Aufstand in den Städten – Krise, Proteste, Strategien

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Aufstand in den Städten

Krise, Proteste, Strategien

Herausgeber: Wolf Wetzel

ISBN: 978-3-89771-522-6
Ausstattung: br., ca. 280 Seiten
Unrast Verlag, Münster
Preis: ca. 16 Euro
Erscheint im Juni 2012

Vielleicht waren sie die Vorboten der Bewegungen in vielen Ländern Europas, die im letzten Jahr entstanden sind: Die Unruhen in den Banlieues in Frankreich, die wochenlangen Auseinandersetzungen in Griechenland 2009, als Antwort auf die Ermordung des 15-jährigen Alexis-Andreas Grigoropoulos in Athen, die Aufstände 2011 in einigen Städten Englands, nachdem sich die Ermordung des 29-jährigen Mark Duggan herumgesprochen hatte.
Möglicherweise haben sich diese Unruhen vom Rand der Gesellschaft ins Zentrum ausgeweitet, nachdem die Krise des Kapitalismus spürbar auch jene erreicht hatte, die bis dahin noch auskömmlich leben konnten und sich mit dem arrangieren wollten, was sich seit zwei Jahrzehnten als alternativlos präsentierte: There is no Alternative (TINA) – vom Thatcherismus in England, über die Bunga-Bunga-Politik in Italien bis hin zur Schröderisierung in Deutschland.
Die Geduld vieler scheint vorbei zu sein. Was bis dahin nur der ›Verlorenen Generation‹, den aufgegebenen Stadtvierteln zugeschrieben wurde oder den Wirkungskreis linker Organisationen und Parteien nicht überschreiten konnte, brach sich spätestens 2011 Bahn.
In Griechenland wehren sich Hunderttausende gegen die Abwrackprämie auf ihr Leben. Die gegenwärtige Regierung lebt schon lange nicht mehr von der Zustimmung der Bevölkerung, sondern vom Wohlwollen der EU-Troika, die de facto Griechenland wie ein Protektorat behandelt und führt. Generalstreiks, Besetzungen und heftige Auseinandersetzungen auf der Straße bestimmen seit Monaten das Bild Griechenlands. In Spanien wurden öffentliche, zentrale Plätze besetzt und Zehntausende beteiligten sich an dieser Form der Selbstermächtigung. Die indignados, die Namenlosen, betraten die Bühne und übten weit über die Landesgrenzen hinaus Faszination aus. Auch im Herzen des Hegemons, in den USA, organisierte sich der Protest gegen den Kapitalismus: Occupy-Wallstreet beherrschte für Monate die Schlagzeilen, ermutigte zu vielen Adaptionen in zahlreichen Städten der USA und schaffte es sogar über den Atlantik, nach Deutschland. Für den 15. Oktober 201 riefen Unbekannte zu einer Demonstration in der Finanzmetropole Deutschlands auf und über 8.000 Menschen folgten diesem Aufruf. Die Demonstration endete mit dem Aufbau eines Zeltlagers direkt am Fuße der Europäischen Zentralbank/EZB. Occupy Frankfurt setzte sich fest.
All diesen Protesten und Unruhen schreibt man zwei gemeinsame Charakteristika zu: Sie beruhen auf der Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Kapitalismus und sie sind Ausdruck einer breiten Ablehnung gegenüber den politischen Repräsentanten, seien sie in der Regierung oder in der Opposition.
Was die Protestierenden eint, was sie zusammenbringt, was sie aus der Vereinzelung und individueller Ohnmacht treibt, scheint augenscheinlich zu sein. Und so vielschichtig die Gründe der Proteste sind, so verschieden und bunt sind die Ideen, wie es anders gehen müsste, wie es auch anders ginge.
Sind all diese Proteste die späte Frucht vieler kleiner, marginaler Proteste, die späte Antwort auf Susan George, der man die Namengebung der Gegenspielerin zu TINA zuschreibt: TATA, also: There are thousands of alternatives?
Der erste Schwung, die erste Begeisterung, der Sommer des Ausnahmezustandes ist vorbei. Viele besetzte öffentliche Plätze wurden geräumt, in Spanien wie in den USA. Haben die Bewegungen nur einen Winterschlaf gehalten?
Viele hat der Alltag wieder eingeholt, aber auch die Schwierigkeit einer jeder Bewegung, jeder Opposition: Wie will und kann man dafür sorgen, dass das, was man nicht länger will, auch nicht länger geschieht? Im Recht zu sein, hat noch keiner Bewegung zum Erfolg verholfen! Der Kapitalismus basiert nicht auf Überzeugungen, die man nur neu codieren muss, sondern auf dem Prinzip, sich so viel Leben wie möglich einzuverleiben, uns so wenig Leben wie nötig zu lassen. Wie kann man also dem Kapitalismus etwas abtrotzen, was er uns geraubt hat? Wie kann man dem Geltung verschaffen, was im Kapitalismus keinen Wert hat: Glück, Verbundenheit, Solidarität, Empathie?
Die Bewegungen, die darin agierenden Menschen, sind sich darin so uneins, so unentschieden, so suchend wie in allen anderen Bewegungen zuvor auch.
Will man einen gerechten, gebändigten Kapitalismus, der auch für das Letzte Drittel etwas übrig hat? Gibt es diesen menschlichen, besseren Kapitalismus überhaupt?
Und wenn man einen besseren, für alle sorgenden Kapitalismus für eine Illusion, für schlichtes Wahlkampftheater hält: Wie soll das aussehen und funktionieren, ohne bzw. jenseits des Kapitalismus? Muss es jetzt um die kleinen Schritte gehen oder um eine Utopie, die so konkret, so packend ist, dass sie erst die kleinen Schritte möglich macht?
Wie viel muss man im Bestehenden verändern, im Bestehenden erkämpfen, damit man am Rand des Bestehenden stehend darüber hinaus denken und handeln kann?

