»Die schützende Hand«, mehr als ein Kriminalroman über den »Nationalsozialistischen Untergrund«

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»Die schützende Hand«, mehr als ein Kriminalroman über den »Nationalsozialistischen Untergrund« | Eine Buchbesprechung von Arnold Schölzel

Ein Staatsverbrechen

Wolfgang Schorlaus Buch »Die schützende Hand« ist mehr als ein Kriminalroman über den »Nationalsozialistischen Untergrund«. Er liefert Beweise
Wer mag, kann Wolfgang Schorlaus Buch »Die schützende Hand. Denglers achter Fall« als Krimi lesen. Allerdings handelt es sich bei dem Band um die zusammenfassende Dokumentation eines Staatsverbrechens, ergänzt um fiktionale Elemente. Am 4. November 2011 waren in einem in Eisenach-Stregda abgestellten Wohnwagen die Leichen von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos aufgefunden worden, und es war vom »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) die Rede. Die Sprachregelung von Politik und Bürgermedien lautete zunächst – und bei vielen ist das bis heute so –, bei der damals offengelegten Symbiose von staatlichen Stellen und neofaschistischem Terrornetzwerk handele es sich auf seiten der Behörden um »Pannen«, »Fehler« und »Versagen«. jW fragt seither: Wieviel Staat steckt im NSU? (siehe die gesammelten Artikel dazu im Internetdossier unter www.jungewelt.de/bibliothek/dossier/174) und stellte die Berichterstattung unter dieses Thema. jW-Redakteurin Claudia Wangerin, ihr jW-Kollege Sebastian Carlens und der Autor Wolf Wetzel haben in eigener Recherche zur Beantwortung zahlreiche wichtige Beiträge geleistet.

