Der Mord an Walter Lübcke am Ende der Nicht-Aufklärung

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Der Mord an Walter Lübcke am Ende der Nicht-Aufklärung

Walter Lübcke ist am 1. Juni 2019 kurz vor Mitternacht auf seiner Terrasse ermordet worden. Aufgrund von DNA-Spuren am Tatort wurde der Neonazi Stephan Ernst verhaftet. Erst wollte er die Tat alleine ausgeführt haben, dann nannte er als Mittäter seinen langjährigen Kameraden Markus Hartmann.

 

Nun ist der Prozess zuende gegangen und das Gericht ist genau zu dem Ergebnis gekommen, das schon vor dem Prozess feststand: Der Mord an Walter Lübcke ist von einem Einzeltäter, von einem Einzeltäter, und noch einem Einzeltäter  begangen worden …

Deshalb konnte sein Kamerad Markus Hartmann gar keine Beihilfe leisten. Folglich konnte das Gericht nicht von seiner Schuld überzeugt sein. Am Ende, in dubio pro reo, Freispruch in diesem Anklagepunkt. Fast schon symbolisch verurteilte das Gericht Markus Hartmann wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Bewährungstrafe.

Inschrift an Landgericht in Frankfurt

Das Gericht feiert das Urteil als Beweis für eine wehrhafte Demokratie, die Familie Lübcke zeigt sich vorsichtig enttäuscht und die geradezu blinde Nachlese von Michael Götschenberg aus dem ARD-Hauptstadtstudio passt in diese Reihe:

„Der pauschale Vorwurf, Polizei und Verfassungsschutz seien auf dem rechten Auge blind, hat mit der Realität jedoch nichts zu tun. Gerade die vergangenen Jahre seit dem Auffliegen des NSU zeigen, dass es deutliche Erfolge im Kampf gegen rechtsterroristische Gruppen gibt, von denen einige in den vergangenen Jahren in einem frühen Stadium unschädlich gemacht werden konnten.“ (ARD Berlin vom 28.1.2021)

Stephan Ernst wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Er habe heimtückisch und vor allem alleine gehandelt. Der „Kamerad“ Markus Hartmann wurde vom Vorwurf der Beihilfe freigesprochen.

An der Einzeltäterthese hatten fast alle großes Interesse. Man kann auch sagen: Die gesamte Strafverfolgungskette tat alles, damit Stephan Ernst Einzeltäter blieb – auch gegen den „Einzeltäter“ selbst, der Markus Hartmann als Mittäter bezeichnet hatte: Die Leitende Staatsanwaltschaft, der Verfassungsschutz und schließlich auch der Staatschutzsenat, als er Markus Hartmann aus der U-Haft entlassen hatte, weil man Zweifel am Beihilfevorwurf hatte.

Nicht einmal die Nebenklage konnte an diesem Fahrplan etwas ändern. Der Rechtsanwalt Holger Matt, der die Familie Lübcke vertritt, hat bis zuletzt seine Gründe dafür dargelegt, dass Stephan Ernst in der Mordnacht nicht alleine war, dass der Kamerad Markus Hartmann als Mittäter gehandelt hat:

„Diese Quintessenz seines Plädoyers wiederholt Matt in seinem gut fünfstündigen Vortrag mehrfach. Markus H. war dabei, als Stephan Ernst den Abzug betätigte, so seine Überzeugung. Er näherte sich Lübcke von vorne, sprach ihn an, sah zu wie Ernst ihn mit der Waffe bedrohte und den CDU-Politiker in den Stuhl zurück drückte, als dieser aufzustehen versuchte. Markus H. hat nicht geschossen und doch war er Mittäter bei diesem Attentat.“ (https://www.hessenschau.de/panorama/prozess-blog-mordfall-luebcke-104.html)

Man stelle sich dieselbe Ermittlungsarbeit, dieselbe Gerichtverhandlung, dieselbe Berichterstattung vor, wenn der Regierungspräsident Walter Lübcke von polizeibekannten Antifaschisten, von einer RAF 2.0 ermordet worden wäre. Dann hätte es keine Einzeltäter gegeben, keine Verdächtige, die zur rechten Zeit vom „Schirm“ des Geheimdienstes gerutscht wären. Dann wäre es selbstverständlich gewesen, die Verdächtigen wegen Bildung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (129a) anzuklagen. Dann hätte man sich diesen Paragrafen zunutze gemacht, der einen gewaltigen „Vorteil“ aufweist: Man muss den einzelnen Angeklagten nicht eine direkte Beteiligung an einer Tat nachweisen, sondern nur beweisen, dass sie eine „Willensgemeinschaft“ gebildet haben. Das nennt man Willensstrafrecht im Gegensatz zum Tatstrafrecht.

