Ausnahmezustände verschwinden nicht, sondern verwandeln sich in eine neue Form des Normalzustandes | Teil 2

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Ausnahmezustände verschwinden nicht, sondern verwandeln sich in eine neue Form des Normalzustandes

Die Corona-Krise. Die Linke. Und die Sterblichkeit -Teil 2

 

Die Corona-Krise. Die Linke. Und die Sterblichkeit – Teil 1

Ausnahmezustände sind auch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht neu. Trotz recht unterschiedlicher Anlässe haben sie eine gemeinsame Handschrift und helfen “wilde” Spekulationen” darüber einzudämmen, was alles davon bleibt, selbst wenn sich niemand mehr an den eigentlichen Anlass erinnert.

Notstand ohne jede Not – die Notstandsgesetze 1968

Kaum war das Dritte Reich, das Tausendjährige Reich, vorzeitig zu Ende, dachten die bürgerlichen Parteien des Nachkriegsdeutschlands daran, die verfassungsrechtlich garantierten Rechte zu suspendieren, wenn die Regierung in Not gerät – und dabei Schutzrechte nur eine Last sind.

Es sei erwähnt, dass die bürgerlichen Parteien über die Notwendigkeit von Notstandsgesetzen diskutierten, als es nicht den Hauch einer Bedrohung gab, die nicht mit dem bestehenden Gewaltmonopol und den vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten hätte bewältigt werden können. Man dachte am Anfang der „Beratungen“ gerade anders herum: Wenn alle mitmachen, ganz vom „Wirtschaftswunder“ geblendet sind, dann interessieren sie sich nicht für Gesetze, die eine Rebellion niederschlagen sollen, an die die meisten nicht einmal im Traum denken.

Nach jahrelangen Beratungen war sich die Große Koalition aus CSU/CDU und SPD einig:

Im Fall eines inneren oder äußeren Notstands kann seither ein ‚Notparlament‘ als Ersatz für Bundestag und Bundesrat zusammentreten.

Ausnahmezustand und Grundrechte

Die Bundeswehr darf außerdem zur ‚Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer‘ – also auch gegen die eigene Bevölkerung – eingesetzt werden. Darüber hinaus können die Grundrechte jedes Einzelnen bei einem Ausnahmezustand beschnitten werden: Insbesondere das in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Post- und Fernmeldegeheimnis ist davon betroffen.“ (Vor 50 Jahren: Bundestag beschließt Notstandsgesetze, sas/23.05.2018)

Dazu führt Detlef Borchers aus:

„Im Bereich der Kommunikation führten die Notstandsgesetze zu einer Umdefinierung des Post- und Fernmeldegeheimnisses. Bis zu dieser zentralen Gesetzesänderung waren Post- und Fernmeldeüberwachungen durch deutsche Behörden verboten. Das änderte sich mit den Notstandsgesetzen beziehungsweise dem zugehörigen G10-Gesetz, das am 1. November in Kraft trat und nur in Westdeutschland galt – in Westberlin war das Abhören und Verwanzen via Besatzungsrecht weiterhin nur den Alliierten erlaubt. Fortan durften der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst und der Verfassungsschutz das Post- und Fernmeldegeheimnis brechen, wenn sie den bloßen Verdacht hatten, jemand könnte etwas planen, das die Sicherheit der BRD und das Staatswohl gefährde. Gegen die Maßnahmen konnte nicht geklagt werden, denn in ‚ihrem Vollzug ist der Rechtsweg nicht zulässig‘.“ (Detlef Borchers, Telepolis vom 27.05.2018)

Mit einer deutlichen Zwei-Drittel-Mehrheit stimmten am 30. Mai 1968 die Abgeordneten für die Notstandsgesetze – also auch mit vielen Stimmen der SPD. Die Haltung der SPD, an der sich bis heute nichts geändert hat, hat Willy Brandt auf den Punkt gebracht: „Der Sozialdemokrat bezeichnete die Notstandgesetze als ‚erforderliche Vorsorgegesetzgebung‘, bei der man nur über das ‚Wie‘, nicht über das ‚Ob‘ streiten könne.“ (s.o.)

Als die Absicht, Notstandgesetze zu verabschieden, auch die 68er-Bewegung erreichte, war die Aufregung groß und einhellig. Es gab spannende und lehrreiche Debatten, was man davon zu halten hat und wie man sich dazu stellt, vor allem mit Blick auf das Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933, das mit Zustimmung bürgerlicher Parteien den Nazis, der NSDAP den Weg an die Macht ebnete.

