein Platz für Politik.“

Am frühen Morgen des 30. Juni war ein Vorauskommando der deutschen Einsatzgruppen in Lemberg eingetroffen. Es folgte die reguläre Wehrmacht. Vom Ort am Marktplatz, wo der neue Staat ausgerufen wurde, bis zum Hauptquartier der Wehrmacht sind es zu Fuß nur fünf Minuten, von hier zu Orten antijüdischer Massaker fünfzehn. „Die Staatsproklamation und die Pogrome liefen buchstäblich nebeneinander ab.“ (Bruder 149) „Nur wenige hundert Meter von den Massenmorden an Juden entfernt, die durch ihre Mitglieder initiiert und begangen wurden, setzte die OUN-B am 30. Juni 1941 in Lemberg ihr ideologisches Kernziel in Szene: die Staatsgründung.“ (Bruder 151) Im Radio sangen Soldaten des „Stepan Bandera Bataillon“ deutsche und ukrainische Militär- und [nationalistische] Revolutionslieder. Die Stadt war bald voll von gelb-blauen Flaggen, dazu Plakate mit Proklamationen Banderas. Der von der OUN-B-Propaganda als Providnyk („Führer“) der Ukrainer präsentierte Bandera, aktuell selbst nicht in Lemberg, rief darin zu Mord und Brandstiftung auf.[9] Zu lesen war neben blau-gelben und Hakenkreuz-Flaggen auch: „Lang lebe Stepan Bandera“, „Lang lebe Adolf Hitler“. Die Nationalisten begrüßten sich mit „Ruhm der Ukraine“ und antworteten „Ruhm den „Helden“.

„Die Ukraine den Ukrainern“ hieß es auf Plakaten der „rassistischen Nationalisten. Sie informierten ihre Leser darüber, zu wem das Gebiet in dem sie lebten gehören sollte und wem es erlaubt, und wem es nicht erlaubt sein sollte, darin zu leben. Viele der Plakate und anderes revolutionäres Propagandamaterial verband die Idee der Gründung eines Ukrainischen Staates mir der Ermordung der Juden. Auf einem dieser Plakate war zu lesen: ‚Wisset! Moskau, Ungarn, Juden sind eure Feinde, Tötet sie, vergesst nicht! Eure Führung ist die Führung der Ukrainischen Nationalisten OUN, euer Führer ist Stepan Bandera, euer Ziel ist ein unabhängiger Ukrainischer Staat.“[10]

Der gewalttätigste Tag des antijüdischen Pogroms in Lwiw war zunächst der erste Juli, aber Misshandlungen und Morde setzten sich in den nächsten Tagen fort.

Von der entmenschenden Gewalt der Pogrome gibt es Filme und Fotografien, gemacht von deutschen Soldaten.[11]

Zur Lemberger Mordserie zählt auch der „Professorenmord“. Mit Hilfe ukrainischer Studenten wurde eine Liste von Lemberger Professoren polnischer Abstammung erstellt. In der Nacht vom 3. zum 4. Juli sind 22 Professoren, zum Teil samt ihrer Familienangehörigen und allen Personen, die sich in ihren Wohnungen aufhielten, von der Gestapo verhaftet und 21 Professoren zusammen mit 13 Angehörigen noch in der gleichen Nacht erschossen worden. Am 12. Juli wurden zwei weitere Professoren ermordet.[12]

Wie viele Angehörige der Wehrmacht an den Pogromen teilnahmen, ist nicht mehr genau festzustellen. Bei der Aktion wurde am 30. Juni und 1. Juli eine unbekannte Zahl von Juden misshandelt und mehrere hundert ermordet. Inzwischen traf die deutsche Einsatzgruppe C in Lemberg ein. Sie mordete noch planmäßiger – unter Mitarbeit Ukrainischer Miliz .[13]

Ein Bericht der zentralen OUN-Propagandastelle in Lemberg vom 28. Juli 1941 meldete:

„Unsere Miliz führt jetzt gemeinsam mit den deutschen Organen zahlreiche Verhaftungen von Juden durch. Vor der Liquidierung verteidigen sich die Juden mit allen Methoden, vor allem mit Geld. … sollen sich unter unseren Polizisten Leute befinden, die für Geld oder Gold Juden laufen lassen …“ (Bruder 147)

Als die „deutschen und ukrainischen Nationalisten“ am 30. Juni 1941 in Lwiw eindrangen, lebten in der Stadt 160.000 Juden, 140.000 Polen und 70.000 Ukrainer. (Rossolinski-Liebe 198)

Das direkte Bündnis der ukrainischen Nationalisten, hier an der Spitze die OUN-B, mit den Deutschen, bisher getragen vor allem von der deutschen Abwehr, wurde nach dem „putschistischen Staatsstreich“ (Bruder 152) in Lemberg von deutscher Seite beendet. Die deutsche politische Führung akzeptierte keinen eigenständigen „ukrainischen“ Staat. Bandera wurde festgenommen und bis 1944 in einer „Ehrenhaft“ gehalten.[14] Mitte September 1941 kam es zu einer Verhaftungswelle gegen OUN-B-Mitglieder.

„Vor der Illegalisierung im Herbst 1941 hatte die OUN-B Pogrome gegen Juden initiiert und sich mit dem Bataillon ‚Nachtigall‘ an Morden an Juden beteiligt. Führende Mitglieder der OUN-B hatten sich für die Vernichtung der Juden nach deutschem ‚Vorbild‘ ausgesprochen.“

Die aktuelle Stimmung an der OUN-Basis gibt, so Bruder, ein Brief vom Oktober 1941 mit Unterschrift der OUN-B wieder: „Es lebe die große selbständige Ukraine ohne Juden, Polen und Deutsche. Polen hinter den San, Deutsche nach Berlin, Juden an den Haken.“ Bruder interpretiert:

„Die Zustimmung der OUN-B zum Holocaust kommt nach ihrer Illegalisierung im Herbst 1941 in erster Linie darin zum Ausdruck, dass sie schwieg.“

Doch in ihrem „radikalen Antisemitismus“ stimmte sie „der Massenvernichtung der Juden im Grundsatz zu“. In den OUN-Texten wird nun der Mord an den ukrainischen Juden bagatellisiert und verschleiert, nur „antijüdische Aktion“ genannt. (Bruder 166 f)

Im Oktober 1942 formierte die OUN-B die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) als ihren bewaffneten, militärischen Flügel, als nationalistische Partisanen, partiell auch gegen die deutsche Besatzung gerichtet.[15] Damit verbunden war eine „Verschiebung des organisatorischen Schwerpunktes der OUN-B vom politischen zum militärischen Arm“. Die UPA bestand aus vielen OUN-B-Mitgliedern, umfasste aber auch Personen, „die beispielsweise vor der Deportation zur Zwangsarbeit nach Deutschland flohen. Die UPA war daher politisch disparater.“ Dennoch entwickelte sich eine „klare Arbeitsteilung, die OUN-B und die UPA sind als politische Einheit zu betrachten.“ (Bruder 177) Sympathisanten und Aktivisten der hier beteiligten ukrainischen Polizei informierten die OUN-B auch über den Fortgang der Massenmorde an Juden. „Öffentlich hat sich die OUN-UPA bis heute weder zu der Beteiligung am Holocaust noch zu den gezielten Massakern an der polnischen Zivilbevölkerung bekannt, sie hat sie vielmehr immer strikt geleugnet.“ (Bruder S. 176)

Obwohl die deutsche Politik eine selbständige und noch dazu von der OUN beherrschte Ukraine strikt ablehnte und deren Propagandisten verfolgte, gab es in der Praxis vor Ort weiterhin Kontakte. Die Position von OUN-B-Repräsentanten zeigte hier Züge von Opportunismus. Bruder interpretiert die politische, übergeordnete Taktik:

„Der Grund für die öffentliche Zurückhaltung war, dass die Nationalsozialisten mit Hilfe der ukrainischen Polizei den Massenmord an den Juden in der Region zügig durchführten. Eine öffentliche Distanzierung lag der OUN-B daher fern. Vielmehr wurde ‚vom Jüdischen Problem‘ gesprochen, das in einigen Teilen der Ukraine von den Deutschen ‚gelöst‘ oder ‚noch nicht gelöst‘ wurde.“ (Bruder 169)

Gelöst im Sinne des völkischen, mörderischen Nationenverständnis der OUN-B.