Eine Bewegung entsteht in der Negation des Bestehenden, vereint sich in der Ablehnung, in der Enttäuschung, in der Desillusionierung. Sie wird aber nur überleben, wenn sie Illusionen entwickelt, Utopien, Vorstellungen von dem entwirft, was über das Bestehenden hinausweist.
Die Kraft und Dynamik einer Bewegung entsteht, wenn sie den ›Himmel erstürmt‹, sich nicht länger mit der Macht des Faktischen abfindet, sich nicht länger mit dem zufrieden gibt, was ›machbar‹, ›realistisch‹ ist. Der Bewegung entsteht, wenn sie mit ganzer Überzeugung zu dem Schluss kommt: Was ihr Herrschenden für ›machbar‹, für ›realistisch‹ oder gar ›alternativlos‹ haltet, zerstört die Welt, unser Leben. Wir werden also realistisch sein und das Unmögliche wagen!
In der ersten Phase des Ausnahmezustands haben sich die Bewegungen neue Formen der Selbstbestimmung geschaffen. In Spanien nennen sie dies ›Democracia real‹, wirkliche Demokratie. Der Kritik an der Delegation von Macht, an der aktiven Selbstentmündigung folgen Versuche, erste Ansätze direkter Demokratie. Die Versammlung (›asamblea‹), an der alle teilnehmen können, ist die einzige Instanz, die Entscheidungen treffen kann. Es werden Kommissionen für alle Fragen eingerichtet, die in der Bewegung aufgegriffen werden. Es gibt keine Zentrale, kein oberstes Organ der Bewegungen. Die Horizontalität der Beteiligung ist wichtiger als die Vorzüge einer zentralen Organisation.
Diese Rückgewinnung demokratischer Selbstbestimmung ist nicht neu. Sie hat eine lange Geschichte: Gegen das Prinzip vertikaler, hierarchischer, zentralistischer Strukturen hat sich immer wieder die Idee der Räte gesetzt, in der russischen Revolution 1918, in der spanischen Republik zwischen 1936-39, in der kurzen Phase der ›poder popular‹ in Portugal in den 70er Jahren.

Wie schafft man es also, die geschichtlichen Erfahrungen mit den Ideen der ›Democracia real‹ zu verbinden?