Und es gab sehr große Proteste gegen die Notstandsgesetze. So fand in Bonn unter dem Motto „Treibt Bonn den Notstand aus!“ eine Demonstration von über 40.000 Menschen statt. Dort sprach unter anderem Heinrich Böll:

„Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält.“

Im Vorwort zur Broschüre „Gefahr im Verzug“ von Jürgen Seifert, die die Auseinandersetzung um Entwürfe über ein Notstandsgesetz vor über fünfzig Jahren darstellt, hält der damalige hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer fest:

„Der Entwurf für eine Notstandsverfassung sieht praktisch unlimitierte Einschränkungen einer Reihe von Menschenrechten vor, die nach dem, was auch im Grundgesetz steht, ‚unverletzlich und Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt‘ sind. Nach der üblichen Auffassung sind die Menschenrechte weder durch das Grundgesetz geschaffen, noch können sie selbst durch ein Grundgesetz aufgehoben werden. Kann die von der Bundesregierung vorgesehene Notstandsverfassung hiernach überhaupt Rechtsgültigkeit erlangen?

Die Menschenrechte werden hierzulande nicht wie ein Heiligtum gehütet und gehegt, sie sind vielen nicht die Substanz der Verfassung, das A und O, ohne die unser Staat zu existieren aufhört. Die Ausnahmen, Einschränkungen und Vorbehalte pflegen hier gerne zur Regel zu werden, da obrigkeitsstaatliches Denken nicht tot ist und durch das für Gegenwart und Zukunft kennzeichnende Wachstum der Bürokratie immer neue Nahrung erhält. Die – wenn auch zunächst theoretischen – Möglichkeiten einer Suspendierung der Grundrechte können das Denken und Handeln bestimmen; sie bestätigen vielen, allzu vielen, die an der Unverzichtbarkeit der Grundrechte deuteln, auf ihren Realismus stolz sind und an das Ethos einer Staatsräson glauben. In Notwehr gegen eine – wirkliche oder vermeintliche – Arglist und Gefahr bleibt – frei nach Schiller – auch das redliche Gemüt nicht wahr. Die Bundesrepublik sollte, sofern und Recht und Freiheit mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis ist, und solange eine wirklich zwingende Not nicht besteht, darauf verzichten, nach Eichhörnchenart Grundgesetzartikel auf Vorrat zu sammeln, deren Gefährlichkeit kaum bestreitbar ist.“

Und was mit diesen Notstandsverordnungen, die 1968 die Große Koalition aus CSU/CDU und SPD beschlossen hatte? Sie gelten bis heute.

Deutscher Herbst 1977

Anlass für weitreichenden Einschränkungen der Grundrechte waren die Anschläge der RAF (Rote Armee Fraktion), die mit ihrem bewaffneten Kampf auch auf führende Köpfe in Regierung und Wirtschaft zielten. Die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer,1977, seine Ermordung, nachdem die Forderungen nicht erfüllt wurden, waren der Anlass für das, was man später als „Deutschen Herbst“ bezeichnete.

Unter dem Sozialdemokraten und Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde ein „Krisenstab“ eingerichtet, der überparteilich fast alles vereinte: Exekutive, Legislative und Judikative. Nicht ganz unbegründet bekam diese Art der Krisenbewältigung den Namen „Krisenstab-Diktatur“.

Damit wurde das Grundgesetz gebrochen, das man eigentlich zu verteidigen vorgab: „Um Schmidts Handeln abzusichern, schuf die damalige Bundesregierung zwei Exekutivorgane, die von der Verfassung nicht vorgesehen und insofern weder legal noch legitim waren: Den kleinen und den großen Krisenstab, in denen während der Schleyer-Entführung alle Entscheidungen getroffen wurden.“ (Wolfgang Kraushaar)

Ziel war es nicht nur, mit allen Mitteln die RAF zu schlagen. Es ging sehr augenscheinlich auch und gerade darum, jede Form der Fundamentalopposition zu schwächen und gezielt zu kriminalisieren.

Die Grenze war klar gezogen: Wer den Kapitalismus besser/gerechter/schöner machen will, ist willkommen. Wer hingegen den Kapitalismus als Gesellschaftssystem grundsätzlich ablehnt, weil jeder „gezähmte“ Kapitalismus mörderische Bedingungen woanders einschließt, sollte zum Schweigen gebracht werden.

Im Kampf gegen die RAF wären die vorhandenen Gesetze völlig ausreichend gewesen. Mit den neuen Gesetzen und Befugnissen wollte man den „Sympathisantensumpf austrocknen“, die „Helfershelfer“, die „geistigen Brandstifter“ mundtot machen, zu denen man gemacht wurde, wenn eine „geistige Nähe“ zur RAF diagnostiziert wurde.

