Über die Geschichte der Neuen Linken nach 1968, das autonome Intermezzo und den Zustand der Linken heute

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Über die Geschichte der Neuen Linken nach 1968, das autonome Intermezzo und den Zustand der Linken heute

Das Interview hatte sich buchstäblich aufgedrängt. Eine vorangegangene Diskussion über Corona, die Linke und andere Dilemmata hatte sehr viele Löcher offenbart. Aus welchen Erfahrungen heraus nimmt man eine bestimmte Haltung ein? Was versteht man unter einer Staatskritik? Wie abstrakt darf, wie konkret muss eine Kapitalismuskritik sein, um das „Primat“ der staatlichen Pandemiebekämpfung in Frage zu stellen? Und welche Rolle spielt eine Utopie bzw. ihre fast vollständige Abwesenheit?

So entstand die Idee, einen etwas größeren Bogen zu schlagen.

Wenn du die Risse im System nicht erkennst, läufst du gegen die Wand

Ein Interview mit Wolf Wetzel von Anne Koppenburger und Tom Schmidt

 

Anne Koppenburger und Tom Schmidt: Wann und wie bist du politisiert worden? Und auf welche Linke bist du damals dabei gestoßen?

Wolf Wetzel: Das war 1970. Es fand eine der letzten Demonstrationen gegen den Angriffskrieg der USA in Vietnam statt. Und in Offenbach, da bin ich zur Schule gegangen, gab es eine US-Kaserne. Wir waren damals im Gymnasium und haben gedacht, das kann nicht falsch sein. Ich muss ehrlich sagen, ich wusste nicht viel über den US-Imperialismus. Wenn ich ehrlich bin, ich wusste nicht einmal, wo Vietnam liegt.

Aber ich glaube, der wirksamste und treueste Zugang war über Freunde, die mir gesagt haben: „Da ist eine Demonstration, komm doch mit, wir gehen da auch hin!“ Und da war ich dann auch, hatte keine Ahnung, was passiert, und irgendwie ist die aufgelöst worden, aber ich habe das viel zu spät mitgekriegt. Sprich, die Wasserwerfer haben mich weggeblasen. Ich habe damals noch bei meinen Eltern gelebt. Mein Vater war in der SS, mit 16 Jahren hat er sich „freiwillig“ zur Waffen-SS gemeldet. Ich wusste das wird der Horror: Wie komme ich an einem strahlend sonnigen Tag völlig durchnässt und verschmutzt nach Hause – wie erkläre ich das? Ohne dass ich damals wirklich wusste, was die SS ist. Mein Vater hat mir immer von Kriegsberichten erzählt. Das war ganz toll und ich fand meinen Vater auch ganz toll, weil er ganz abenteuerliche Geschichten erzählt hat. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie es ausgegangen ist – also verprügelt wurde ich nicht und ich habe jetzt auch keine schreckliche Erinnerung daran.

Und weil ihr gefragt habt, in welcher Zeit ich politisiert wurde und auf was für eine Linke ich gestoßen bin – ach, da könnten einem die Tränen kommen –; damals hat man das natürlich als normal wahrgenommen. Wenn ich jetzt 50 Jahre zurückschaue, dann war das eine Traumlandschaft für jeden, der politisiert werden wollte. Für Jeden, der nicht mit dem leben will, was er vorfindet oder was die Eltern ihm vorgeben, ist diese Post-68er-Zeit eine Traumzeit gewesen. Sowohl die Schulkameraden, die alle ein bisschen rebellisch waren, lange Haare hatten, Parker trugen und gekifft haben, als auch die politisierte Stimmung waren für mich unglaublich beeindruckend und lagen jenseits dessen, was ich mir später an Theorie draufgeladen habe. Ich habe dann verstanden, wo Vietnam liegt und warum dieser US-Krieg in Vietnam ein Kriegsverbrechen war. Aber von den Freundschaften und davon, wie die Einzelnen miteinander umgegangen sind – im Gegensatz zu meinen Eltern – war ich fasziniert und bin so auch in die ersten Wohngemeinschaften gekommen. Für mich war diese Welt eine Traumlandschaft. Meine Eltern lebten brav in ihrer Dreizimmer-Kastenwohnung – eine ganz fürchterliche Ehe. Dann kommst du plötzlich in eine WG, wo die Matratzen auf dem Boden liegen und die Leute noch um zwölf im Bett liegen.

Wie hat dich dann dein Weg zu den Autonomen gebracht? Und wie hast du diesen Übergang von den Siebzigern in die frühen Achtziger erlebt?

