Sturm auf den Reichstag – Sturm im Wasserglas. Eine doppelte Widerrede.

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Sturm auf den Reichstag – Sturm im Wasserglas. Eine doppelte Widerrede.

Stellen Sie sich vor, die ganz Bösen, also die Autonomen (für die Älteren), die Antifa (für die Jüngeren) und die RAF 3.0 (für alle zusammen) hätten zum Sturm auf den Reichstag aufgerufen.

Dafür hätte es ganz viele Likes und blutrünstige Zustimmung im Internet gegeben und eine entsprechende Mobilisierung wäre ebenfalls zu erkennen gewesen. Und natürlich hätte es auch zahlreiche Warnungen aus allerlei „Sicherheitskreisen“ gegeben, die vor gewalttätigen Ausschreitungen gewarnt hätten, um alle „Unbeteiligten“ auf die ganze Härte des Rechtstaates vorzubereiten und die Einsatzpläne entsprechend zu schärfen.

Stellen Sie sich dieses Untergangs- und Schreckensszenario einmal vor, um dann das Folgende für absolut normal und realistisch zu halten:

Zuerst wird dieser teuflischen Allianz ohne Probleme eine Kundgebung zu Füssen des Reichstages genehmigt. Sie ist ausdrücklich von den Verbotsanträgen ausgenommen, die andere Demonstrationen mit ähnlichem Anliegen untersagen sollen. An besagtem Kundgebungsort wird rechtzeitig fast alles abgezogen, was man an diesem Tag an Polizeikräften zusammengezogen hat. Ohne alles zu verraten: An diesem Tag sind mindestens 3.000 Polizisten im Einsatz, also das, was man offiziell „kommuniziert“. 2.997 Polizeibeamte sind im entscheidenden Augenblick woanders, unter anderem, wie schrecklich und passend, vor der russischen Botschaft. Alleine die Erwähnung der „russischen Botschaft“, also etwas Russisches, sollte ausreichen, um zu erklären, dass man einfach nichts mehr zum Schutz des Reichtages übrighat, das Parlamentsgebäude einfach blank bleiben musste.

In Folge passiert exakt das, wovor die einen gewarnt, worauf die anderen sehnlichst hin gefiebert haben: Ein paar Hundert überwinden spielerisch die Absperrgitter, die man einfach nur hingestellt hat, um zu zeigen, dass man zu allem bereit ist und dass man gerade von den ganz Gewaltbereiten erwarten darf, dass sie sich an das halten, wofür ein Absperrgitter dem Namen nach sorgen soll. Völlig unerwartet und ohne sich zu verausgaben rennen diese paar Hundert in Richtung Reichstag und steigen die Treppen zum Olymp hinauf. Dort werden sie genau von drei Polizisten erwartet, die von den 3.000 zurückgelassen wurden. Die drei Polizisten haben keine Chance und nutzen sie. Sie erklären den Treppenstürmern, dass das jetzt und so nicht geht. Die Drei geben alles, sind für ein paar gute Augenblicke Opfer und wenig später (und nicht viel später für immer) Helden, die die Demokratie in einem entscheidenden Moment gerettet, also verteidigt haben. Nachdem alles im Kasten ist, die drei unerschrockenen Polizisten, ein paar Reichsfahnen, die nicht sofort und schon gar nicht zwingend, sondern erst später für das Gegenteil stehen sollen.

Nachdem alle (Seiten) hatten, was sie wollten, kam ganz schnell das, was man vorher partout nicht auf Lager hatte: Polizeibeamte in genügender Zahl, um den Reichstag zurückzuerobern, als die Treppe.

Dass all dies so nicht passiert wäre, wenn „Linke“ einen solchen Sturm angekündigt hätten, ist hoffentlich nicht schwer nachzuvollziehen.

 

Dass die ganze Situation am 29. August 2020 in Berlin, vor dem Reichstag, an Lächerlichkeit nicht zu überbieten ist, ist schon der Rede wert. Eine Lächerlichkeit, die sich beide Seiten gerecht teilen können, jene, die den Reichstag „gestürmt“ hatten und jene, die ihn als Inbegriff der Demokratie verteidigen wollen.

Das offizielle Berlin, also alle Parteien, verurteilten die unglaublichen Ereignissen vor dem Reichstag. Sie wären eine Schande für die Demokratie, man habe sich im Ausland blamiert … ein ganz schlechtes Bild abgegeben … warum nicht hier, fragt man sich ganz nebenbei.

Wie könne man es zulassen, dass „Rechtsextreme“, Neonazis und Reichsbürger eine solch feine Bühne bekommen haben. Man ist – so dermaßen geübt – wieder schockiert und man ruft sofort nach allerlei Konsequenzen, die nichts, aber auch ganz nichts mit dem Ereignis zu tun haben.

Denn das Eigentliche verschweigen doch alle „aufrechten Demokaten“, wozu auch die parlamentarische Opposition gehört: Es handelt sich bei diesem Ereignis um keine Panne, um keinen Blitz, der Polizei, Politik und Geheimdienste aus heiterem Himmel getroffen haben soll. Es ist ein Ereignis, das man wollte, das man zuließ, an dem diejenigen den größten Anteil hatten, die so etwas zu verhindern vorgeben.