So gerieten auch Menschen wie der Schriftsteller Heinrich Böll oder der Psychologieprofessor Peter Brückner ins Visier, weil sie sich weder eine Kritik an staatlichen Maßnahmen verbieten lassen wollten, noch eine Debatte über Ziele jenseits des Kapitalismus.

Wie wenig es um die RAF selbst geht, wie sehr um die Staatsraison, machen die erlassene Gesetze(sverschärfungen) deutlich:

So wurde unter anderem das Kontaktsperregesetz erlassen, das den rechtlosen Zustand der RAF-Gefangenen legalisieren sollte.

Parallel dazu verhängte man eine Nachrichtensperre, während man mit Rückendeckung der Minister illegale „Lauschangriffe“, also Überwachungsmaßnahmen praktizierte, wie zum Beispiel gegen dem Atomwissenschaftlers Klaus Traube 1977 oder das Abhören von Gesprächen von Anwaltskanzleien.

Bereits ein Jahr zuvor wurden Anti-Terror-Gesetze verabschiedet, die noch deutlicher die Kriminalisierung einer politischen Debatte zum Ziel hatten. Dazu gehörten

  • Die Einführung des § 129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung), wobei auch „Werbung“ und „Unterstützung“ unter Strafe gestellt wurde
  • 88a (verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten)
  • 140 (Belohnung und Billigung von Straftaten)

Eine parlamentarische Opposition gab es damals nicht. Ich kann mich aber auch an keine außerparlamentarische Opposition erinnern. Man war von der Repressionswelle so erschlagen, von der Angst bestimmt, irgendwie dazuzugehören. Da reichte es bereits, lange Haare zu tragen bzw. wie jemand auszusehen, dem man „so etwas“ zutraut.

Was ist mit all den Grundrechtseinschränkungen und Kriminalisierungsmaßnahmen passiert?

„Die Anti-Terror-Maßnahmen von vor Jahrzehnten sind heute fast ausnahmslos noch in Kraft – wohl auch vorsorglich, weil der Terror leider eine menschliche Konstante ist und er zwischen 1977 und 2017 bloß seine Methoden und seine Fratze geändert hat.“ (Nicht nur das Ausmaß der Angst hat sich verändert, rp-online.de vom 22. Januar 2017)

9/11

9/11 steht für den Terroranschlag in den USA 2001.

 

Der Islamismus wurde neuer Staatsfeind Nr. 1, der Folter, Krieg, geheime Foltergefängnisse und verdeckte Kriegshandlungen „erlaubte“, wenn man den Bruch nationaler und internationaler Rechtsgarantien für so straffrei hält wie die USA und ihre Verbündeten.

 

Dazu zählt auch der de facto permanente Kriegszustand der NATO (mithilfe ständiger Verlängerungen des Beistandfalles), bei gleichzeitiger Ausweitung von Kriegshandlungen, die keinen Verteidigungsfall zur Grundlage haben (wie zum Beispiel der Einsatz von Killer-Drohnen). Und nicht zu vergessen die grenzüberschreitende Totalüberwachung, die der Ex-NSA-Mitarbeiter Edward Snowden aufgedeckt hat und die das Magazin „Der SPIEGEL“ einmal treffend als „Die Weltherrschaft der Spitzel“ bezeichnet hat.

In Deutschland hat der Sozialdemokrat und Innenminister Otto Schily die Gunst der Stunde genutzt, um den „Otto-Katalog I und II“ zu schnüren und durchs windelweiche Parlament zu peitschen.

Dazu schreibt Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist und seit 2003 Präsident der ‚Internationalen Liga für Menschenrechte‘:

Die ‚Antiterrorgesetze‘ von 2002 sind die umfangreichsten Sicherheitsgesetze, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind – ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahren ausgereicht hätten. Schließlich gab es längst ein ausdifferenziertes System von ‚Antiterrorregelungen‘ mit zahlreichen Sondereingriffsbefugnissen für Polizei, Justiz und Geheimdienste. (…) Künftig sollen die Geheimdienste noch mehr Befugnisse bekommen und hochsensible Auskünfte bei Banken, Flug- und Telekommunikationsunternehmen nicht nur zur Terrorabwehr abfragen dürfen, sondern auch schon zur Aufklärung verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Inland, sofern diese einen Gewaltbezug haben oder die Bereitschaft zu Gewalt erkennen lassen oder fördern könnten. Eigenhändige Gewaltanwendung ist nicht erforderlich – womöglich könnten schon Demonstrationsaufrufe gegen Neonazis oder Castortransporte genügen. Mit dem ursprünglichen Zweck der Terrorabwehr hat diese Ausweitung nur noch wenig zu tun; aus geheimdienstlichen Antiterrorinstrumenten mit Ausnahmecharakter werden so Regelbefugnisse des Alltags zur erweiterten ‚Vorfelderfassung‘. (…) Der ‚Antiterrorkampf‘ hat sich als ein enormes Umgestaltungsprogramm herausgestellt – ein Programm der Demontage des Völkerrechts, der Menschen- und Bürgerrechte und des demokratischen Rechtsstaats.“ (Der ganz normale Ausnahmezustand, Junge Welt vom 11.09.2006)