Man fragt sich ja tatsächlich, wie bin ich zu den Autonomen gekommen? Warum gab’s die überhaupt? Es gab ja so viele Linke damals. Es ist ja nicht wie heute, dass du das Gefühl hast, da sind drei linke und die haben 27 Meinungen, sondern damals war es umgekehrt. Damals gab es 27 verschiedene Sorten von Linken, Antiimperialisten und Anarchisten. Damals waren in Frankfurt die Spontis ganz stark, die sich traditionell gegen kommunistische, gegen hierarchische Strukturen gewehrt haben, vor allem gegen hierarchische, zentralistische Strukturen. Ich glaube, sie waren nicht gegen den Kommunismus, aber gegen den Kommunismus, den wir von der DDR kannten und von dem wir erahnten, dass er ziemlich spießig und nicht das Land unserer Träume ist. Die 68er-Generation hat sich ja dann gespalten. Anfang der 1970er, in der Zeit, in der ich politisiert wurde, war dieser Zerfallsprozess sehr stark. Ein Teil ging in diese Parteiorganisationen, von denen es mindestens 20 Versionen gab: vom Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), der maoistisch geprägt war, bis zu den Trotzkisten, die damals auch stark waren. Wir fanden Letztere, als eine von den Splittergruppen recht spannend, vor allem als wir uns später mit der russischen Revolution auseinandergesetzt haben. Dann gab es noch die anarchistische Bewegung, die hat uns natürlich ganz besonders gefallen, weil sie in unserer Vorstellung mit unserem Lebensgefühl am engsten verbunden war. Wobei ich auch sagen muss, wir haben den Anarchismus auch eher so verstanden, wie die Bild-Zeitung ihn versteht: wild, gefährlich, chaotisch, alles durcheinander, kiffen, Steine werfen, Bomben bauen, vögeln.

Die Leute waren natürlich auf jeden Fall sympathisch. Ein zentraler Punkt für unsere Generation war dieses antiautoritäre Moment: also keiner Herrschaft, auch keiner guten zu vertrauen; keinem Führer zu vertrauen, auch keinem guten, sondern ohne Führer auszukommen; sich selbst zu artikulieren und möglichst basisdemokratische Strukturen aufzubauen.

In Frankfurt hatten wir Glück, innerhalb dieses Zerfallprozesses der 68er formierten sich hier die sogenannten Spontis. Die sind entstanden aus der Kritik sowohl an der Sozialdemokratie als auch an der DKP, die für sie viel zu spießig und bürgerlich war – was ihre Politikvorstellungen anging. Auf der anderen Seite gab es schon damals eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, von der wir allerdings wenig wussten.

Ich glaube, da lag die 68er-Bewegung schon brach, den Prager Frühling hatte es bereits gegeben. Wir haben das eher intuitiv, gefühlsmäßig mitbekommen. Die Linken, die schon aktiv waren, die haben sich damit intensiv auseinandergesetzt und deswegen kam es ja auch zu diesen verschiedenen Ausdeutungen der kommunistischen Erfahrungen, von denen wir keine Ahnung hatten. Es gab in der Sowjetunion ein paar Jahrzehnte Erfahrung, es gab die Erfahrungen in der DDR, es gab die Erfahrungen in den Ostblockstaaten, von denen wir nichts wussten. Wir wussten nur, dass es offensichtlich auf die Krisen und Kritik innerhalb der kommunistischen Bewegung verschiedene Antworten gibt. Wir haben uns damals eher den antiautoritären Tendenzen verschrieben.

So kam die Geschichte der Autonomia – also der Italienischen militanten Neuen Linken –, ohne dass wir sie gut kannten, in der Gestalt der Spontis nach Deutschland, die selbst – jetzt kommt diese Ambivalenz, die völlig verrückt ist – sehr kadermäßig organisiert waren. Ein Teil der Spontis hieß „Revolutionärer Kampf“ und hat Betriebsarbeit gemacht in den 1970er-Jahren. Die sind sehr organisiert in die Betriebe gegangen, hier im Rhein-Main-Gebiet waren es die Opel-Werke, und haben dort Innenkader gebildet. Man muss sich das heute vorstellen, das waren Kader, die für ein halbes Jahr in der Fabrik gearbeitet haben. Und dann gab es Außenkader, die das politisiert, analysiert und sozusagen vergesellschaftet haben. Nach einem halben Jahr hat man gewechselt. Es kam tatsächlich auch bei Opel zu wilden Streiks, die Gewerkschaft hat natürlich getobt ohne Ende. Diese Episode zeigt, dass klare, hierarchische, aber auch verdeckte Strukturen das spontaneistische Moment nicht ausschlossen. Ich kann mich in Deutschland mit Blick auf die letzten 50 Jahre nicht daran erinnern, dass eine Linke jemals wieder so klar probiert hat, diese Bezugnahme zur Arbeiterklasse nicht nur im Kopf und auf dem Papier zu vollziehen, sondern tatsächlich ihr Leben, ihr akademisches Leben aufs Spiel zu setzen, in die Fabrik zu gehen, dort Streiks zu organisieren, diese Erfahrungen aufzuarbeiten und das in einem Rahmen von einem revolutionären Konzept umzusetzen. Das war für mich sehr beeindruckend.