Nichts wäre an diesem Tag einfacher gewesen, als diesen „Sturm“, diese „hässlichen Bilder“ zu verhindern.

Was sich vor und auf den Treppen des Reichtages ereignet hat, wiederholt nur ein Drehbuch, das man seit Jahren gewohnt ist, das man längst hingenommen hat.

Anstatt die Polizeiführung damit zu konfrontieren, was sie bewogen hat, so vorsätzlich ohnmächtig zu agieren, anstatt die Polizeiführung in Schutz zu nehmen, indem man allen Ernstes von einer falschen Einsatzlageeinschätzung faselt, steigern einige Politiker diese Farce, indem sie todernst davon reden, dass jetzt der Verfassungsschutz noch mehr gefordert sei, dass man noch mehr Verfassungsschutz brauche, um das richtig einzuschätzen, was der Verfassungsschutz seit Jahrzehnten leugnet, kleinredet, fördert und beschützt: Neonazistische und rassistische Strukturen, die einen neonazistischen Untergrund herausgebildet haben, von dem der Verfassungsschutz elf Jahre absolut nichts gewusst haben will und der nach der Selbstbekanntmachung des NSU 2011 alles unternimmt, um eine Aufklärung zu sabotieren.

Ist das also die Demokratie, die alle Parteien vor dem schützen wollen, was die Treppen des Reichstages erklommen hatte?

Wollen die regierenden Parteien in Berlin (also Rot-Rot-Grün) allen Ernstes behaupten, der Verfassungsschutz in Berlin habe nicht gewusst, wer sich an dem genehmigten Kundgebungsort vor dem Reichstag versammeln wollte und der zu blöd dafür ist, Eins und Eins zusammenzuzählen? Genau jener Verfassungsschutz soll nun dafür sorgen, dass so etwas in Zukunft nicht mehr passiert?

Nach dieser Devise hat man schon im NSU-VS-Komplex gehandelt. Erst gesteht man kleine und ein bisschen größere Pannen ein, um dann all das mit noch mehr Geld, Personal und Kompetenzen auszustatten!

Kann man noch viel mehr tun, um Zweifel an diesen Demokratiebeschützer*innen zu haben?

Mit der Reichsflagge gegen die Diktatur?

 

Nun zur anderen Seite, auf die Seite derer, die mit der Reichsflagge sichtbar demonstrieren, dass sie mit autoritären, imperialistischen und faschismusbereiten Systemen gar kein Problem haben.

 

Und zu denen, die keine Reichsfahne schwenken, aber sich darin einig sind, dass sie gegen eine Hygiene-Merkel-Gesundheits-Diktatur kämpfen. Kann es sein, dass die „Querdenker*innen“ sich selbst der größte Feind, der größtmöglichste innere Widersinn sind?

Flankierend dazu kursieren Begriffe wie „Ausnahmezustand“, das „Ende der Demokratie“ (NachDenkSeiten) bis hin zum „Staatsstreich“ (Rubikon). Sie alle wollen einen Bruch mit der bestehenden bürgerlichen, parlamentarischen Ordnung, einen Systemwechsel markieren.

Der Vorwurf des „Staatsstreiches“, die Behauptung einer „Merkel-Diktatur“ suggerieren einen Putsch, die „kriminelle“ Beseitigung einer Opposition, einer Macht, die man mit den bestehenden Mitteln nicht ausschalten kann. Aber davon kann doch nicht die Rede sein! Weder die Querdenker*innen noch die Linke sind eine Opposition, die man kaltstellen müsste. Die Verschiebung bisherigen „Gewaltenteilungen“ an den Rand eines „souveränen Ausnahmezustandes“ (Carl Schmitt: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet) hat die Zustimmung von Regierung und Opposition. Das Besondere und Bedrückende an der gegenwärtigen Situation ist doch, dass die „Corona-Maßnahmen“ eine große Zustimmung in der Bevölkerung finden. Man muss nichts gegen eine Mehrheit durchsetzen, auch nicht gegen die Querdenker*Innen, die gerne das „Volk“ vertreten wollen, wobei dies eine so große mystische Größe ist wie die behauptete eine Million, die an der letzten Querdenker*innen-Demo in Berlin teilgenommen haben sollen.

Das wirklich gefährliche ist hingegen, dass man die AfD damit geradezu ermutigt und eingeladen hat, auf dem Weg weiterzumarschieren, ihre postfaschistischen Ideen umzusetzen. Denn wenn die AfD morgen gefragt wird, ob sie die bestehende Ordnung, die Verfassung respektiere, dann muss sie sich gar nicht mehr verstellen und kann breit grinsend antworten: Aber ja, wir respektieren die Verfassung, so wie ihr auch.