Nach der Inhaftierung Banderas übernahmen andere OUN-Mitglieder die Leitung der OUN-B. Rossolinski: „Viele OUN-B-Mitglieder, die während des Holocaust in der deutschen Polizei dienten, und ein Teil der UPA-Partisanen, die Polen und Juden ermordeten, identifizierten sich zwar mit Bandera und betrachteten ihn als ihren providnyk oder bezeichneten sich selbst als banderivci (Bandera-Anhänger), aber Bandera erteilte ihnen keine Befehle. Seine politische Wirkungsmöglichkeit war in dieser Zeit eingeschränkt. Die politische Leitung war in den Händen von Roman Schuchewych[16], Mykola Lebed, Dmytro Kliachkivśkyj und anderen, die direkt vor Ort die Morde anordneten und die ‚Säuberung‘ der Westukraine koordinierten.“ [17]

„Im März 1943 desertierten in Wolhynien mehrere Tausend ukrainische Polizisten zur UPA, die zuvor an Massenerschießungen von Juden in Wolhynien beteiligt gewesen waren. Damit hatte eine große geschlossene Gruppe in der OUN-UPA Erfahrungen im Massenmord. Seit April 1943 nahmen die Aktionen gegen Polen den Charakter einer ethnischen Säuberung an. Ihren Gipfel erreichte die ‚antipolnische Aktion‘, wie sie von der OUN-UPA bezeichnet wurde, am 11. Juli 1943, als in drei Landkreisen polnische Dörfer und Siedlungen umstellt und die gesamte Bevölkerung brutal ermordet wurde.“ (Bruder 171)[18]

Der Befehlshaber der Gruppe UPA-Nord, Dmytro Kljatschkiwskyj, erklärte 1943 in einer Direktive die Liquidierung aller „polnischen Elemente“ als Ziel. Zwar sollten zunächst nur alle männlichen polnischen Bewohner im Alter zwischen 16 und 60 Jahren ermordet werden, die Opfer der Massaker waren jedoch überwiegend polnische Frauen und Kinder. Die Ukrainer hofften, durch die Beseitigung der Polen ihren künftigen Anspruch auf Wolhynien untermauern zu können. Zudem galten die Ausschreitungen als Racheakt für Massaker polnischer Nationalisten an ukrainischen Zivilisten im Jahr 1942.

Die Vorgehensweise der UPA war von größter Brutalität gekennzeichnet. Bei den von der UPA begangenen Gräueltaten fanden nicht nur Feuerwaffen, sondern auch Äxte, Beile, Spieße, Messer und Heugabeln zur Ermordung der polnischen Bevölkerung Verwendung. Unabhängig von Alter und Geschlecht wurden die Opfer häufig zu Tode gefoltert, ganze Siedlungen in Brand
gesteckt, die Ortschaften oftmals nachts oder im Morgengrauen überrumpelt, wie etwa während
des Massakers in Janowa Dolina. Mehrfach kam es während katholischer Gottesdienste zu
Überfällen auf Kirchen. Der britische Historiker Norman Davies beschreibt im Buch No
simple Victory wie ganze Dörfer niedergebrannt, katholische Priester mit Äxten zerhackt oder
gekreuzigt und abgelegene Bauernhöfe von mit Messern und Heugabeln bewaffneten Gruppen
angegriffen wurden. Man schnitt den Opfern die Kehlen durch, schwangere Frauen und Kinder
wurden aufgespießt oder in Stücke geschnitten, Männer wurden aus dem Hinterhalt überfallen
und ermordet.

