Solidarität … statt Verschwörungstheorien

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Solidarität … statt Verschwörungstheorien

Diese Parole findet man auf allen Gegen-Gegen-Demonstrationen, in ganz vielen Redebeiträgen und Texten, die sich gegen die Querdenker*innendemonstrationen wenden. Damit ist völlig klar und geklärt, dass man selbstlos und gut ist, während es auf der anderen Seite fast nur „Covidioten“ und „Corona-Leugnern“ gibt. Rein symbolisch und ganz schnell fühlt man sich auf der Seite der Solidarischen wohl. Und noch etwas fühlt sich saugut an: Man ist aufgeklärt, ist wissenschaftsbasiert, also schlau … Wer möchte bei dieser Mannschaftsaufstellung nicht bei den „Solidarischen“ mitspielen?

Selbstverständlich sind Parolen verkürzend, doch sie müssen den Kern des Anliegens zum Ausdruck bringen. Und sie müssen in einem Anteil des eigenen Handelns sichtbar sein.

Es ist also wichtig zu klären, was mit „Solidarität“ gemeint ist, bevor man auch diesen Begriff ins Feuer der Beliebigkeit wirft. Zweifellos legt dieser Begriff in Corona-Zeiten nahe, dass damit all die gemeint sind, die jetzt alles geben (Krankenhaus-Pflegepersonal) oder viel verlieren (Selbstständige, Cafés, Kulturschaffende) und dass es gerecht zugehen müsse, unter den Opfern der Pandemie-Maßnahmen.

Die „soziale Frage“ zu thematisieren, ist also zweifellos wichtig. Denn sie macht sichtbar, dass Corona auf sehr unterschiedliche wirtschaftliche Verhältnisse trifft und staatliche Corona-Hilfen diese Gegensätze nicht beseitigen, sondern verschärfen.

Wenn man diese Folie zugrunde legt, dann weiß man auch, also man sollte es zumindest wissen, was man von einer Bundesregierung zu halten hat, die ebenfalls an die Solidarität appelliert, damit Lufthansa-Aktionäre und Bodenpersonal, Amazon und Paketzusteller, Risiko-Manager und Risikogruppen „zusammenstehen“, als könne Corona – ganz nebenbei – für paradiesische/rührselige Zustände sorgen.

Zuerst einmal ist es nur ein Transparent, auf dem die „Solidarität“ beschworen wird, die gegen die Querdenker*innendemonstrationen hochgehalten wird, die man stören bis verhindern will. Man will ihnen damit sagen, dass sie Egoisten sind und nur an ihre billige Freiheit denken, während die „Solidarischen“ ganz anders sind. So sieht das zumindest aus. Tatsächlich demonstrieren dieselben nicht vor Amazon, vor dem Fleischgiganten Tönnies, vor großen Fabriken, wo alles weitergeht wie bisher. Sie stehen auch nicht vor den Krankenhäusern und Altenheimen, um mehr zu erzwingen, als das kostenlose Abklatschen von „Helden“. Und es gibt auch keine Demonstrationen vor dem Bundeskanzleramt, um der Bundesregierung ins Gesicht zu schleudern, dass sie bisher alles dafür getan hat, dass die Lohnarbeitsverhältnisse (gerade in Pflegediensten) mies bis unerträglich sind, und alles dafür tut, dass sich daran nichts ändert. Das wäre erlebbare Solidarität und sie würde sicherlich auch gut tun, anstatt ständig auf Abstand zu bleiben, zu denen, die man als Opfer so ins Herz schließt. Fairerweise muss man hinzufügen, dass das auch vor Corona nicht viel anders war. Die Ausbeutungsverhältnisse ganz unten standen manchmal zwar ganz oben auf den Flugblättern, aber blieben ganz weit weg vom Alltag, der bei den meisten Linken nichts mit ganz unten zu tun hat.

