„Ich bezichtige Sie (also den Verfassungsschutz, d.V.) nicht, die Selbstmorde begangen zu haben.“

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Vom NSU zu Hanau-Morden: Tatort Hessen und die Rolle des Verfassungsschutzes – Interview mit Wolf Wetzel/Sputnik

 

„Ich bezichtige Sie (also den Verfassungsschutz, d.V.) nicht, die Selbstmorde begangen zu haben.“

„Hanau ist nur ein Beispiel für rechtsextreme Morde im Bundesland Hessen. Besonders brisant sind die Morde an Halit Yozgat 2006 und an Walter Lübke 2019. Als Verbindung zwischen den Fällen sieht der Rechtsextremismusexperte Wolf Wetzel den Verfassungsschutz.

Tatort Hessen: Tobias Rathjen erschießt neun Menschen mit Migrationshintergrund aus Rassenhass. Stefan Ernst gesteht, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke aus rassistischen Gründen erschossen zu haben. In Wächtersbach schießt ein Deutscher aus rassistischen Gründen auf einen Mann aus Eritrea. Diese Fälle haben sich innerhalb von weniger als einem Jahr ereignet. Im Bundesland Hessen. Über die dortige rechtsextreme Szene sowie die Geschichte dahinter sprach Sputnik mit dem Investigativjournalisten und Autor Wolf Wetzel.

Er sieht in Hessen Verbindungen von Verfassungsschutz und Tätern. In seinem Buch der „NSU-VS-Komplex“ setzt er sich ausführlich mit einem bestimmten Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen auseinander: Andreas Temme. Um diese Person sowie um einen Mord von 2006, der dem NSU-Duo Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zugerechnet wird, geht es im folgenden Interview.

Hier ein paar verschriftlichte Auszüge und ein doppelsinniges Nachwort

– Herr Wetzel, ich habe mir an einem Freitag Ihr Buch „Der NSU-VS-Komplex“ bestellt, am Samstag war es da, am Sonntag habe ich es gelesen – immerhin zu drei Vierteln, aber das hat mir schon gereicht, um mir die Laune zu verderben. Das ist schon harte Kost, die Sie da recherchiert haben.

Das ist für mich selbst mitunter die größte Anstrengung. Denn wenn man nur grob draufguckt, kann man sagen, ja Rassismus gibt es immer, und natürlich gibt es braune und schwarze Schafe in der Polizei oder im Geheimdienst. Dann werden Fehler gemacht. Also all die Beschwichtigungen, die ich seit 40 Jahren höre. Wenn man sich genau damit beschäftigt, dann muss man feststellen, dass das allerwenigste eine Panne war, dass das allerwenigste Zufälle waren, sondern dass es geradezu systematisch war. Es musste so kommen: Kassel 2006, die Ermordung des Internetcafébesitzers und die Art der Aufklärung bzw. der Nicht-Aufklärung führte direkt zu dem Mord in Kassel 2019 an dem Regierungspräsidenten. Wenn man schaut, was 2006 unterlassen wurde, was 2019 mitermöglicht hat, dann wird es einem schwarz oder braun vor den Augen.

– Im Buch bezichtigen Sie Vertreter staatlicher Zellen, selbst Morde durchgeführt zu haben oder Morde zumindest toleriert zu haben. Das sind mächtige Feinde, mit denen Sie sich da anlegen. Fürchten Sie manchmal um Ihre eigene Sicherheit?

Zum ersten Vorwurf: Ich habe dem Verfassungsschutz in Köln selbst geschrieben, weil ich ja weiß, dass sie Veranstaltungen, die ich mache, überwachen. Und ich habe geschrieben: Ich bezichtige Sie nicht, die Selbstmorde begangen zu haben. Das kann man ganz schwer nachweisen. Bei Andreas Temme in Kassel 2006 wäre das zumindest eine sehr realistische Option. Aber das viel Entscheidendere ist, dass der Verfassungsschutz absolut tatbegünstigend ist. Das heißt, indem er die Neonazis als V-Leute schützt, indem er Beweise beiseiteschafft, indem er falsche Fährten legt und denen nachgeht, bestärkt er die neonazistische Szene, was letztendlich auch zu Morden führt.

Was die Bedrohung angeht, hat man es automatisch mit beiden Seiten zu tun.

 

Der Verfassungsschutz erklärt, dass er mich überwacht, weil ich Bestrebungen nachgehe, die die Bundesrepublik mit meinen Recherchen und meinem Tun zerstören sollen.

 

 

Und von der anderen Seite gibt es vom NSU 2.0 eine Morddrohung, die Zahlreiche, Dutzende erhalten haben – Journalisten, Politiker, Rechtsanwälte etc. Von daher ist es gerade kein wunderschönes Dasein.