Im Morgengrauen des 30. August 1943 überfielen ukrainische Nationalisten das Dorf Ostrowka in Wolhynien. Der überlebende Aleksander Pradun, der während der Massaker fast seine ganze Familie verlor, erinnert sich:

„Es ist kaum zu beschreiben: Alles schrie und weinte. Kinder, die unter den Leichen
nach ihren Müttern suchten und erschossen wurden. Meine Mutter wollte, dass wir
diesem Morden nicht länger zusehen. Sie drückte mich an sich – und dann schossen
sie, erst auf meine Tante. Dann merkte ich, wie der Arm meiner Mutter erschlaffte – sie
hatten sie getroffen. Ich lag regungslos da, um mich herum Totenstille. Und dann hörte
ich die Ukrainer rufen: ‚Die polnische Fresse liegt hier, besiegt!’“

 

Ein weiterer Überlebender der Massaker, Zygmunt Maguza, berichtet von der Ermordung seiner Familie:

„Auf dem Tisch stand Brot. Oma hat es gebacken, dachte, dass wir vielleicht kommen.
Die Tür in die Stube war angelehnt. Rechts sah ich den Opa liegen. Links Oma und
Weronika. Ich guckte rein, der Opa hatte keinen Kopf mehr. Ich hob ihn an, da spritzte
das Blut! Ich hatte nur ein Hemd und eine kurze Hose an, war barfuß. Oma hatte ein
Schlafhemd an, jemand hatte sie mit der Axt von oben nach unten durchgetrennt.
Daneben – die 11-jährige Weronika Stankiewicz. Sie war nicht nur erschossen worden,
sondern auch von oben nach unten zerhackt.“

 

Angehörige der polnischen Heimatarmee (AK) reagierten auf die Massaker der UPA mit weiteren Vergeltungsaktionen an der ukrainischen Bevölkerung in Selbstverteidigungsverbünden. Sie organisierte das Niederbrennen ganzer ukrainischer Dörfer sowie das Massakrieren der dort lebenden Einwohner.

Bis 1944 kam es in der Ukraine zu einer weiteren Serie von Morden an Polen und Juden.

„Zwischen dem 22. Juni 1941 und dem Abzug der deutschen Truppen im Sommer 1944 wurden etwa 500.000 Juden in Ostgalizien und mehr als 200.000 in Wolhynien ermordet. Täter waren insbesondere die deutschen Einsatzgruppen der Sipo und SD[19] unter Mithilfe der ukrainischen Polizei sowie des Ende 1942 gegründeten militärischen Arms der OUN-B, der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA).“ (Bruder 155)

„Die Pogrome waren für die OUN-B ein Schritt zur Realisierung ihres ethnisch homogenen Nationenverständnisses und für die ukrainische Bevölkerung eine Gelegenheit, sich straffrei des Eigentums der Juden zu bemächtigen.“ (Bruder 148)

 

Verfolgt wurden auch ehemalige Rotarmisten und ukrainische Kommunisten. Hauptfeind war weiter der „Bolschewismus“ bzw. die Sowjetunion.[20] Das wurde beim Vorrücken der Roten Armee 1943/44 in der Ukraine deutlich. Nach den schweren Niederlagen der deutschen Wehrmacht 1943 (Stalingrad, Panzerschlacht von Kursk) befreite die Rote Armee im November des Jahres Kiew. Im März 1944 begann ihre Frühjahrsoffensive. Nun suchte die OUN erneut eine Zusammenarbeit mit den Deutschen. Die OUN-UPA-Führung und regionale UPA-Verbände nahmen „Kontakt zu Teilen der Wehrmacht sowie zum Führer von Sipo und SD in Galizien auf. Man schloss ein erneutes taktisches Bündnis gegen sowjetische Partisanen und die Rote Armee.“ Die nahm im August 1944 Lemberg ein.[21]

Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte die OUN im Exil in westlichen Ländern. Der 1992 gegründete Kongress Ukrainischer Nationalisten (KUN) sieht sich als Nachfolger der OUN.

 

Klaus Wernecke/Markus Mohr | März 2023

[1] Punkt 8 aus den Zehn Geboten des Ukrainischen Nationalisten (Dekalog von 1929), dem Kernprogramm der OUN.