Ein Ausgangspunkt für diese Frage war: Die »Pannen«-Bescheidwisser konnten nie erklären, warum sich zwei fanatisierte neonazistische Killer, die sich fast 20 Jahre lang schützender Hände in Landesverfassungsschutzämtern mehrerer Bundesländer sowie offenkundig auch im Bundesamt für Verfassungsschutz erfreuten, das Wohnmobil in Brand setzten und sich umbrachten. – Nur, weil zwei Streifenpolizisten vor dem Fahrzeug auftauchten? Sie schafften das laut Zeugenaussagen auch noch in weniger als 20 Sekunden. Schorlau legt nun Beweise dafür vor, dass Mundlos bereits tot war, als er laut Ermittlungsakten erst Böhnhardt und dann sich selbst erschoss. Der Autor dokumentiert zahlreiche Auszüge aus Ermittlungsakten, Obduktionsberichten und den Zehntausenden Protokollseiten verschiedener parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Seine Faktenzusammenstellung macht den Großteil seines Buches aus. Daneben entwickelt er in den fiktionalen Teilen, etwa in den Überlegungen seines Ermittlers Georg Dengler, plausible, aber hypothetische Indizienketten zu nicht eindeutig geklärten Sachverhalten sowie frei Erfundenes zu den politischen Hintergründen. Letzteres – vor allem die von ihm dargestellte Einmischung der USA in die Politik der Bundesrepublik, aber auch der Aufbau neofaschistischer Organisationen an der Leine US-gesteuerter deutscher Geheimdienste – gehört zu den schwächeren Teilen des Buches. Aber ein Krimiautor hat die Lizenz für Hypothesengirlanden.
Entscheidend für den sich abzeichnenden Verkaufserfolg des Bandes – er schoss sofort an die Spitze einer Spiegel-Bestsellerliste – dürfte dagegen der Apparat des Buches sein. Er enthält ausführliche Quellenangaben in Fußnoten sowie Beweisfotos aus Ermittungsakten. Sein Umfang ist wesentlich größer als etwa bei Schorlaus Büchern zum Mord an Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder 1991 (»Die blaue Liste«, 2003) oder zum Oktoberfestattentat 1980 (»Das München-Komplott«, 2009). Hier wurde ein neues Genre des Doku-Thrillers geschaffen.
Der Sache selbst ist solch breite Darstellung angemessen. Denn es handelt sich nicht nur – wie der Verlag wirbt – um den »größten Kriminalfall der Nachkriegsgeschichte«, sondern um das Auftauchen des »tiefen Staats« in der Bundesrepublik in einem bisher unbekannten Maß. Weil das so ist, mussten in den Ämtern für sogenannten Verfassungsschutz ab November 2011 die Schredder heißlaufen. Deswegen mussten Geheimdienstler und Polizeibeamte vor Untersuchungsausschüssen ebenso wie ihre Klientel aus dem neofaschistischen Milieu das Gedächtnis verlieren. Aus diesem Grund musste Klaus-Dieter Fritsche, von 1996 bis 2005 Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt, Staatssekretär im Bundesinnenministerium und erneut seit 2014 Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes, 2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages (Vorsitzender war der unter mysteriösen Umständen später weggekickte Sebastian Edathy, SPD) den Spieß umdrehen. Er beschimpfte die Abgeordneten, sie gefährdeten mit ihren Nachforschungen das »Staatswohl«. Gemeint war sein eigenes und das jener Teile der Exekutive, die derzeit in Sachen Zuwanderung erneut wie schon Anfang der 90er Jahre den Aufstand gegen führende Politiker proben. Sie sind dafür verantwortlich, dass Volksverhetzung auf rechten Kundgebungen, tätliche Angriffe auf Flüchtlinge (2015 bis Ende November etwa 750) und Verbrechen wie Brandstiftung in Unterkünften von Zuwanderern nicht verfolgt werden. Fritsche und Co. gehören zu jener Kaste von Beamten, denen es egal ist, wer unter ihnen Minister oder Kanzler ist. Sie repräsentieren den Staatsapparat des deutschen Imperialismus, der vom Kaiserreich über Weimarer Republik und Faschismus bis heute in Gesinnung und Selbstverständnis kontinuierlich besteht – mit Ausnahme von Besatzungszeit und DDR. (Womit das »Verbrechen« dieses anderen Staates bezeichnet ist.)
Fritsche taucht im Buch unter anderem Namen auf, er steht fürs System. Eine weitere Romanfigur, ein Journalist, meint angesichts der Straftaten gegen Flüchtlinge im Sommer 2015, »dass sich in Deutschland eine rechtsterroristische Massenbewegung etabliere», die er »NSU 2.0« nennt. Wie bei dem wisse man nicht, »welche dubiose Rolle die Inlandsgeheimdienste spielten«. Er wird deswegen von Kollegen als »unser neuster Verschwörungstheoretiker« bezeichnet.
Schorlaus Buch ergeht es ähnlich. Die Rezensenten der »Schützenden Hand« trauen sich nicht, das Fazit des Buches zu formulieren: Behörden und Beamte der Bundesrepublik Deutschland sind Urheber und Vertuscher von Kapitalverbrechen. Da ist die Rede von »irritierend« (Hessischer Rundfunk), »dubiose Rolle der Ämter für Verfassungsschutz« (Freitag), »Blick in den Abgrund« (Süddeutsche Zeitung). Das ist gegenüber dem »Pannen«-Gefasel ein enormer Schritt, aber das BRD-Biedermeier wird nicht verlassen, etwa um für Aufklärung zu sorgen. Schorlau liefert sie. Als vorläufige Schlussfolgerung ergibt sich: Der Prozess gegen Beate Zschäpe und Co. ist bislang ein Ablenkungsmanöver von der entscheidenden Frage. Es ist nicht damit zu rechnen, dass die für den morgigen Dienstag oder danach zu erwartende Verlesung der 70seitigen Aussage von Beate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht München an dieser Sachlage viel ändert.«
jW vom 7.12.2015

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