Die Selbstmordthese ist die unwahrscheinlichste | Migazin

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Polizei ignorierte und verschwieg wichtigen Augenzeugen. Jetzt redet er.

Migazin | März 2015

Florian H. verbrannte in seinem Auto noch bevor er zum Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn aussagen konnte. Offiziell ist der Fall abgehakt als Selbstmord. Wie ein “neuer” Augenzeuge jetzt berichtet, war aber ein zweiter Mann am Tatort. Der Zeuge meldete sich bei der Polizei und wurde ignoriert. Jetzt sagt er öffentlich aus – exklusiv im MiGAZIN.
 
Auto-Absperrung-Migazin

Zur Zeit tagt im Stuttgarter Landtag der Untersuchungsausschuss ›Rechtsterrorismus/NSU BW‹ zur Aufarbeitung der Kontakte und Aktivitäten des ›Nationalsozialistischen Untergrunds/NSU‹ in Baden-Württemberg und der Todesumstände der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn erschossen wurde. Sie gilt als zehntes und letztes Opfer des NSU – wenn man den Tod des Zeugen Florian Heilig als Selbstmord verbucht, um den es in diesem Beitrag geht. Den Ermittlern zufolge soll sich Florian Heilig aus Liebeskummer mit Benzin übergossen und dann selbst verbrannt haben. An dem Tag, an dem er Aussagen aus dem Jahr 2011 wiederholen bzw. präzisieren wollte.
Florian Heilig war bis 2011 in der Neonazi-Szene rund um Heilbronn aktiv. In dieser Zeit hatte er u.a. auch Beate Zschäpe getroffen. Mitte 2011 machte er Aussagen zu dem Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 und nannte dabei Namen und Verbindungen zu weiteren neonazistischen Gruppierungen. Diese stehen in völligem Widerspruch zu den Überzeugungen der Generalstaatsanschwaltschaft, sie passen überhaupt nicht in die Anklageschrift: Dort wird die Behauptung aufgestellt, dass der Mordanschlag auf die beiden Polizisten in Heilbronn zufällig und symbolisch war und dass es ›erwiesen‹ sei, dass die beiden NSU-Mitglieder Mundlos und Böhnhard die Tat alleine ausgeführt hätten.
Florian Heilig wurde mehrmals von seinen ehemaligen ›Kameraden‹ bedroht. Immer wieder artikulierte er laut, dass er um sein Leben fürchtete. Er kam ins Aussteigerprogramm des LKA Stuttgart (BIG Rex), beschützt hatte er sich dennoch nie gefühlt. Trotzdem war er bereit, an jenem Montag, den 16. September 2013 seine Aussagen aus dem Jahr 2011 zu wiederholen bzw. zu präzisieren.
An die Selbstmord-These glauben Polizei und Staatsanwaltschaft. Auch das Innenministerium in Baden-Württemberg besteht bis heute auf ein Suizid-Ereignis:

»In einem Schreiben an den Landtags-Untersuchungsausschuss bekräftigt das Innenministerium das offizielle Ermittlungsergebnis, wonach es sich um einen Suizid handelte. Die Faktenlage lasse keine andere Schlussfolgerung zu, als dass sich Florian H. durch Verbrennen selbst getötet habe. Weitere Maßnahmen im Todesermittlungsverfahren seien deshalb abgelehnt worden. Mehrere Zeugen hätten Florians Fahrzeug am späteren Brandort bemerkt. Dabei sei immer nur eine Person am Wagen gesehen worden.« (Pforzheimer Zeitung, online-Portal vom 9.3.2015)