Ich muss ehrlich sagen, ich habe erst retrospektiv kapiert, dass diese zwei Elemente zusammengehen. Sowohl die klaren Strukturen, die sehr konsequent waren und meiner Meinung nach auch sehr beeindruckend, als auch ein Lebensstil, der die Vorstellung von Morgen, von dem was kommen muss, heute sichtbar macht. Das entsprach auch einer Kritik am Kommunismus, dessen auf die kommunistische Zukunft projiziertes Versprechen vom Paradies auf Erden wir für ein religiöses Versprechen hielten. Wir wollten nicht warten.

Diese verschiedenen Momente haben für mich eine entscheidende Rolle dabei gespielt, dass ich dann zu den Autonomen ging – wobei ich die Anarchisten auch sympathisch fand. Aber das hat natürlich auch etwas mit der Geschichte der Autonomia in Europa zu tun. Sie war in den 1970er-Jahren die stärkste massenmilitante Bewegung. Sie hatte eine Wucht, sie war unglaublich theoretisch fundiert, hatte aber auch eine Praxis, die sowohl in den Fabriken stattgefunden hat als auch in den Stadtteilen. Das war für uns total faszinierend. Wir konnten nach Italien fahren und an diesen Kämpfen teilnehmen – zumindest schnuppern. Bei Anarchisten war das ein Problem: Die schönste Zeit war die spanische Republik 1936–39 mit ganz tollen Leuten und ganz tollen Kämpfen – ja, aber das war uns zu weit weg und zu lange her und zu wenig Gegenwart. Deswegen, glaube ich, hat sich das dann hier mit der Idee der Autonomia ergeben.

Zwischen der Sponti-Szene und den Autonomen lag der deutsche Herbst und die Gründung der Grünen. Die nachfolgenden Kämpfe, die dann mit den Autonomen mobilisiert werden konnten, sind zahlenmäßig aus heutiger Sicht sehr beeindruckend: 100.000 in der Anti-AKW-Bewegung, 15.000 im Häuserkampf. Wie hast du damals das Verhältnis zwischen den Autonomen und den Grünen, die ja auch teilweise aus der Generation der Spontis stammten, wahrgenommen? Und wie erklärst du dir, dass die Grünen als parlamentarische Partei gestärkt aus dieser Zeit hervorgegangen ist und nicht eine gestärkte, organisierte autonome Szene?

Eine gute Bruchstelle, extrem wichtig, um Bewegungsgeschichte zu begreifen und warum meiner Meinung nach Bewegungsgeschichte nicht reicht. Das kann man eigentlich an der Partei der Grünen sehr gut festmachen. Ich hatte Glück, damals in Frankfurt zu leben. Dort hatte ja von 1970–74 der für uns tollste Häuserkampf überhaupt stattgefunden. Da waren 10.000–15.000 Leute in sehr guten, nicht hierarchischen, aber klaren Strukturen organisiert. Da gab es den Häuserrat, der verschiedene Gruppierungen von besetzten Häusern zusammengefasst hat, und den ‚Revolutionären Kampf‘ (RK), der ein bisschen wie eine Partei war. Die haben zwar die Bewegung unterstützt, aber sie waren nicht Teil der Bewegung. Und ich glaube, wenn ich jetzt gerade so darüber nachdenke, das war immer etwas, was mich beeindruckt hat.