– Sie haben den Mord von Halid Yozgat in Kassel im Jahr 2006 angesprochen. Das ist deswegen ein besonderer Mord, weil der Verfassungsschützer Andreas Temme dort selbst vor Ort gewesen sein soll. Beschreiben Sie kurz die Szene und wie Temme sich dazu äußert.

Das ist eine Schlüsselszene. Da lohnt es sich nochmal, wenn man auf den Lübcke-Mord auch in Kassel 2019 zurückkommt und sieht, wie irrsinnig dasselbe Personal an diesem Geschehen beteiligt war. Sowohl von Seiten des Verfassungsschutzes als auch von Seiten der Neonaziszene, die sich da nicht groß ändert. 2006 wird der neunte Mord in Kassel begangen, an dem Internetcafébesitzer. Das zu einer Zeit, als vier oder fünf andere Besucher da sind – unter anderem, Andreas Temme, ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der in Kassel seinen Sitz hat. Der in der Jugend als „Klein Adolf“ bezeichnet wurde. Der war dort auch in dem Internetcafé. Man kann relativ sicher konstruieren, dass er den Mord mitbekommen haben muss. Denn als der Internetcafébesitzer schon schwer verletzt hinter der Theke liegt, legt er ein Geldstück auf den Tisch und geht.

– Gibt es davon Videoaufnahmen?

Es gibt eine Rekonstruktion, eine Untersuchung. Das haben die Angehörigen in die Wege geleitet, um das Ganze minutiös darzustellen. Und die kommen zu demselben Ergebnis: Es ist fast unmöglich, von dem Mord nichts mitbekommen zu haben.

Und es gibt zahlreiche andere Indizien. Die Aussagen von Zeugen, dass er eine Plastiktüte dabeihatte. Man muss dazu sagen, die Plastiktüte wird immer verwendet im Kontext der Morde, damit die Hülsen nicht zurückbleiben, sondern in der Plastiktüte mitgenommen werden können. Es gibt abgehörte Telefonate zwischen ihm und seinem Vorgesetzten, wo im Telefonat gesagt wird: Ich sage Ihnen doch immer, wenn sie von einem Mord wissen, dann gehen sie da nicht hin.

– Was schon deswegen eine explizite Aussage ist, weil es ja bedeutet, dass der Verfassungsschutz von Morden weiß und die Tatorte meidet.

Das ist natürlich das Entscheidende, wie sie vom Tatort wissen. Diese Aussage zwischen dem Vorgesetzten und ihm wurde übrigens von der Polizei abgehört, die tatsächlich hier ermittelt hat. Da können wir mal darauf zurückkommen, wegen, naja, die Polizei ist immer rassistisch und die verdeckt alles. Es ist etwas komplizierter, und es lohnt sich, da hinzugucken. Bei dieser Aussage, die später als flapsig bezeichnet wurde, die aber natürlich voraussetzt, dass er von dem Ablauf weiß und es wird später in weiteren abgehörten Telefonaten dokumentiert, da wird von einer Kasseler Problematik gesprochen, ‚in der du – also Andreas Temme – auch drinsteckst‘. Das heißt, es wissen die Vorgesetzten von mehr als von dem, was in dem Internetcafé passiert, womit Andreas Temme zu tun hat – unter anderem mit dem Neonazi, der zum NSU-Netzwerk gehört. Mit dem telefonierte er am Mordtag rein zufällig zwei Mal. Vor der Tat und nach der Tat. Die Akte von Benjamin Gärtner verschwindet. Die Akte verschwindet, in der er die Gespräche und alles, was Temme sammelt, dokumentiert. Also, all das spricht extrem dafür, dass der Vorgang, der uns offiziell geliefert wird, hanebüchen und falsch ist und dass etwas gedeckt werden muss.

– Ich weiß nicht, wie viele Internetcafés es in Kassel gibt, ich schätze sie auf mehrere hundert. Temme saß in einem davon. Dann passiert dort ein Mord, der dem rechtsextremistischen Spektrum zugeschrieben wird. Temme ist selbst Verfassungsschützer im rechtsextremen Bereich. Die Indizienkette liegt auf der Hand. Aber Sie sprechen ja auch von der Plastiktüte, in der die Waffe drin war, mit der dann geschossen wurde. Bedeutet es, dass Sie davon ausgehen, dass Temme der Täter ist?