Dass der Begriff der Solidarität vor allem ein Label ist und als kostenloser Button getragen wird, konnte man in Leipzig am 7. November 2020 buchstäblich abzählen. Etwa 20.000 Querdenker*innen demonstrierten dort gegen die Corona-Maßnahmen. Am selben Tag gab es sieben Gegen-gegen-Demonstrationen mit mehrere Tausend Teilnehmer*innen – unter dem Motto: „Ihr seid nicht der Widerstand – Ihr lauft mit Nazis Hand in Hand“. Es gab aber auch einen Aufruf des Zusammenschlusses „Nichtaufunseremrücken“, der sich mit dem Ruf nach Solidarität nicht an Regierungsappelle anschmiegte, sondern das „Alle gegen Corona“ in die Tonne trat: „Wir sitzen alle in einem Boot – Kapitalisten, Bosse und Manager in einem anderen“. Diese Aktion fand auch am selben Tag statt, in Leipzig, und brachte es auf ein paar Dutzend Unterstützer*innen.

Wenn man also mit dem Verweis auf die „Solidarität“ den Querdenker*innen vorhalten will, dass sie egoistisch und nur an ihr eigenes Wohl denken, dann wäre das doch nichts Trennendes, sondern ein völlig unmoralisches Angebot, darüber nachzudenken, was mit einer Solidarität gemeint sein kann, die nicht nur Milieu- und Bestandsschutz betreiben will.

Dieser eklatante Widerspruch ist nicht neu, denn innerhalb der Linken haben Klassenverhältnisse schon lange einen Außenseiterstatus. Das Thema ist einfach nicht in und erst recht nicht geil. So gehört LabourNet zwar zu einem wichtigen Netzwerk, das diese Gruppen und Initiativen präsentiert, aber sie spielen schon ziemlich lang ein Randdasein.

Wenn man diesen Eindruck verallgemeinern kann, dann bleibt von der Solidarität nur die mit der Regierung und ihrem Corona-Management übrig. Natürlich sieht man keine Merkel- oder Spahn-Konterfeis auf den Transparenten. Aber sie ist im Gegensatz zur vorgetäuschten Solidarität mit den Unterklassen, sehr praktisch und sehr aktiv. Wer ganz böse drauf ist, also Schlagworte zurückspiegeln will, könnte von einer Querfront zwischen AHA-Linken und Großer Koalition sprechen. Die Polizei übernimmt dabei den repressiven Teil, und die Linke den politischen/ideologischen Teil, indem sie zur Delegitimierung des Querdenkerprotests erheblich beiträgt und dabei in der Tat bereit ist, weiterzugehen als der Staat – natürlich nur aus Spaß: „Impfpflicht für Aluhüte“.

Die Linke – staatlicher als der Staat

„Die Maske ist links, und die Linke staatlicher als der Staat.“ So bilanziert Thomas Rudhof-Seibert die verpasste Chance der Linken, den Kampf um Schutz- und Grundrechte selbst zu führen und auf diese Weise zu beweisen, wie man gegen eine rechte/autoritäre Vereinnahmung vorgeht.

Thomas Rudhof-Seibert, der für Medico international arbeitet und Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne ist, erklärt sich die verpasste Chance der Linken damit:

Erstens hat Corona auch uns überrascht, auch uns das Fürchten gelehrt. Der zweite Grund folgte aus dem ersten. Wer überrascht ist und sich fürchtet, wird sich zunächst an Routinen halten.“

Dass man auch der Linken Angst machen kann, dass sie nicht schlauer, überlegter, krisenerfahrener ist als alle anderen – also ziemlich normal – ist ein wichtiges und bisher völlig ausgebliebenes Eingeständnis. Die Linke, die gegen Querdenker*innen auf die Straße geht, weiß ganz sicher nicht mehr, sie geht vor allem mit der Angst anders um.

In der Tat, dafür braucht man keine Corona-Kenntnisse: Todesangst löst grob zwei Reaktionen aus: Man klammert sich an das, was man verlieren könnte oder vieles bis alles gerät ins Wanken.

Thomas Rudhof-Seibert spricht also etwas sehr Wesentliches aus, was das Klima entgiften und die Arroganz der Gegen-Gegen-Demonstrant*innen abkochen könnte. Man wäre sogar dazu verleitet, ein bisschen weitergehen: Die Querdenker*innen brechen zumindest aus ihrer Routine aus, während die Linke darin untergeht.