Es braucht Strukturen, die eine Bewegung überdauern, die nicht von einer Bewegung abhängig sind, auch nicht von Bewegungslaunen getrieben werden, sondern von der Erfahrung, die vielleicht viele andere davor gemacht haben. Gleichzeitig darfst du nicht nur Partei sein, sondern du musst Bewegung sein; also dort sein wo Leute einfach die Schnauze voll haben und aufbegehren und Erfahrungen machen; sie davon überzeugen, dass das, worüber wir nachdenken, was wir wollen, gut ist. Es braucht beides. Bei den Spontis stellte sich nach dem Ende des Häuserkampfs – und das ist ja immer in jedem Bewegungszyklus so – die Frage: Was machst du? Was nun? Ein großer Teil kehrte einfach dahin zurück, wogegen er aufbegehrt hatte, und fiel gar nicht mehr auf. Zu sagen, dass da alle “umgekippt” sind, wäre unfair. Nein, das ist immer bei Bewegungen so, 90% kehren dahin zurück, wo sie mal waren. Wenn du in den 1970er- und 80er-Jahren eine militante Geschichte hattest, dann war das der Zugang in den Kulturbereich, weil du irgendetwas Bizarres mitbringen musstest. Ein kleiner Teil der Spontis hat natürlich gesagt: „Naja, wir wollen weiterhin politisch aktiv sein, aber gut, das mit dem Häuserkampf und dem Kampf auf der Straße und außerparlamentarisch – das hat nix gebracht, also tragen wir den Kampf in die Parlamente.“ Das war zum Teil ihr Slogan: „Die Kämpfe sind nur dann erfolgreich, wenn sie auch im Parlament eine Vertretung haben.“ Da entstand dann die Konstruktion des Spielbeins und des Standbeins innerhalb der Grünen. Und wie ihr ja wisst, haben sie ein Bein ganz verloren und von dem anderen wissen sie nichts mehr, haben also nur noch Phantomschmerzen. Es waren so viele Spontis bei der Gründung der Grünen in Frankfurt beteiligt, Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und so weiter, dass sie gesagt haben: „Wir wollen nicht die Strukturen des Parlamentarismus wiederholen und reproduzieren, also hierarchische Strukturen, Delegationen und entsprechenden Entfremdung, sondern wir wollen basisdemokratische Strukturen.“

Wenn das heutige Grüne hören, denken sie an einen Putsch, den Kommunismus. Aber nein, das war ihre Gründungsidee! Damit haben sie natürlich relativ viele Leute gewinnen können. Interessante Idee von den Grünen – und das ist alles baden gegangen. Diese Wandlung haben wir in Frankfurt sehr konkret mitbekommen. Und irgendwann sind sie uns als politische Gegner entgegengetreten. Und das war schon in den 80er-Jahren, in der Startbahnbewegung, in der Häuserkampfbewegung. Da waren die Grünen nicht irgendwie unsere Unterstützer oder unsere Händchenhalter, sondern sie waren politische Gegner und ich würde auch sagen: zu Recht.

Du meintest, du hast die Einsicht, dass man Parlament und Bewegung braucht, damals schon gehabt. Trotzdem wurde sie nicht von den Autonomen, sondern von den Grünen erfolgreich umgesetzt. Warum war das so und wann ist dort etwas gekippt?

Das Erste ist der parlamentarische Weg, den die Grünen gegangen sind, auf dem sie dann ihr Standbein verloren oder sogar verbrannt haben. Man muss daran denken, es gab unglaublich viele Bewegungen: die Frauenbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung, die antimilitaristische Bewegung, die Antikriegsbewegung etc. Und keine Partei hatte einen Zugriff darauf. Die Grünen haben sich sozusagen zum Sprecher der außerparlamentarischen Bewegung gemacht. Das war für die Herrschenden ideal. Denn sie hatten natürlich ihre Wasserwerfer und sie haben natürlich auch Polizeieinheiten hoch aufgerüstet. Aber natürlich waren sie auch so klug, zu erkennen, dass sie damit die Jugend nicht wirklich erreichen. Es braucht auch ein Angebot neben der reinen Repression. Die Grünen wurden dieses Angebot. Und umgekehrt, weil ihr gefragt habt, wann es gekippt ist: Wir hatten einen Kongress 1986 in Frankfurt und da haben wir thematisiert, dass es so nicht weitergeht; dass der Zenit der autonomen Bewegung als Bewegung überschritten ist; dass wir mit der Repression nicht Schritt halten können. Es ist eine ziemlich massive Repression ausgeübt worden, die natürlich Wirkung hinterlassen hatte. Auf der anderen Seite waren die Strukturen der Bewegung nicht in der Lage, mit dem, was da auf uns zukam, zurechtzukommen. Autonome waren jetzt auch nicht gerade Universitätstüftler. Es gab ein paar, die mit Theorie etwas anfangen konnten, aber der große Teil, der hat sich das mit Mühe und Not angehört. Ja, diese Reflexion darauf, was gerade passiert, hat zu wenig stattgefunden. Man hätte tatsächlich, um zurückzukommen auf die ursprüngliche Idee, etwas finden müssen – organisatorische Strukturen – die nicht unbedingt Bewegung sind.

Das Interview wurde am 12. Februar 2021 von Tom Schmidt und Anne Koppenburger geführt. Sie sind Mitglieder der Platypus Affiliated Society.

Ich möchte mich ausdrücklich für diese Idee, die Zeit und die viele Arbeit bedanken, die sich Tom Schmidt und Anne Koppenburger gemacht haben, um das doch sehr lange Gespräch in eine überschaubare Fassung zu bringen.

Teil II folgt.

 

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