Nein, ob in der Plastiktüte die Waffe war oder nicht, kann man nicht sagen. Aber diese gehört zu dem Fall. Mehr nicht. Es gibt Schmauchspuren bei ihm, an Handschuhen, die bei seinen Eltern gefunden wurden, wo das BKA sagt, die sind irrelevant, weil Temme Sportschütze war. Der Witz ist, (…) die Munition, die dort verwendet wurde, ist nicht identisch mit den Schmauchspuren, die auf diesen Handschuhen gefunden wurden. Warum geht man dieser Spur nicht nach?

– Die Kasseler Polizei hat dann ermittelt, Temme ist ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Wann verlor sich die Spur?

Die verlor sich gar nicht. Die Spur wurde buchstäblich abgelöscht. Dann kam das Innenministerium und Volker Bouffier dazu. Jetzt muss man wissen, dass Innenminister Bouffier oberster Dienstherr des Verfassungsschutzes und gleichzeitig oberster Dienstherr der Polizei ist. Er muss immer abwägen, ob Verfassungsschutzinteressen überwiegen oder Polizeiinteressen – in diesem Fall die Aufklärung des Mordes. Und die Polizei wollte, als Temme ihnen immer suspekter wurde und sie mitbekommen haben, dass er Neonazi ist und V-Leute geführt hat, wollten sie ihn und die V-Leute vernehmen und möglichst viele Akten sammeln, die in dem Kontext wichtig waren. Dann hat Volker Bouffier gesagt, dass das Staatswohl in Gefahr sei, wenn diesem Verlangen der Polizei stattgegeben würde und dass aus Staatsinteresse und aus Gründen der Staatsräson es abgelehnt wird. Man muss auch wissen, es sind in dem Kontext zahlreiche Akten verschwunden. Wobei man genau das verhindert hat, was man bis heute immer behauptet: man wolle die Aufklärung. Bouffier hat damals die Polizei gestoppt.

Es wurde ja der SOKO-Chef Gerhard Hoffmann im parlamentarischen Untersuchungsausschuss gefragt: Sie haben ja ermittelt und Andreas Temme war ihnen verdächtig genug. Warum kommen sie an ihn, an die Unterlagen und Akten nicht ran? Er sagte: Da komme ich eben nicht ran, das ist eben so. Verfassungsschutzinteressen obsiegen in den meisten Fällen gegenüber den polizeilichen Interessen. Dann fragt der Parlamentarier, aber selbst wenn eine Leiche neben ihm liegt, neben dem Verfassungsschutzmitarbeiter? Und dann sagt der SOKO-Chef Hoffmann: Dann erst recht. Wenn so ein SOKO-Chef vorm Parlamentarischen Untersuchungsausschuss die ganz klare Sabotage des Verfassungsschutzes beim Aufklären eines Mordes belegt und das mit dem hochkarätigen Wissen, dann kann man sich vorstellen, was in Kassel 2006 verdeckt werden sollte.

– Das meiste, was Sie sagen ist stichhaltig, aber Sie belegen es durch Quellen anderer Journalisten. Das heißt, das, was bei Ihnen zu lesen ist, ist auch in Zeitungen und Magazinen zu lesen und auf öffentlich zugänglichen Portalen. Was meinen Sie, warum schlägt es eigentlich gar keine Wellen?

Von den Fakten, in Kassel 2019 mit dem Mord des Regierungspräsidenten oder 2006 mit dem Internetcafébesitzer, würde es reichen, neu zu untersuchen, eine unabhängige Untersuchungskommission einzurichten und so weiter. Die Partei die Linke müsste eigentlich toben und alles in Gang setzen. Es gibt einen ganz entscheidenden Grund: Das ist die Staatsräson.

Wenn das in Kassel nicht stimmt und es gab auf irgendeine Weise eine Beihilfe zum Mord, Tatbegünstigung in Form von Verfassungsschutz, in Form von Leuten, die für den Verfassungsschutz arbeiten, dann verjährt es nicht. Das wissen die meisten nicht. Beihilfe zu Mord verjährt nicht.

Das heißt, wenn in Kassel 2006 heute herauskommt, dass man bestimmte Sachen unterlassen hat, dass man bestimmte Neonazis, aus welchen Gründen auch immer, gedeckt hat, die Aufklärung in die falsche Richtung gelenkt hat, dann geht die Tür natürlich auf: Aus welchem Interesse macht es der Verfassungsschutz und war er eventuell auf eine Art und Weise involviert, die Beihilfe zu Mord als Vorwurf plausibel macht? Das wird im Fall Lübcke intern noch mehr Thema sein. Aber niemand würde das öffentlich äußern, und selbst wenn die SPD dagegen ist und es auch unglaubwürdig findet – es finden ja fast alle unglaubwürdig, aber sie wollen ja alle auch eine Regierungskoalition bilden.