Doch stimmt das? Hat Thomas Rudhof-Seibert recht, wenn er zu dem Schluss kommt, dass sich die Linke infolge dieser Erschrockenheit an „Routinen“ klammere, also eine Scheinrealität aufrechterhält?

Ich würde dieser Erklärung widersprechen. Gut aufgelegt könnte man sogar sagen, dass es nicht ganz so schlimm gekommen wäre, wenn sich die Linke an „Routinen“ fest/gehalten hätte, also auch an so etwas wie bewährte Gewissheiten. Dazu würden ganz sicher auch grundsätzliche Zweifel an der Regierung gehören, was man auch als Herrschaftskritik bezeichnet. Diese „Routine“ könnte auch auf kapitalistische Essentials zurückgreifen, zu denen auch das Wissen gehört, dass wir dieser Regierung nicht eine Minute glauben, dass ihr unser Gesundheit am Wichtigsten ist! Alleine diese Routine (die man auch Kapitalismus-Kritik nennen kann) hätte genügt, um nicht ins Bodenlose abzustürzen, wie dies nun der Fall ist.

Nein, die Linke, der man das Fürchten gelehrt hat (und dabei auf ganz wenig Übung zurückgreifen kann), hat sich nicht an „Routinen“ geklammert, sondern selbst diese über Bord geworfen. Ansonsten hätte man sie zu den Ersten zählen können, die die Corona-Maßnahmen in Zweifel gezogen hätten und mit einem Riesenzorn auf die Straße (es dürfen auch Barrikaden sein) gegangen wäre (mit und ohne AHA), um dieser Regierung vorzurechnen, wie viele noch am Leben wäre, wenn die Gesundheit aller oberste Priorität hätte!

Das „Missgeschick“, das Thomas Rudhof-Seibert konstatiert, hat andere Gründe und die gehen ans Eingemachte. Dass die Linke in Deutschland ganz selten um ihr Leben fürchten musste, kann man ihr nicht vorwerfen. Aber man kann diesen Umstand ins Feld führen, um einen Mechanismus zu erklären, der gar nicht neu ist: Wenn noch etwas Schlimmeres droht, als das, was man ansonsten kritisiert, dann klammert man sich an das, was man eigentlich (in guten, aushaltbaren Zeiten) kritisiert.

Das haben viele Linke (und Milieus) bereits 2001 vorgemacht (9/11), als der Islamismus etwas Schlimmeres verhieß als den gelebten Kapitalismus und ganz viele nun mit aller Kraft den Kapitalismus verteidigten, gegen seine vorkapitalistische Variante (Gottesstaat/islamischer Staat). Dabei waren die „Antideutschen“ nur die Dreistesten, indem sie ihre geistige Kriegskoalition, ihren Frieden mit dem Herrschenden für ein tief verborgenes Tunnelsystem zum Kommunismus ausgaben. Diese antideutsche Pos(s)e lässt sich angesichts der Biografien, die das damals protegierten, und heute die Staatsraison füttern, nicht wiederholen.

Wenn Thomas Rudhof-Seibert sehr treffend und pointiert schreibt: „Die Maske ist links, und die Linke staatlicher als der Staat“, dann erklärt sich diese Reaktion doch nicht mit „Routine“, sondern mit dem sehr nackten Umstand, dass sich die Linke ganz praktisch und ganz persönlich für den „Merkel-Kapitalismus“ entschieden hat – gegen die Bolsonaros, Trumps und Orbans dieser Welt, die allesamt dafür stehen, dass es auch im Kapitalismus schlimmere Varianten, Aufstiegs- und ganz viele Abstiegsschancen gibt.

Angeblich könne man die Corona-Zeiten auch als Chance nutzen: Dann machen wir das doch, um zusammen die Frage klären, ob der Antikapitalismus (in der deutschen Linken) eigentlich gar nicht so gemeint ist, also eher eine App ist, als ein grundsätzlicher Widerspruch.