Was ist mit den Einschränkungen der Grund- und Schutzrechte passiert, die einer besonderen Ausnahmesituation gegolten haben sollen?

Die Rechtsanwältin Jessica Hamed, die die Klagen gegen die Corona-Maßnahmen vertritt, führte dazu in einem Interview aus:

„Deutschland hat mit den sogenannten Anti-Terror-Gesetzen auf den Terroranschlag 2001 reagiert. Damit sicherte sich der Staat weitgehende Eingrisgrundlagen, mit denen die Überwachungsmöglichkeiten des Staats verstärkt wurden. Eine besonders kritische Maßnahme war hierbei die der Vorratsdatenspeicherung. (…) Die o.g. Gesetze sind befristet, wurden aber größtenteils immer wieder verlängert. Das zeigt, dass der Staat Eingrismöglichkeiten, die er sich schafft, höchst ungern wieder zurücknimmt.“

 

In besagtem Interview fügte Rechtsanwalt Professor David Jungbluth hinzu:

„Ein lernwilliger Blick auf die Historie zeigt jedenfalls, wie sich die Rechtslage in ähnlichen ‚Notstandssituationen‘ entwickelt hat. Erinnert sei hier an die Gesetzgebungsmaßnahmen nach dem 11. September 2001, die sich auf ein latentes terroristisches Angrisszenario berufen haben, das Anlass nicht nur für den bis heute andauernden Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan war, sondern auch für Schilys ‚Otto-Katalog‘, in den erhebliche grundrechtliche Einschränkungen Eingang gefunden haben. Auch wenn das Schreckensszenario eines alles überrollenden islamistisch-terroristischen Angris auf die westliche Welt bis heute realitätsfremd geblieben ist, haben die einmal beschlossenen Gesetze und die auf ihnen fußenden Maßnahmen weiterhin Bestand, wurden sie zuletzt doch bis 2021 umstandslos verlängert.“ (Das Interview wurde am 2. Mai 2020 von Tilo Gräser schriftlich geführt)

Der Dauerzustand eines Ausnahmezustandes

Als man die zahlreichen, über 30 Gesetzesverschärfungen im deutschen Bundestag 2001/2002 verabschiedete, tat man dies angesichts einer außergewöhnlichen Situation. Bereits damals wusste kaum jemand, was alles mit den Gesetzesverschärfungen zum Tragen kommt und ob sie im Detail tatsächlich den „Islamismus“ bekämpfen helfen.

Zu den Verschärfungen in Gesetzespaket I und II gehören unter anderem:

  • Die Verschärfung des Vereinsrechtes
  • Die Ausweitung des § 129, mit dem Ziel, den Straftatbestand der Bildung/Unterstützung einer terroristischen Vereinigung auch auf ausländische Organisationen auszuweiten (§ 129b)
  • Der erweiterte Zugriff auf Bank- und Flugdaten von Verdächtigen
  • Die Vorratsdatenspeicherung, die es den Verfolgungsorganen erlaubt, auf Handydaten bei den Providern zuzugreifen
  • Die Schaffung einer „Antiterrordatei“, die Polizei und Geheimdienst gemeinsam nutzen
  • Die Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses
  • Die Verschärfung des Ausländerrechts

Unter dem Eindruck, dass die Welt im Wanken ist, hat man im deutschen Bundesstag zugestimmt und den wenigen mahnenden Stimmen insoweit Rechnung getragen, dass man diese Verschärfungen befristet hat. Nach fünf Jahren sollte geprüft werden, ob die Gesetzesänderungen tatsächlich ihren Zweck erfüllen, um sie gegebenenfalls rückgängig zu machen.