Zum Thema die OUN, Bandera und der radikale Ukrainische Nationalismus gibt es zwei, auch auf heute zugängliche Quellen gestützte, analytisch profunde neuere Darstellungen: Franziska Bruder: „Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben!“ Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) 1929-1948. Berlin 2007 (Diss. TU Berlin am Zentrum für Antisemitismusforschung)  – Grzegorz Rossolinski-Liebe: Stepan Bandera. The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist. Facism, Genocide and Cult. Stuttgart 2014. Zwischen 1929 und Mitte der fünfziger Jahre waren insgesamt an die 400 000 Menschen in der OUN(-UPA) organisiert, etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung von vier- bis viereinhalb Millionen Ukrainern Anfang der 1930er Jahre. So „ist von einer weitgehenden Durchdringung der Ukrainischen Gesellschaft durch die OUN-UPA auszugehen.“ (Bruder 279)

 

[2] Martin Sander am 13.04.2022 in: Deutschlandfunk Kultur: Die problematische Seite des ukrainischen Nationalismus.

[3] Hinter dem Bandera-Denkmal erhebt sich als 30 Meter hohe Stele ein Triumphbogen ukrainischer Eigenstaatlichkeit.

[4] Rupert Koppold: Ein Land, das solche „Helden“ braucht …, in: NDS 19. Januar 2023 – weiter daraus: Das Bandera-Erbe sei als Handlungsanweisung zu verstehen, so zitiert am 2. Januar die israelische Zeitung „Haaretz“ (wer in der BRD ?) aus dem Twitter-Account des ukrainischen Parlaments. Der Oberkommandeur Saluschnyi sei sich dessen sehr bewusst. Dieses Parlament erklärt auch, dass „der komplette und totale Sieg des ukrainischen Nationalismus“ dann feststehe, „wenn das russische Reich aufgehört hat zu existieren“. Haaretz erinnert allerdings an Israels früheren Präsidenten Reuven Rivlin und an den jetzigen Isaac Herzog, die davor warnen, Antisemiten und Nazikollaborateure zu „glorifizieren“, es sei an der Zeit, dass die Ukraine sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetze.

Auf dem Gelände der Zitadelle von Lwiw (Lemberg) befand sich vom Dezember 1942 bis zum Januar 1944 unter anderem ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene (Stalag-328). Die Unterkunftsräume wurden nicht beheizt. Laut Zeugenaussagen waren insgesamt ca. 284.000 Kriegsgefangene im Lager inhaftiert, von denen über 142.000 Opfer von Hunger, Krankheit, Folter und Erschießungen wurden. In den Zellen wurden Inschriften sowjetischer Kriegsgefangener gefunden: „Hier verhungerten russische Gefangene tausendfach. 22. Januar 1944“, „Die Ruhmvolle russische Armee wird mit Ungeduld nicht nur von Völkern, sondern auch von den dem Verhungern preisgegebenen Kriegsgefangenen erwartet. Wie schwer ist es zu sterben / Der Tod ist hart.“ Heute erinnert ein einfaches Holzkreuz an die Ermordeten. Mittlerweile (2018) befindet sich oben auf dem Berg ein großes Metallkreuz mit einer Info-Tafel in Ukrainisch und Englisch. (https://de.wikipedia.org/wiki/Zitadelle_von_Lwiw)

 

 

[5] ebd

[6] Die „Abwehr“ war der Wehrmacht unterstellt. Ihr Leiter war von 1935-1944 Wilhelm Canaris. Kontakte ukrainischer Nationalisten zur Reichswehr gab es seit den 1920er Jahren. So organisierte die Reichswehr 1923 in München geheime Ausbildungskurse für die Ukrainische Militärische Organisation (UWO). Sie ging 1929 in die neugegründete OUN auf.

[7] „Politoffizier“ des Bataillons „Nachtigall“ war Theodor Oberländer: von 1953-1960 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Mitglied des Deutschen Bundestages, zuerst GB/BHE, dann CDU. Seine Einheit drang am 30. Juni noch vor der regulären Wehrmacht nachts in Lemberg ein.