Thomas Rudhof-Seibert geht als Philosoph diese Frage und Infragestellung so an: Zuerst „die Frage nach der Welt, wie sie ist und sein soll, und die Frage nach der Veränderung der Welt wie des Lebens im Ganzen. Zwei weitere traten bald hinzu: die Frage nach Gleichheit und Freiheit, und die Frage nach dem Unterschied von Überleben und Leben. Alle vier hätten von links ausgearbeitet und zusammengebracht werden müssen. Ihnen hätte öffentlich Raum geschaffen werden müssen, in einer Sprache, die nicht die des Stellens einzelner Forderungen und des Vorbringens von Anschuldigungen anderer hätte sein dürfen. In einer Sprache, die die Fragenden – uns alle – mit infrage gestellt hätte.“

Lala-Land oder Utopie

Als ich mich quer zur festgefahrenen und von allen Seiten gehaltenen Frontlinie stellte und einen wirklichen Lockdown (also einen Lockdown, der Arbeitswelt und Freizeitbereich einschließt) forderte, bekam ich aus dem Forum zwei bemerkenswerte Antworten: Ein Leser war ein wenig verzweifelt: „Die Querdenker meckern, die Wirtschaft ging kaputt. Wolf Wetzel meckert, dass man die Wirtschaft nicht kaputt macht. Recht machen kann man es sowieso niemandem.“

Der zweite Leser wählte einen etwas höheren Aussichtsturm: Ja, klar geht es um Konzerninteressen und die Macht der Eliten, alles paletti. Aber jetzt müsse man sich, „wenn man einigermaßen gebildet und erwachsen ist, für das kleinste Übel entscheiden. Sich aus einer Fundamentalopposition heraus die Argumente zusammenzuklauben und zu verrühren, bis das eigene Lala-Land wie eine Konsequenz aussieht, ist pubertär und dumm.“

Gerade in ihrer Genervtheit und Abfälligkeit treffen beide Antworten einen wunden Punkt, wenn nicht gar zentrale Schmerzpunkte, die fast in allen Diskussionen umschifft werden.

 

Während die Bundesregierung, die staatstragenden Medien, und viel zu viele Linke damit beschäftigt sind, die Corona-Regel-Verbrecher zu outen und sich gegenseitig um die Ohren zu schlagen (zuletzt waren es die Rodler auf Schneepisten, die doch tatsächlich im Freien ihren Spaß haben wollen), um die Schuldigen für das Scheitern des Lockdowns ausfindig zu machen, gehen dieselben – in aller Regel – ohne ein Mucks acht (und mehr) Stunden zur Arbeit, in geschlossenen Räumen, mit vielen Menschen zusammen – als wäre das mit Corona so abgesprochen.

 

 

Das hat etwas Groteskes und Absurdes: Da regen sich ganz viele darüber auf, dass im Planschbecken noch Leute schwimmen, schimpfen und überbieten sich mit Sanktionsgelüsten, während direkt daneben das Kampfschwimmbecken aus allen Nähten platzt und der Verstand dabei völlig untergeht.

Der Leser hat dabei aber noch etwas auf den Punkt gebracht, was ganz viele wortlos hinnehmen, weil sie es als Selbstverständlichkeit längst verinnerlicht haben. In der Gesellschaft, in der wir leben, geht es nicht um unsere Gesundheit, um unser Wohl. Das haben wir längst geschluckt und akzeptiert. Die, die man als „Corona-Leugner“ verspottet, nerven also gar nicht so sehr, weil sie medizinisch keinen blassen Schimmer haben, sondern weil sie tatsächlich ihr Leben zur obersten Priorität erklären, insbesondere die Freiheit, darüber zu verfügen und gegen inakzeptable Einschränkungen zu verteidigen. Von staatstragend bis links wird den Querdenkern daraufhin vorgeworfen, dass ihre Freiheit eine ganz billige sei, also das, was man sich im Kapitalismus leisten kann, wenn man das nötige Geld dafür hat (Urlaub, Partys, Restaurantbesuche). Aber woher wissen dies die Kritikerinnen so genau? Wäre es nicht fair und angemessen, darüber öffentlich zu streiten, im Namen welcher Freiheit man für was kämpft? Gehört es nicht zur Freiheit dazu, in Opposition zur Regierung zu gehen oder die hehren Ziele für die Freiheitseinschränkungen in Frage zu stellen? Welchen Freiheitsbegriff haben die Kritikerinnen der Querdenker? Und wie kämpfen sie dafür, dass die mühsam erkämpften Freiheiten nicht unter die Corona-Räder geraten?