Was ist also im Überprüfungsjahr 2007 passiert? Nichts – oder doch:

„Durch die Einführung des ‚Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes‘ im Januar 2007 wurden sie dann jedoch verlängert und inhaltlich erweitert.“ (Historische Debatten: Kampf gegen den Terror, sas/14.08.2017/Dokumente des Bundestages)

Und was passiert mit all den Gesetzesverschärfungen aus dem Corona-Jahr 2020? Braucht man eine Glaskugel, um ziemlich sicher davon auszugehen, dass auch diese Einschränkungen von Grund- und Schutzrechten im Wesentlichen bleiben?

Der Vorwurf, man nutze nur einen „Notstand“, um die Einschränkung von Grundrechten zum Normalzustand zu machen, ist also mehr als berechtigt.

Und was ist mit dem begründeten Verdacht, dass eine Ausnahmesituation dafür genutzt wird, Maßnahmen durchzusetzen, die mit dem „Anlass“ verdammt wenig zu tun haben?

Warum überlässt es die Linke weitgehend den anderen, dem nachzugehen? Warum tut sie – völlig ungeprüft und faktenfrei – so, als sei das alles Alarmismus und wenn gar nichts mehr hilft, eine Verschwörungstheorie mehr? Auf Seiten der Querdenker mag einiges quer liegen, aber wenn eine Linke nicht mehr nicht sagen, ist das doch geradenwegs dumm.

Hat die Linke schon einmal davon gehört, dass im Kapitalismus bestimmte Prioritäten (also Menschenwohl, Lebensglück usw.) wenig zählen, andere viel mehr – und das mit und ohne Corona?

Warum versucht sich die Linke nicht daran, diese gesellschaftlichen und politischen und staatstheoretischen Verschiebungen selbst einzuordnen, ohne „Verschwörungstheorie“?

Gibt es ökonomische, staatstheoretische und politische Gründe für die Suspendierung von Grundrechten, die wenig bis nichts mit der Bekämpfung der Pandemie zu tun haben?

Gibt es berechtigte und belegbare Gründe dafür, dass das Wohl und die Gesundheit der Menschen nicht an oberste Stelle stehen – weder vor, noch in, noch nach der Pandemie?

Anstatt diese Frage zu stellen und mit Antworten zu überzeugen oder gar zu glänzen, überlässt man all dies den „Querdenker*innen“.

Aus diesem Spektrum ist jedenfalls diesen Fragen nachgegangen worden, nicht nur in vielen und fragwürdigen und disparaten Antworten, die man von Seiten der Linken wieder mit viel Häme und nichts auf der Naht quittierte.

Man hat eine Klage eingereicht, um die Frage der Verfassungsmäßigkeit, die Frage der Verhältnismäßigkeit auch gerichtlich überprüfen zu lassen. Denn man kann links und rechts, oben und irgendwo viel darüber spekulieren, welche gerichtsverwertbaren Gründe eine (Landes-)Regierung für dermaßen einschränkenden Maßnahmen vorlegen kann. Um den Raum vieler Spekulationen und Annahmen zu verlassen, kann eine solch juristischer Prozess ein Weg sein:

„Die Klage soll klären, ob die massiven Einschränkungen von Grundrechten wie der Bewegungsfreiheit oder der Versammlungsfreiheit aus rechtlicher Sicht angemessen waren. Die Juristin strebt nun eine öffentliche Verhandlung vor dem VGH an und hat beantragt, Ministerpräsident Markus Söder, Gesundheitsministerin Melanie Huml und weitere Kabinettsmitglieder als Zeugen zu laden.“ (SZ vom 11.09.2020)

Um das zumindest juristisch klären, vertritt die Mainzer Rechtsanwältin Jessica Hamed nicht nur Klagen gegen die bayerischen Anti-Corona-Verordnungen, sondern auch Klagen gegen andere Bundesländer. Im Rahmen dieser Klage wurde Einsicht in Akten, Dokumente und Vorgänge des Gesundheitsministeriums beantragt, die nachvollziehbar machen, auf welcher Basis die Entscheidung für die massiven Beschränkungen zustande kam.

Und in der Tat, bereits jetzt hat dieser ganz praktische Schritt mehr gebracht, als die blanke Denunziation derer, die die Grundrechtseinschränkungen nicht hinnehmen wollen. Die Antwort aus dem Ministerium hat NSU-Charme: „Es gibt keine Akte. In den Worten des Ministerialen, der das Schreiben an den VGH verfasst hat: Es sei nicht möglich, eine ‚Behördenakte vorzulegen, die ein umfassendes Bild über die Erkenntnisse liefern könnte, welche bei der Meinungs- und Willensbildung der Staatsregierung (…) Berücksichtigung fanden‘.“ (s.o.)