[8] Zu Diebstahl als Pogrom-Motiv s. a. Rossolinski-Liebe S. 213

[9] Kurt Lewin, ein Erlebender und Überlebender der Pogrome schrieb 1946 in seinen Erinnerungen : „In the streets the proclamations of Stepan Bandera were posted – the leader oft he Ukrainiens was calling for murder and conflagration.“ (z. n. Rossolinski-Liebe 215) – s. a. Heer, Hannes: Einübung in den Holocaust: Lemberg Juni/Juli 1941. In: ZfG 5/2001.

[10] Rossolinski-Liebe 214 f

[11] s. z. B. Rossolinski-Liebe 202 und 208; s. dazu auch Text 211.

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Massenmorde_in_Lemberg_im_Sommer_1941

[13] Rossolinski-Liebe 211 ff und derselbe: Der Verlauf und die Täter des Lemberger Pogroms vom Sommer 1941. Zum aktuellen Stand der Forschung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, 22 (2013), S. 207–243 – Die Einsatzgruppe erschoss in der Stadt 100 und am Stadtrand weitere 3000 Juden.

[14] Im KZ Sachsenhausen. Dort bewohnte er eine größere möblierte Zelle mit getrenntem Schlaf- und Wohnbereich, Bildern an den Wänden und Teppich auf dem Boden.

[15] Nach https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_in_Wolhynien_und_Ostgalizien kam es bereits im Frühjahr 1942 zur Aufstellung von Kampfeinheiten, die sich „Ukrainische Aufstandsarmee“ (UPA) nannten und sich aus desertierten ukrainischen Hilfspolizisten, zwangsverpflichteten ukrainischen Jugendlichen, aber auch ehemaligen Angehörigen der Roten Armee rekrutierten. Ende 1942 unterstellte sich die UPA, die anfangs zu beiden Flügeln der OUN Beziehungen unterhalten hatte, dem radikaleren Bandera-Flügel der OUN, der seinerseits ebenfalls mit der Aufstellung von Kampfeinheiten begonnen hatte. Bis Mitte 1943 errang die OUN-B sukzessive die Kontrolle über alle anderen noch bestehenden bewaffneten ukrainischen Einheiten in der nordwestlichen Ukraine.

[16] Folgendes u. a. nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Roman_Schuchewytsch

Roman Schuchewytsch  (1907-1950). Offizier im „Bataillon Nachtigall“. Nach der Inhaftierung Banderas durch die Deutschen bekämpfte er 1942 prosowjetische Partisanen. Sein Bataillon tötete mehrere tausend von ihnen. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges kämpfte Schuchewytsch noch als Partisan gegen sowjetische Einheiten bis er 1950 in einem Gefecht getötet wurde.  Nach der Unabhängigkeit der Ukraine wurden Briefmarken und Gedenkmünzen mit seinem Bild ausgegeben. Lemberg und andere westukrainische Städte ernannten ihn posthum zum Ehrenbürger. Schon im Jahr 2000, unter Präsident Kutschma, drehte man über Schuchewytsch einen patriotischen historischen Spielfilm mit dem Titel „Der Unbeugsame“, angeregt und gefördert vom ukrainischen Ministerium für Kultur und Kunst. Zum 100. Geburtstag 2007 wurde ihm von Präsident Juschtschenko posthum der Titel „Held der Ukraine“ verliehen und eine Briefmarke mit seinem Bild ausgegeben. Der Helden-Titel wurde Schuchewytsch nach – auch juristischen – Kontroversen 2011 offiziell wieder aberkannt. Allerdings beschloss der Kiewer Stadtrat 2017 den Watutin-Prospekt in Schuchewytsch-Prospekt umzubennen. Der sowjetische Armeegeneral Watutin war 1944 durch einen Überfall der von Schuchewytsch befehligten UPA getötet worden.