Wäre es nicht ein einigermaßen fairer Ausgangspunkt, herauszubekommen, wer welche Freiheit reklamiert und verteidigen will? Und würde es nicht der Linke, uns allen guttun, wenn wir uns, also auch unser Tun, an Rosa Luxemburgs Ausspruch messen lassen: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ (Die russische Revolution 1918)

Man muss kein Hellseher sein, um sofort das Ass zu ahnen, das nun aus dem Ärmel gezogen wird: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.“

 

Wenn man weiß, dass die Mehrheit der Querdenker ganz viel ist, am allerwenigsten Nazis, dann ist dieses Ass keine notwendige Grenzziehung, sondern eine autoritäre Geste, hinter der sich die Unfähigkeit verbirgt, mit Rosa Luxemburgs Aussage überzeugend umzugehen.

Denn es gibt gute Gründe, die weitgehende Zustimmung aus linken Kreisen zu den Corona-Maßnahmen zu kritisieren – dazu muss man kein Querdenker sein.

Dass also gerade Linke so auf die Querdenker einschlagen, hat wenig mit deren abstrusen Ansichten zu tun, sondern damit, dass sie ihr Selbstbild ankratzen. Dass genau dieses gekränkt ist, brachte ein Transparent in Leipzig auf den Punkt, das den Querdenker zeigen sollte, wer Anspruch auf das Original hat:

„Ihr seid nicht der Widerstand.“

Das wird noch mehr greifbar, wenn es um die Kritik an den Corona-Maßnahmen geht. Viele Fortschrittliche und Linke akzeptieren die Corona-Maßnahmen, den Lockdown, auch und gerade in seiner absurden Dichotomie. Sie halten ein, machen mit, sie werden gelegentlich sogar zu Hilfspolizisten, wenn sie zum Beispiel ein Verbot der Querdenkerdemonstrationen fordern, da diese nicht die AHA-Regeln einhalten. Dass sie auf diese Weise in der Tat „staatlicher als der Staat“ agieren, bedarf keiner gedanklichen Verrenkung. Dass die Querdenker dabei und damit auf die Grundrechte und Schutzrechte verweisen, die sie verletzt sehen, die sie verteidigen wollen, macht die Linke rasend. Nicht, weil das absurd ist, sondern weil sie der Linken den Spiegel vorhalten, in den sie nicht hineinschauen will: Wie kann man als Linke die Verteidigung der Schutz – und Grundrechte so dermaßen aufgeben! Wo bleibt das grundsätzliche Misstrauen der Linken gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen, gegenüber einer Maximierung von Machtbefugnissen? Anstatt sich dem zu stellen, eigene, bessere Antworten zu finden, stürzt sie sich mit Schwarmintelligenz auf ein vermeintlich grobes Foul, als Querdenker das neue Infektionsschutzgesetz 2020 mit dem Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933 verglichen haben. Endlich kann sich die Linke als geschichtsbewußt auszeichnen und vor Geschichtsrelativierungen warnen. Dass dies ein ganz billiger Freistoß ist, weiß sie aber auch. Denn es müsste für eine Linke selbstverständlich sein, Ausnahmezustände zu hinterfragen, sie mit anderen Ausnahmezuständen zu vergleichen, um das geschichtliche Wissen abzurufen, dass Ausnahmezustände nie dem vergebenen Zweck dienten, sondern andere Intensionen verdecken sollten, die man ohne diesen Anlass nicht hätte durchsetzen können.