Wie viele von den linken/antirassistischen Gegendemonstrant*innen wissen um diese Stellungnahme? Wie viele regt das auf?

Über diesen Wahnsinn regt sich kaum eine linke Stimme auf. Ganz bösartig könnte man mutmaßen, dass sie schon völlig heißer geschrien ist, als man „Covidioten“ denen zugerufen hatte, die mit diesem doch bescheidenen Schritt zumindest deutlich gemacht haben, welcher Wahnsinn hingenommen wird, wenn er staatstragend vonstattengeht.

Das eigentliche Falsche ist das jetzt Richtige

Es sind ja nicht nur die medizinischen Erkenntnisse, die einen ratlos zurücklassen, wenn man grundlegende Rechenarten beachtet, und die massiven Einschränkungen von Grundrechten nicht mit der realen Gefahr in Einklang bringen kann. Warum reagiert die Linke, wo auch immer, nicht auf diesen eklatanten Widerspruch? Warum nimmt sie klaglos hin, dass eine bundesweite Demonstration zu den rassistischen Morden in Hanau am 19. Februar 2020 vom Bürgermeister der Stadt verboten wird?

Warum gibt nicht einmal der Rechtswissenschaftler Thorsten Kingreen zu denken, der bei der Anhörung des BT-Gesundheitsausschusses am 9. September 2020 zur gegenwärtigen Situation befragt wurde und dem Vorwurf widersprach, dass man verharmlose:

„Derzeit gebe es angesichts der aktuellen Daten keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit mehr, anders als im März, so Kingreen. Die Möglichkeit laut Robert Koch-Institut, (RKI), dass sich das ‚jederzeit‘ wieder ändern könne, rechtfertige nicht, die ‚epidemische Lage‘ aufrecht zu erhalten.

Man kann keine rechtswidrigen Beschlüsse in der unsicheren Erwartung aufrechterhalten, dass sie vielleicht irgendwann rechtmäßig werden‘, erklärte der Rechtswissenschaftler den Bundestagsabgeordneten.“ (Ausschuss im Ausnahmezustand, Rubikon vom 12.9.2020)

Sind all diese Erfahrungen, Eindrücke und Fakten Anlass genug, die bisherige Haltung zu überdenken? Nein.

Auf der Suche nach Gründen für diese geradezu besessene Weigerung, schoss mir der Satz durch den Kopf, der sich 1991 bei mir so eingebrannt hatte:

„Das eigentliche Falsche ist das jetzt Richtige.“

Dieser Satz bezog sich damals auf den US-alliierten Krieg gegen den Irak 1991, den man als Linke nun unbedingt unterstützen müsse. Klar wisse man, dass die US-Führung keinen Krieg führe, um Diktaturen zu beseitigen, sondern Herrschaftsinteressen zu verteidigen. Man wisse auch, wer Saddam Hussein an die Macht gebracht hat, dass er jahrzehntelang der „Hundesohn“ des Westens war. Genauso wisse man, wer die Lage im Nahen und Mittleren Osten geschaffen habe. All das wissen man, spiele aber jetzt keine Rolle. Denn nun gehe es darum, Israel zu verteidigen, das durch „Saddam Hussein“, durch den Irak bedroht sei. Deshalb sei „das Schreckliche, das jetzt geschieht, das jetzt richtige“. So stand es wörtlich in der Zeitschrift „Konkret“ (Ausgabe 3/1991), in einem Beitrag vom Herausgeber Hermann L. Gremliza, den er mit dem Titel überschrieb: „Richtig falsch“.

So abgedreht dieser Satz auch ist, so treffend bringt er die Haltung eines Teils der Linken auf den Punkt – damals, in den Tagen des ersten Golfkrieges 1991, nach 9/11 und heute, unter dem Eindruck der Corona-Krise.

Das Schreckliche, das jetzt richtige“ begründete den Seitenwechsel, die Unterstützung für einen imperialistischen Krieg, die Verachtung für eine Anti-Kriegsbewegung, die den Pazifismus für eine bessere Antwort hält, als eine Kriegslogik, die Diktaturen nicht beseitigt, weil sie ein Staatsverbrechen sind, sondern weil sie nicht (länger) ihre Interessen bedient.

Mit diesem Satz in Tornister begrüßten Linke den ersten Golfkrieg gegen den Irak 1991, gegen Saddam Hussein, der plötzlich „Hitlers Wiedergänger“ (Hans Magnus Enzensberger) wurde. Auf diese abgedrehte Weise unterstützte diese bellizistische Linke nicht einen hundsgewöhnlichen imperialistischen Krieg, sondern wähnte sich so gut wie in einem antifaschistischen Kampf.