Die Eltern und die Schwester widersprachen dieser Behauptung von Anfang an – zuletzt als Zeugen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA. Sie sind mit diesen Zweifeln nicht allein.
Nun kommen Beobachtungen eines Fahrlehrers hinzu, der sich als Zeuge der Polizei zur Verfügung gestellt hatte, aber nie gehört, nie befragt wurde. Im Gegenteil. Selbst die Tatsache, dass es ihn gibt, wurde in den Ermittlungsakten verschwiegen. Ein glücklicher Umstand ist es zu verdanken, dass sich dieser Zeuge beim Autor dieses Beitrages meldete und seine Beobachtungen vom 16. September 2013 auf dem Cannstatter Wasen wiedergab – kurz bevor das Auto brannte, in dem Florian Heilig auf qualvolle Weise umgekommen war.
Was der Zeuge am Todestag von Florian Heilig gesehen hat, schildert der Fahrlehrer gegenüber dem Autor wie folgt:
Jürgen M.* (Name wurde geändert) trifft sich am 16. Spetember 2013 um acht Uhr morgens auf dem Canstatter Wasen in Stuttgart mit einem Fahrschüler, um ihn auf eine Motorradprüfung vorzubereiten. Für Unterrichtstunden auf diesem Gelände hat die Fahrschule eine Sondergenehmigung. Da bereits mit Aufbauten für das bevorstehende Volksfest begonnen wurde, verlegt M. den Fahrunterricht in den hinteren, südlichen Bereich. Gegen 8:30 Uhr fällt ihm ein allein stehender Peugeot auf, der ungewöhnlich abgestellt war. Aus ca. 20 Metern Entfernung sieht er eine Person auf der Fahrerseite, im Auto sitzend. In unmittelbarer Nähe, auf der Höhe des Kofferraumes sieht er eine weitere Person, einen Mann, der eine Zigarette raucht. Er hat eine kräftige Statur. Sein Alter schätzt er grob auf 30 bis 50 Jahre. Zu Beginn seiner zweiten Fahrstunde kommt er wieder an derselben Stelle vorbei. Er erschrickt, denn nun sieht er dasselbe Auto – ausgebrannt. Die Feuerwehr hat den Brand bereits gelöscht. Als er sich dem Auto nähert, kann er darin grob die Person in derselben Position wiedererkennen. Der 21jährige Florian Heilig ist tot.
Der Fahrlehrer geht zur Absperrung und teilt zuerst einem Polizisten, dann einer Polizistin mit, dass er vor dem Brand den rauchenden Mann in unmittelbarer Nähe des geparkten Wagens gesehen hat. Die Beamtin notiert seinen Namen und seine Telefonnummer, er nimmt seine Arbeit wieder auf. Da wenig später von einem tragischen Selbstmord die Rede ist, scheint für ihn die Angelegenheit erledigt – bis in seinem Bekanntenkreis Medienberichte über die Ungereimtheiten des angeblichen Selbstmordes Aufmerksamkeit erregen.
Zwar muss es keinen Zusammenhang zwischen dem rauchenden Mann und dem wenig später brennenden Auto geben. Wenn aber die Polizei dem Grundsatz folgt, in alle Richtungen zu ermitteln, dann ist diese Beobachtung äußerst wichtig, um herauszubekommen, wer dieser Mann ist und ob es einen Zusammenhang zu dem geparkten Auto und dem Insassen gibt. Der Fahrlehrer wurde jedoch nie befragt. Die Ermittlungsakten suggerieren sogar das Gegenteil: In der Strafanzeige der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 10.2.2014 findet sich der wahrheitswidrige Satz:

»Ein Hinweis auf eine weitere Person liegt hingegen nicht vor.«

Es gibt noch weitere Hinweise dafür, dass die Selbstmordthese die unwahrscheinlichste ist. Denn ein weiterer unterschlagener Umstand spricht dafür,dass Florian Heilig auf dem Cannstatter Wasen vor seinem Tod nicht alleine war: Um ein Auto zu fahren und abzustellen, braucht man einen Autoschlüssel. Die Ermittler stellten jedoch keinen Autoschlüssel sicher. Weder befand er sich im Zündschloss, im Wageninneren, noch in der Nähe des Tatortes. Auch vom Schlüsselbund Heiligs fehlt jede Spur. Ermittler, die ›Fremdeinwirkung‹ ausschließen, müssten dafür ein plausible Erklärung haben. Stattdessen schweigen sie sich über diesen Umstand aus. Was die Polizei an Gegenständen von Florian Heilig sichergestellt hatte, findet sich in der Empfangsbescheinigung aufgelistet, ausgestellt auf den 24. September 2013,: »Geldbörse, 36,07 Euro, 5 Visitenkarten, Scool-Card, 3 Gesundheits-/Versicherungskarten, Führerschein, 9 Quittungen, Arztbericht, Schreiben LRA Heilbronn, BPA, je ein Paar Turnschuhe/Socken.«
Wenn Zeugen, die die Suizid-Annahme gefährden könnten, nicht gehört werden, wenn Umständen, die gegen ein Suizid-Ereignis sprechen, nicht nachgegangen wird, dann ist die Annahme berechtigt, dass das, was der Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses festgestellt hat auch für Baden-Württemberg gilt: »Freiwillige Erkenntisisolation«. Auch vom Verdacht gezielter Sabotage war in dem Bericht die Rede.
Man kann davon ausgehen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft nicht willkürlich Ermittlungen einseitig führen. Sie wußten sehr schnell, welche politische Brisanz der Tod eines Zeugen hat, der seine Aussagen zu dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007 wiederholen wollte. Einem möglichen Mordgeschehen nachzugehen, würde die Tür zu folgenden Fragen aufstoßen: Wer wußte von der bevorstehenden Vernehmung? Mit wem hatte Florian Heilig bis in die Morgenstunden hinein telefonischen Kontakt? Wie kamen Neonazis in den Besitz der ständig wechselnden Telefonnummer von Florian Heilig? Warum wurde nie (offiziell) eine Auswertung der Telefon- und Verbindungsdaten vorgenommen?

Staatsanwaltschaft legt noch am selben Tag das Ermittlungsergebnis fest: Suizd

Im laufenden PUA in Baden-Württemberg kommen zumindest einige Details der ›Aufklärungsarbeit‹ ans Licht. Dazu wurden die polizeilichen Ermittler befragt. Im Rahmem des Todesermittlungsverfahrens wollten die Polizeibeamte bei der Staatsanwaltschaft das beantragen und durchführen, was in solchen Fällen zum Standardprogramm gehört: Die Durchsuchung des Zimmers im Lehrlingswohnheim, die Sicherstellung der Kommunikationsdaten (Handy- und Ortungsdaten) und die Sicherstellung und Auswertung des Laptops, das sich im Kofferraum befand. Was eigentlich kaum der Rede sein sollte, stieß in diesem Fall auf ›unerklärlichen‹ Widerstand. Obwohl die Leiche von Florian Heilig noch nicht obduziert wurde, weder ein toxologisches noch ein Brandgutachten vorlagen, wies der Staatsanwaltschaft Dr. Stefan Biehl, Mitglied der ›politischen Abteilung‹ 1 der Staatsanwaltschaft Stuttgart, noch am selben Tag an, den Fall als Suizid zu behandeln. Das hatte zur Folge, dass die von der Polizei erwünschten weiteren strafrechtlichen Ermittlungen abgelehnt, also unterbunden wurden.
Wenn das Ermittlungsergebnis vom ersten Tag an festeht, wenn man alle Möglichkeiten unterläßt, die etwas eingrenzen bzw. ausschließen können, darf man davon ausgehen, dass all diese selbstverständlichen Ermittlungsschritte die Suizid-Behauptung nicht gefährden durften.
Wolf Wetzel
Autor des Buches »Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf?«, 2. Auflage, Unrast-Verlag, Münster 2013

Eine ausführliche Recherche findet sich hier:

Florian Heilig – Der Tod eines Zeugen. Mord oder ein Suizid aus Liebeskummer?

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