Für einen Staatstreich, für eine Diktatur spricht in aller Regel eine gesellschaftliche Unruhe, die sich parlamentarisch nicht mehr einhegen lässt, die man auch mit repressiven Mitteln nicht mehr auflösen kann. Auch davon kann doch wirklich nicht die Rede sein. Die außerparlamentarische Linke ist nicht nur schwach. Sie ist im einem Maße orientierungslos, dass es einem schwindlig wird. In der Tat und das ist wirklich niederschmetternd, sind alle alles, nur nicht system-oppositionell: Die parlamentarische LINKE wetteifert um die Corona-Krone, hält alles ein, was not-verordnet wird und ist in großen Teilen ganz damit beschäftigt, sich als Regierungspartei anzubieten. Und die außerparlamentarische Linke? Viele Antifa-Gruppen haben vor allem die „Corona-Leugner“ und „Covidioten“ im Visier. Fast marginal sind jene linke Gruppen und Initiativen, die die „Corona-Krise“ als soziale, antagonistische Frage begreifen und sehr wohl darum wissen, dass jeder noch so begründete Ausnahmestand (Deutscher Herbst 1976/77, 9/11 im Jahr 2001) nicht mehr, sondern weniger Freiheitsrechte und noch größere Ungerechtigkeiten zurücklässt.

In diesem Zusammenhang ist die Frage an die Querdenker*innen zu stellen, ob die Reichsflagge mehr ist als ein Zeichen wirrer Vielfalt (neben Israel-Palästina-USA-Flaggen), sondern auch ein Wegweiser, was nach der „Merkel-Diktatur“ kommen soll.

Und selbstverständlich ist es höchste Zeit, die Querdenker*innen zu fragen, was sie mit der „Freiheit“ meinen, die sie zurückhaben wollen, die sie ständig anrufen. Um welche Freiheit handelt es sich? Um die Freiheit, die der Kapitalismus in seinen besseren Tagen verspricht? Nach dem Motto: Wer hier fleißig mitmacht, der hat es verdient, die Freiheit zu genießen, wenn man dafür auch bezahlen kann.

Masken runter

Es wäre mehr als notwendig, es wäre zum Aufatmen, wenn die Linke ihre Maske abnehmen würde und genau zu diesen Fragen Stellung nimmt. Wenn es weder um eine „Merkel-Diktatur“ geht, noch um die Verteidigung der Demokratie, um was geht es dann?

Wenn eine Krise nur das verstärkt, was bereits vor der Krise als Antagonismus angelegt ist, dann geht es nicht um Corona, sondern um eine Verschärfung, eine Zuspitzung gesellschaftlicher Zustände, die eine Linke thematisieren und in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen müsste.

Solange die Linke nur auf den (richtigen) Abstand achtet, und nicht alles dafür tut, das Gemeinsame stark und bezaubernd zu machen, wird sie als Linienrichter bald in einem leeren Stadion auf die Einhaltung der Regeln achten.

Anstatt viel Kraft und viel zu viel Zeit darauf zu verwenden, sich zu ereifern, was alles bei den gegenwärtigen Querdenker*innen-Protesten fehlt oder falsch ist, ginge es doch darum, einen Protest zu organisieren und eine Plattform zu schaffen, die eine rechte Vereinnahmung ausschließt.

Im Kampf gegen die Diktatur – mit unheimlicher Gesetzestreue

Nehmen wir einmal an, die meisten der Querdenker*innen lassen die hier vorgebrachten Einwände kalt und der Autor unterschätzt die diktatorische Lage total.

Wenn man also davon ausgeht, dass die Querdenker*innen gegen eine Diktatur kämpfen, dann mutet es doch geradezu grotesk an, wenn sie sich nun laut und unterwürfig vom Übertreten der Bannmeile distanzieren. Alle Sprecher betonen, dass sie mit dem Sturm auf den Reichstag nichts zu tun haben, dass sie friedlich sind und bleiben.

Man möchte quer über alle Auslinien zurufen und fragen: Kennt ihr eine Diktatur, die man mit dem bezwingt und überwindet, was eine Diktatur an Widerspruch zulässt?

Man kann sich dieser kabarettistischen Nummer nicht entziehen: Da wollen die Querdenker*innen gegen eine Diktatur aufstehen und bekunden dabei unentwegt, dass sie alle Gesetze einhalten, auf die eine Diktatur grundlegend pfeift.

Vielleicht macht dieser Widerspruch aber auch nur deutlich, wie substanzlos, wie folgenlos dieser Kampf angelegt ist, der gegen eine Diktatur aufstehen will und dabei gesetzestreuer ist als jene, die mit den Corona-Maßnahmen Grundrechte außer Kraft setzen … und dabei kein Neuland betreten, sondern im Zuge zahlreicher erschaffener Ausnahmezustände bereits viel dafür getan haben, dass die Grund-und Schutzrechte schon lange nicht mehr der Normalzustand sind, sondern eher wie ein blinder Passagier behandelt werden. Manchmal füttert man ihn durch, sehr oft wirft man ihn einfach über Bord.

Wolf Wetzel

 

Publiziert auf Telepolis am 2.9.2020: https://www.heise.de/tp/features/Sturm-auf-den-Reichstag-Sturm-im-Wasserglas-4884232.html

Weitere Beiträge zur „Corona-Krise“  finden sich hier: Corona-Briefe 1-11

 

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