 

Die Grundfigur für die kommenden Jahrzehnte war gelegt: Ganz grundsätzlich ist man irgendwie gegen Imperialismus und Post-Kolonialismus, irgendwie auch gegen den Kapitalismus. Aber wenn etwas noch Schlimmeres droht (Saddam Hussein/Al Kaida/Trump/ Bolsonaro), dann ist das eigentliche Falsche das jetzt Richtige.

Dieser Paradigmenwechsel wiederholte sich nochmal mit 9/11: Angesichts des islamistischen Terrorismus 2001ff gehe es darum, den Kapitalismus gegen etwas noch Schlimmeres zu verteidigen.

 

 

Aus dem Kapitalismus wurde eine Errungenschaft, die man gegen vorkapitalistische Zustände verteidigen müsse. So wenig wie 1991, so wenig war auch um 9/11 herum eine linke Überzeugung tragend, dass man für etwas eintritt, was weder mit dem US-Imperium, mit Saddam Hussein noch dem Islamismus zu tun hat.

Es geht nur noch um das Bessere im „eigentlich Falschen“.

Diesen „neuen“ Maßstab sehe ich auch in dem Verhalten der (außer-)parlamentarischen Linke in den gegenwärtigen Corona-Zeiten: Man entscheidet sich nicht mehr gegen Merkel, gegen Bolsonaro und Trump, sondern zwischen Merkel und Trump.

Man treibt die Spannung sicherlich nicht auf die Spitze, wenn man hier nicht verrät, wer die Stichwahl gewonnen hat.

Apropos Sterblichkeit

Wenn man den Virologen die Politik überließe, könnte man sagen: Eine signifikante Immunschwäche gegen das Konformismusvirus hat sich bei der Partei DIE LINKE gezeigt: Bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen am 13. September 2020 kam es zu einer Übersterblichkeitsrate von etwa 20 Prozent (3,8 Prozent gegenüber 4,6 Prozent im Jahr 2014), während man beim Virus COVID-19 in Deutschland nur im April 2020 eine leichte Übersterblichkeit registriert hatte, die in den Folgemonaten wieder verschwand.

Wenn Virologen tatsächlich nur den „Stoff“ liefern, mit dem Politik gemacht wird, ließe sich das Ergebnis der Kommunalwahlen in NRW so deuten:

Die Partei LINKE wird immer weniger als Opposition/Alternative wahrgenommen, sondern als eine Partei, die weitgehend konform mit den Corona-Maßnahmen geht und alle Züge einer Mit-Regierungspartei in spe zeigt. Diese „Regierungstauglichkeit“ muss sie auch beweisen, wenn sie vieles/alles dem Ziel unterordnet, Teil einer (rot-rot-grünen) Regierungskoalition zu werden, die die Bundestagswahlen 2021 gewinnen will.

Wolf Wetzel

Publiziert bei Telepolis | Teil 2 am 26. September 2020: https://www.heise.de/tp/features/Ausnahmezustaende-verschwinden-nicht-sondern-verwandeln-sich-in-eine-neue-Form-des-Normalzustandes-4908962.html

 

Quellen und Hinweise:

System Reset. Über das Verdämmern linker Kapitalismuskritik in der Corona-Krise. Von Felix Klopotek, Konkret, August 2020

Corona-Maßnahmen: Aktenzeichen XY unbekannt, SZ vom 11.09.2020

Big Pharma. Die Allmacht der Konzerne, Claire Lasko und Luc Hermann, Frankreich 2018. In der Arte-Bibliothek abrufbar: https://www.arte.tv/de/videos/085428-000-A/big-pharma/

Vor 50 Jahren: Bundestag beschließt Notstandsgesetze: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2018/kw21-kalenderblatt-notstandsgesetze-556672

Bis zur Grenze des Rechtsstaats. Wie die Bundesregierung 1977 mit dem Terror der Rote Armee Fraktion umging, Wolfgang Kraushaar vom 16.10.2017: https://www.deutschland.de/de/topic/politik/bis-zur-grenze-des-rechtsstaats

Der ganz normale Ausnahmezustand. Antiterrorismus nach dem 11. 9. 2001: auf dem Weg in den präventiv-autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat, Rolf Gössner, Junge Welt vom 11.09.2006

 

Missing Link: Grundrechtsabbau fürs “Staatswohl” – 50 Jahre Notstandsgesetze. Gegner verlieren im Parlament und vor Gericht, Detlef Borchers, Telepolis vom 27.05.2018: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Missing-Link-Grundrechtsabbau-fuers-Staatswohl-50-Jahre-Notstandsgesetze-4059232.html?seite=all