Auch der zweite Leser trifft einen ganz neuralgischen Punkt und führt dabei eine nicht ganz ungewöhnliche Paradoxie auf: Zuerst winkt er die Kritik an Konzerninteressen, die Interessen der Machteliten durch, die mit unsere Gesundheit nur peripher etwas zu tun haben. Dann folgt sein harter Lockdown, der Verweis auf das „kleinere Übel“. Mit dem sind viele, über Jahrzehnte großworden. Über Jahrzehnte gehörte das „kleinere Übel“ zum Narkosemittel wohlwollender „Ärzte“. Dabei geht es aber nicht nur um die Berücksichtigung der Machtverhältnisse, um den berühmten Realismus und Pragmatismus, den man brauche. Das „kleinere Übel“ betäubt einen selbst. Denn jenseits davon, was wir erreichen, was wir verhindern können, ist es wichtig, uns nicht an Verschleierungen, an Lügen zu beteiligen. Das macht eine Linke glaubwürdig!

Es geht eben nicht um Corona, um das Retten von Menschenleben, sondern um die Bewahrung des Status-quo, an dem man gepflegt rummeckert, aber sofort verteidigt, wenn es darauf ankommt. Es gibt, wenn es hart auf hart kommt, nichts jenseits davon – auch nicht für die Linke.

Dann ist es aber endlich an der Zeit, nicht mit zwei Kartenspielen (Fundis und Realos) zu operieren. Wenn‘s nicht darauf ankommt, dann ist man antikapitalistisch und auch *, wenn es brenzlig wird, dann ist man ganz realistisch und hält alles andere für Lala-Land-Phantastereien.

Das kleinere Übel kommt auch ohne uns, von alleine. Versprochen.

Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass man Veränderungen, die man mit Herz und Leidenschaft erreichen will, nicht im „Ist-eben-So-Modus“ erreichen kann, sondern nur, wenn man das Lala-Land betritt. Das nannte man vor nicht allzu langer Zeit noch Utopie und wenn man dies zum Maßstab des eigenen/kollektiven Handeln macht, machte Ernst Bloch daraus eine „konkrete Utopie“.

Für eine Linke, die nur Opposition ist, weil sie noch nicht an der Regierung ist, sind die damit verbundenen Enttäuschungen längst aufgebraucht. Die Linke (in Deutschland) ist auch schwach, weil sie mit diesen Enttäuschungen nicht offen umgeht. Sie ist aber ganz schwach, solange sie vor allem damit beschäftigt ist, zu erklären, wer alles rechts-offen ist, anstatt eine (konkrete) Utopie erlebbar zu machen, in der das, was links ist, nicht wie ein Hilfspolizist auftritt, sondern in der Vielgestalt einer packenden Einladung.

Seit zehn Monaten be- und überstimmt Corona alle anderen Auseinandersetzungen und geführte Kämpfe (Klima, Wirtschaftskrise, Wohnen als Grundrecht usw.). Wenn man als gemeinsamen Ausgangspunkt nähme, dass Corona (und das darum gebaute Regime) auch die Linke das „Fürchten gelehrt“ hat, dann würde man auch zugeben, dass der Boden unter den eigenen Füssen sehr dünn ist.

Der Vorwurf an die Querdenker*innen, sie möchten nur einen Kapitalismus zurückhaben, der auch Spaß macht, ist leicht und schnell dahingesagt. Viel schwerer ist es, etwas auf die Beine zu stellen, das diesem Vorwurf trotzt.

Wolf Wetzel

Publiziert auf Telepolis am 12. Januar 2021: https://www.heise.de/tp/features/Solidaritaet-statt-Verschwoerungstheorien-5020525.html

 

Quellen und Hinweise

Wolf Wetzel, Die Welt ist unsere Klinik: https://www.heise.de/tp/features/Die-Welt-ist-unsere-Klinik-4999402.html

Thomas Rudhof-Seibert, Wann hört das endlich alles auf … und wie soll es weitergehen? Was unter Corona links sein könnte, Neues Deutschland vom 2.1.2020

 

https://www.heise.de/tp/features/Solidaritaet-statt-Verschwoerungstheorien-5020525.html

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