[17] Rosselinski-Liebe: Verflochtene Geschichten. Stepan Bandera, der ukrainische Nationalismus und
der transnationale Faschismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 13.10.2017, siehe auch: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/257664/verflochtene-geschi.. Und: https://de.wikipedia.org/wiki/Roman_Schuchewytsch

 

[18] Folgendes zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_in_Wolhynien_und_Ostgalizien
17.02.2023 (
hier auch eine Reihe von Literaturangaben zum Thema Massaker in Wolhynien und Ostgalizien):

Bei den vom 9. Februar 1943 bis Kriegsende durchgeführten Massakern an der polnischen Zivilbevölkerung durch die UPA in den im deutschen Machtbereich liegenden Gebieten wurden je nach Quelle 50.000 bis 80.000 oder
annähernd 100.000 Polen von ukrainischen Nationalisten ermordet.
In einem Beschluss zum Massaker, den das polnische Parlament am 12. Juli 2013 verabschiedete, wurden die Gewalttaten als „ethnische Säuberung mit Merkmalen eines Völkermordes“ verurteilt.

2005 wurde eine Gedenkstätte für die dort am 28. Februar 1944 ermordeten 600 bis 900 Polen und Juden in dem ehemaligen Dorf Huta Pieniacka in der Oblast Lemberg errichtet. 2017 wurde sie durch Unbekannte gesprengt. Auf das Steinkreuz und die zwei Steinplatten der Gedenkstätte, die im Beisein der damaligen polnischen und ukrainischen Staatspräsidenten, Kaczyński und Janukowytsch, eingeweiht worden war, hatten die Täter die Flaggen der Ukraine, der UPA sowie SS-Runen gesprüht. Der polnische Filmregisseur Wojciech Smarzowski arbeitete von 2014 bis 2016 an den Dreharbeiten zu dem Spielfilm Sommer 1943 – Das Ende der Unschuld (Wołyń), der die Massaker in Wolhynien thematisiert und im Anschluss an seine Aufführung beim Polnischen Spielfilmfestival in Gdynia im September 2016 in die polnischen Kinos gekommen ist. In der Ukraine wurde die Aufführung des Films verboten. Das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, erklärte dagegen im April 2015 die Mitglieder der Ukrainischen Aufständischen Armee offiziell zu Unabhängigkeitskämpfern. Stepan Bandera wurde Anfang 2010 postum der Ehrentitel „Held der Ukraine“ verliehen. Gegen diese Entscheidung protestierten unter anderem die polnische Regierung, das Simon Wiesenthal Center und das Europäische Parlament. Diese Ernennung wurde durch den neuen Präsidenten Wiktor Janukowytsch wieder rückgängig gemacht.  

 

 

[19] „Sicherheitspolizei“ (Sipo) und „Sicherheitsdienst“ (SD) im NS-Staat.

[20] Bis zum Frühjahr 1944 wurden Deutschland und die Sowjetunion in Flugblättern und internen Instruktionen nur insoweit als gleichrangige Gegner dargestellt: Beide wollten eine selbständige „national bestimmte“ Ukraine nicht zulassen. Der seit etwa Ende 1943 von der OUN-UPA in der westlichen Ukraine geführte Partisanenkrieg richtete sich vor allem gegen sowjetische Partisanen und nur sekundär gegen deutsches Militär und deutsche Einrichtungen.  Dem Deutschen Reich gelang es noch 1943, rund 80.000 Ukrainer anzuwerben, von denen etwa 17.000 in die ab Mitte des Jahres aufgestellte 14. Waffen-Grenadier-Division der SS (galizische Nr. 1) übernommen wurden.

 

[21] Am 25. September 1944 wurde Bandera aus der Haft entlassen. Er sollte im Angesicht des drohenden sowjetischen (End-)Sieges ein ukrainisches Nationalkomitee gründen und an der deutschen Seite Aktionen des ukrainischen Widerstandes gegen die Rote Armee lenken. Doch die Rote Armee war schneller. Bandera lehnte die angebotene Zusammenarbeit im Dezember 1944 ab.  https://de.wikipedia.org/wiki/Stepan_Bandera

 

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