Gefahr im Verzuge. Zur Problematik der Notstandsgesetzgebung, Mit einer Einleitung von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, res novae 1963

„Die Nacht-und-Nebel-Aktion der Bundesanwaltschaft gegen das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im Oktober 1962 löste erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine spontane Protestbewegung aus. War das nicht ein Angriff auf die Pressefreiheit oder eine Art Notstandsübung, wie sie sich die Bundesregierung durch die geplanten Notstandsgesetze absichern lassen wollte? So dachte auch eine Debattierrunde in einer Frankfurter Kneipe. Mit von der Partie waren EVA-Geschäftsführer Hans Riepl und Jürgen Seifert. Der hatte gerade sein Assessor-Examen bestanden und schickte sich an, Assistent im Fach Politische Wissenschaft an der TH Darmstadt zu werden. „Wir hatten darüber diskutiert, daß schleunigst ein Text gegen die Notstandsgesetzentwürfe von Innenminister Schröder veröffentlicht werden müsse“, schildert Seifert das Treffen, „wir sind auch durchgegangen, wer einen Beitrag schreiben könnte. Als ich sechs Wochen später bei Riepl anrief, was aus dem Projekt geworden sei, kam die Antwort: ‚Nichts‘ und die Gegenfrage: ‚Willst du das nicht machen?‘“. Als das Manuskript im März 1963 vorlag, tauchten neue Probleme auf. Riepl wollte das Buch nur drucken, wenn die IG-Metall eine Teilauflage abnahm. Seifert, der frühere SDS-Vorsitzende, war aber gerade aus der SPD ausgeschlossen worden und das war für die IG-Metall „ein Politikum“. Von einer Veröffentlichung unter Pseudonym hielt Riepl nicht. Aber er wußte Rat: „Wenn Fritz Bauer ein Vorwort schreibt, dann kann Otto Brenner das machen.“ Mit dem Vorwort des Hessischen Generalstaatsanwaltes wurde das Buch gedruckt und die ersten 1000 Exemplare bei der IG Metall angeliefert. Doch jetzt entdeckte ein Redakteur des Metaller-Organs „Gewerkschafter“ einen Schönheitsfehler, Seifert hatte nicht entsprechend der damaligen Gewerkschaftslinie auf unbedingte Ablehnung einer Notstandsregelung bestanden, sondern Konturen einer Rückzugslinie angedeutet. „Da lautete die erste Anordnung: ‚Ab in den Keller!‘“, schildert Seifert (in einem Interview am 10. Juli 1995) die wechselvolle Geschichte seines ersten Buchs, „aber dann kam der zweite Vorsitzende Wöhle und sagte, er habe ein tolles Buch gelesen, ‚da steht alles drin, was wird brauchen‘.“ Also wurden die Bücher wieder aus dem Keler hervorgeholt und gleichzeitig eine Nachauflage von 2000 weiteren Exemplaren beim Verlag bestellt. Bald verlangten auch andere Gewerkschaften Organisationsausgaben, so daß schließlich in vier Auflagen 15 000 Exemplare verkauft wurden. Für den IG-Metall-Vorsitzenden Otto Brenner war dieses Buch ein weiterer Grund, über eine Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Gewerkschaftern nachzudenken. Um publizistische Wirkung zu erzielen, brauchte man einen unabhängigen Verlag, in dem engagierte Wissenschaftler und auch Gewerkschafter kooperieren konnten. War die EVA nicht genau der richtige Verlag dafür?“ („Mit Lizenz“. Geschichte der Europäischen Verlagsanstalt 1946 – 1996. Texte Kurt Groenewold, Irmgard Heydorn und Klaus Körner, eingeleitet, mit einem Anhang versehen und herausgegeben von Sabine Groenewold, Hamburg 1996)

Chronik des Überwachungsstaates, netzpolitik. org vom 20.09.2017: https://netzpolitik.org/2017/chronik-des-ueberwachungsstaates/#vorschaltbanner

Richtig falsch, Hermann L. Gremliza, in Konkret (Ausgabe 3/1991)

Der US-alliierte Krieg gegen den Irak 1991: https://wolfwetzel.de/index.php/1991/12/17/der-us-alliierte-krieg-gegen-den-irak-1991/

 

Teil I veröffentlicht auf Telepolis am 20.9.2020: https://www.heise.de/tp/features/Die-Corona-Krise-Die-Linke-Und-die-Sterblichkeit-4906046.html

 

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