Warum kam diese „Allzweckwaffe“ nicht zur Anwendung? Warum nutzte man nicht alle Möglichkeiten des Strafrechts, wie es gegen Linke üblich ist?

Wenn man ausschließt, dass das Gericht nicht die rassistischen Gesinnungen der Neonazis teilt, wenn man davon ausgeht, dass alle Beteiligten die Möglichkeiten des Strafgesetzbuches kennen, dann bleibt nur noch der pure Zufall … oder ein Schutzinteresse des Staates, das weit über die Person Markus Hartmann hinausweist.

Das Urteil deckt keine Tat auf, sondern schützt Zusammenhänge, die nicht „auffliegen“ dürfen

Der Nachweis ist ziemlich leicht erbracht. Während im Gerichtssaal monatelang die Einzeltäterthese verteidigt wird, passiert „draußen“ etwas völlig anders.

Dort kommt all das zusammen, was im Prozess nicht zur Sprache kommen darf, was nicht ‚zur Sache‘ gehören soll, was die Einzeltäterthese, die Krücke von der privat stattgefundenen Reradikalisierung des Mörders Stephan Ernst in Luft auflösen würde.

Die Ermittlungen bei den die neun Morde an Migranten (die man erst 2011/12 dem NSU zugeordnet hatte) hatten einen neonazistischen Hintergrund geradezu vorsätzlich ausgeschlossen. Die Pannen, das behördenversagen, die rassistischen Gesinnungen auf Seiten der Ermittler wurden geduldet oder gar begrüßt: Es ging ja nur um Opfer im „Ausländermilieu“.

Erst der Mord an Walter Lübcke zwang die Ermittlungen, sind den folgenden Fragen zu stellen: Gibt es ein neonazistisches Potenzial, das eben nicht nur „linke Zecken“, Migrant*innen bedroht oder gar ermordet, sondern auch jene aus der „Mitte“ angreift, die nicht rechts genug agieren, wie der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke? Gibt es ein neonazistisches Potenzial und eine Strategie, die auch vor dem „System“ und den „Systemparteien“ nicht Halt macht?

Plötzlich, geradezu schlagartig wurde möglich, was jahrelang, jahrzehntelang nicht gelingen wollte. Man deckte auf, man stellte Zusammenhänge her, man ermittelte, man schlug zu.

So wurde im Januar 2020 Combat 18, eine klandestin organisierte neonazistische Gruppierung verboten, obgleich es dafür gar keinen Anlass gäbe, wenn man für wahr erachten würde, dass beim Mord an Walter Lübcke keine Spur zu Combat 18 führt.

Auf einmal war es möglich, in der breiten Öffentlichkeit etwas über neonazistische, rassistische Strukturen in der Polizei, in der Bundeswehr, in der Eliteeinheit KSK (Kommando Spezial Kräfte) zu erfahren. Also über all das, was man entweder unterschlagen oder kleingeredet hatte. Dazu gehören unter anderem die ausgezeichneten taz-Recherchen zu einem neonazistischen Netzwerk, das ein KSK-Mitglied (mit Deckname Hannibal) führt/e und genau das vereinigt/e, was man für gewöhnlich für einen schlechten Krimi hält: Ein Zusammenschluss von Ex-Soldaten, Mitgliedern des KSK, (Ex-)Polizisten, Neonazis und völkisch gesinnten Politikern. Ein Zusammenschluss, der sich auf den Tag X vorbereitet, wenn alles zusammenbricht. Eine Vereinigung, die auch alles dafür tut, dass der Tag X kommt.