Wie schafft man es, aus temporären Strukturen dauerhafte zu machen, die nicht nur den parlamentarischen Zirkus entzaubern, sondern auch anfangen, sich anstelle der Parteien und parlamentarischen Ritualen zu setzen?
Die Bewegungen, die vor ihrem ›zweiten Frühling‹ stehen, sind jung. Die Fragen, mit denen sie konfrontiert sind, auf die sie Antworten finden müssen, sind alt. Dorthin möchte das Buch im Weiteren führen. Seit Jahrzehnten wird darüber gestritten, philosophiert und analysiert, was man aus all den zurückliegenden Erfahrungen machen kann. Lässt sich dem Scheitern etwas Positives abringen? Gibt es Analysen, die das Scheitern nicht nur damit erklären, dass der Feind zu mächtig war, die Idee, die Prinzipien also richtig?
John Holloway, ein in Mexiko lehrender Marxist, steht für diesen Versuch, die eigenen Annahmen, die eigenen theoretischen Kategorien auf ihre Tauglichkeit zu hinterfragen, also nicht nur den Feind für alles verantwortlich zu machen, was erfolglos geblieben ist, sondern auch die eigenen theoretischen Annahmen. Man könnte ihn als dissidenten Marxisten bezeichnen, der keiner Partei angehört, einen, der sich auch in politischen Zusammenhängen bekannt gemacht, die es mit Marxismus nicht so haben.
Für John Holloways Buch ›Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen‹ sprachen zwei Gründe: Zum einen belegt es, dass Theoriearbeit kein Wächterturm, kein Hochsitz sein muss, zu dem nur wenige Zutritt haben. Zum anderen ist John Holloway so etwas wie ein Grenzgänger, der marxistische Theorie mit anarchistischen, rätedemokratischen Ideen zusammenbringt.
Gelänge es, seine Überlegungen und Schlussfolgerung als Anregung zu verstehen, könnte so etwas wie eine Versöhnung zwischen militanter Praxis und praktischer Theorie, zwischen blankem Subjektivismus und subjektlosem Objektivismus, zwischen radikaler Tagespolitik und radikaler Utopie, zwischen Erkenntnistheorie und Alltagserfahrungen gelingen –was einen großen Schritt nach vorne bedeuten würde. Dass es dabei verschiedene Stolpersteine geben wird und muss, dass sich verschiedenen Theorien und politische Biografien dabei erklären müssen, ist keine Zumutung, sondern eine Chance.

Dort, wo John Holloway mit sehr dünnem Pinsel eine revolutionäre, eine militante Praxis zeichnet, möchte dieses Buch nicht enden.
»Um mit dem Kapital zu brechen, reicht es nicht zu fliehen … Unser Kampf ist folglich kein Kampf, damit wir in den Besitz der Produktionsmittel gelangen, sondern es dreht sich um die Auflösung von Eigentum und Produktionsmitteln … Das Knüpfen von Freundschaften, von Liebe, von Solidarität, von Gemeinschaft … ist die materielle Bewegung des Kommunismus … Rein negative Handlungen können befreiend wirken, aber sie tragen nichts zur Überwindung der Trennung bei, auf der die kapitalistische Herrschaft basiert

Was heißt das alles? Wie sollen wir dort hinkommen?
Verlassen wir dazu Mexiko, den dissidenten Marxismus, wechseln die Erkenntnismethode und das Land und setzen unsere Erkundungsreise in Frankreich fort. Wenn wir uns einig sind, dass weder eine Person noch ein Kollektiv den großen Wurf machen kann/soll, dann werden wir verschiedene Ansätze und unterschiedliche Ideen miteinander kombinieren müssen, um blinde Flecken aufzuhellen, Leerstellen zu füllen und Annahmen, die uns nicht gefallen, durch andere zu ersetzen.
erschien in Frankreich das Buch: ›L’insurrection qui vient‹, ›Der kommende Aufstand‹, verfasst von einem ›Unsichtbaren Komitee‹. Spätestens seit 2010 hat dieses Manifest die Feuilletons deutscher Zeitungen erreicht und die Beachtung der (radikale) Linken gefunden. Auch wenn in vielen auflagestarken Kommentaren dessen revolutionäre Prosa im Vordergrund stand, ist damit weder das Manifest, noch die Intension der RedakteurInnen beschrieben. Darin werden keine Kategorien neu bestimmt, sondern eine sehr dichte Theorie des Alltags, der Alltagserfahrungen entwickelt. Sie ist radikal und unausgewogen. Sie lässt keine Hintertüren offen3oder: sie lässt keine Ausrede gelten, bietet keinen Ausweg o.ä., verschließt alle ›Freiräume‹ und ist gemein: Selbst die radikale Linke kommt darin nicht gut weg.
Wenn man diese Kränkung aushält, kommt man zu spannende Fragen:

Haben sie mit ihrer Gesellschaftsanalyse recht? Ist  Empört euch!‹, ein kleines Pamphlet von Stéphane Hessel (ehemaliges Résistance-Mitglied), das viel und wohlwollende Anerkennung gefunden hat, Teil des demokratischen Spiels, wie die Mülltrennung Teil der globalen Zerstörung?

Sollen wir alle Energie (ein-)sparen oder unsere ganze Energie darauf verwenden, ihren green capitalism (in den Metropolen) und ihren dirty capitalism (im Rest der Welt) zu sabotieren?
Sabotieren, nicht im prosaischen, metaphorischen Sinne, sondern ganz real, ganz materiell…
Und wie geht das mit der Idee eines kommunitären Lebens, der Commune (nicht als Landkommune, sondern als Gesellschaftsprinzip verstanden) zusammen, die das Manifest als Gegenentwurf miteinschließt?

Mehr soll hier nicht verraten werden…

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