Und auch die neonazistischen Gruppierungen, die im Untergrund operieren, wurden nicht länger vergebens gesucht oder dauerhaft betreut, sondern ausgehoben. Dazu zählt die im Februar 2020 „aufgeflogene“ Neonazi-Zelle „Gruppe S.“ Deren Ziele waren nicht nur Migranten, sondern auch Politiker. So standen dort die Grünen-Politiker Anton Hofreiter und Robert Habeck mit auf der Todesliste. Dass man diese „Gruppe S.“ schon lange „begleitet“ hat, kann dem Umstand entnommen werden, dass in ihr ein V-Mann des Geheimdienstes aktiv war.

Plötzlich feiert die Polizei „Fahndungserfolge“ – auch länderübergreifend: Im Dezember 2020 haben deutsche und österreichische Ermittler ein riesiges Waffenarsenal sichergestellt:

„Nach Angaben der österreichischen Behörden wurden mehr als 70 automatische und halbautomatische Schusswaffen, Handgranaten, Wehrmachtsgegenstände wie Säbel und Helme, sowie mehr als 100.000 Schuss Munition sichergestellt. Bei den Waffen handelt es sich laut dem österreichischen Landespolizeipräsident Gerhard Pürstl um einen der ‚größten Funde der letzten Jahrzehnte‘. (Neonazis horteten Waffen für deutsche Miliz, faz. de vom 12.12.2020)

Insgesamt sieben Verdächtige aus Österreich und Deutschland wurden festgenommen. Laut dem österreichischen Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) sollte mit den Waffen „möglicherweise eine rechtsradikale Miliz“ in Deutschland aufgebaut werden.

Und was man seit Jahrzehnten geübt und einstudiert als einzelne „schwarze Schafe“ ausmachte, Polizisten mit rassistischer und neonfaschistischer Gesinnung, ist ganz plötzlich ein systemisches Problem. Mittlerweilen kann selbst ein CDU-Innenminister in Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul, nicht umhin, die These von den „Einzelfällen in der Polizei zu widerrufen. Dort hatten und haben sich Dutzende Polizeibeamte in einem „Chat“ zusammengeschlossen, in dem rassistisches und postfaschistisches Gedankengut gemeinsam gepflegt wurde/wird. Das kam durch einen Zufall heraus. Was wäre, wenn man systematisch nach solchen Zusammenschlüssen suchen würde?

Der Vorwurf der Beihilfe ist noch lange nicht vom Tisch

Der Prozess in Frankfurt, der nun zuende gegangen ist, hat all dies ausgeblendet, geleugnet und vertuscht. Und das hat sicherlich sehr gute Gründe, denn es geht ganz sicherlich im Fall Lübcke vor allem darum, „Staatsgeheimnisse“ zu wahren, deren Schutz der ehemalige Vize-Präsident des Verfassungsschutzes Klaus-Dieter Fritsche bereits im NSU-Komplex angeordnet hatte:

„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“ (2012 vor dem PUA in Berlin)

Dazu zählen ganz zentrale Fragen, denen man im Prozess nicht nachgegangen ist:

Gibt es unterschlagene oder „unausgewertet“ gebliebene Spuren, die vom Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006 zu dem Mord an Walter Lübcke 2019 führen?

Haben die Schutz- und Vertuschungsmaßnahmen für den V-Mann-Führer Andreas Temme in Kassel (der am Tatort 2006 anwesend war) dazu beigetragen, dass Neonazis rund um Kassel unbehelligt, gar geschützt wurden?

Wenn der Mord in Kassel 2006 nicht (alleine) von den beiden NSU-Tätern ausgeübt wurde, dann stellt sich die Frage, ob diese zum engen und vertrauten Umfeld gehören, die zu Stephan Ernst und Markus Hartmann führen (würden)?

Was würden die für ursprünglich 120 Jahre geheim gehaltenen Ermittlungsakten an Erkenntnisse zutage fördern, die zur Aufklärung des Mordes an Walter Lübcke beitragen können?

Könnte man, müsste man von Beihilfe sprechen, wenn sich bewahrheiten würde, dass Stephan Ernst 2019 auf einem geheimen combat 18 Treffen in Mücka dabei war und dies der Verfassungsschutz sehr wohl wusste, dass der Neonazi Stephan Ernst also gar nicht „vom Schirm“ gerutscht ist?

All das würde für einen neuen Prozess reichen.

Wolf Wetzel

Publiziert auf den NachDenkSeiten vom 29. Januar 2021: https://www.nachdenkseiten.de/?p=69329

 

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