– Steinmeier hat nach dem Attentat in Hanau betont, dass der Staat ALLES tun müsse, um Sicherheit zu gewährleisten und die Menschen zu schützen. Tut der Staat alles, um die Menschen im Land zu schützen?

Im Gegenteil. Ich hatte ja erklärt, wie die Aufklärung 2006 stattfand. Man muss sich ja das mal in Erinnerung rufen. Obwohl damals die Polizei ausgezeichnet ermittelt hat, hat man die Tat 2006 in eine Tat verwandelt unter Kriminellen – in eine Ausländerkriminalität. Das hat man 2006 gemacht. Man weiß seit 2011, dass alles erstunken und erlogen wurde. Auch bei den anderen Tatorten. Wo bleibt die politische Konsequenz dabei für eine Ermittlung, die nicht pannenhaft war, sondern vorsätzlich falsch. Wenn man alles tun würde, oder wollte, wie Steinmeier erklärt hatte, dann gibt es doch ganz einfache Lösungen. Der geheime Bericht, der über den Verfassungsschutz in Hessen erstellt wurde und für 120 Jahre weggesperrt werden soll, den morgen öffentlich machen. Wenn man alles macht, dann wäre es der erste sichere Beweis dafür, schaut her, das ist das, was wir wissen. Wenn sich das deckt mit dem, was wir 2006 ermittelt haben und mit dem, was wir 2012 ermittelt haben, dann findet sich das in diesem geheimen Bericht wieder. Warum versteckt man den 120 Jahre lang?

Warum geht man nicht die Akten durch zu Stefan Ernst, der seit Kassel 2006 bekannt ist, als wichtiger Neonazi, der 13 Jahre später nach Eigenbekundungen den Regierungspräsidenten Lübcke umgebracht hat.

 

Es gibt eine Akte über ihn beim Verfassungsschutz, weil, er ist stadtbekannt und ein führender Neonazi in Kassel. Warum ist die Akte verschwunden? Warum geht man dem nicht nach?

– Auch hier gibt es eine Verbindung zu Temme. Die beiden haben sich gekannt. Sie haben miteinander gesprochen. Andreas Temme arbeitete vor dem Tod des Regierungspräsidenten in genau der Behörde des Regierungspräsidenten. Ist das korrekt?

Ja, ich glaube, wenn man jetzt die Reaktionen so nimmt, die auf den Lübcke-Mord folgen, dann gibt es natürlich einen gravierenden Unterschied. Das ist der erste Politiker, der nach 1945 in Deutschland ermordet wurde. In den zwanziger Jahren war das auch eine Strategie von faschistischen Gruppierungen. Da haben sie auch, genauso ähnlich wie Lübcke, haben sie rechtskonservative Politiker angegriffen und ermordet, um die, die sich vom Faschismus distanzieren, um diese unter Druck zu setzen. Das ist klar, dass nach dem Mord an Lübcke hinter den Kulissen einiges getan wird, weil, wenn die eigenen Politiker in Gefahr sind, wir um ihr Leben bangen müssen, dann ist es nochmal etwas ganz Anderes, als wenn Migranten umgebracht werden. Und deswegen ist es sehr spannend, was da tatsächlich bei der Aufklärung vom Lübcke-Mord passiert.

– Der Täter ist gefunden. Davon gehen die Ermittler aus. Es ist der vorhin angesprochene Stefan Ernst. Er hat auch gestanden. Das Geständnis ist mittlerweile widerrufen. Und mit der Widerrufung des Geständnisses fiel auch die Einzeltätertheorie. Die aktuelle Version ist, dass er mit einem befreundeten Neonazi zum Haus gefahren ist und sie gemeinsam mit Lücke gesprochen haben. Wie stehen Sie zu dieser Einzeltätertheorie?

Wenn man jeden Polizisten fragen würde, am Anfang der Ermittlungen und die würden dann sagen Einzeltäter, dann brauchen wir keine polizeilichen Ermittlungen führen. Das ist das erste, wo sich die absolute Vertuschung und Sabotage von Aufklärung wiederholt. Die Grundsätze von polizeilicher Ermittlungstätigkeit werden willentlich, bewusst außer Kraft gesetzt. Weil man ermittelt erstmal in alle Richtungen. Das zweite ist, man muss gar nicht Wochen, monatelang eruieren, etwas herausfinden, wer Stefan Ernst ist. Der Verfassungsschutz hat eine Akte über ihn, weil er zu den stadtbekannten Neonazis gehört, die Kontakte nicht nur zu dieser Saufnazi-Szene, Kneipenszene und Hooligan-Szene hatte, sondern er hat gute, beste Kontakte zu Combat-18 (eine verbotene ehemalige rechtsextreme Vereinigung – Anm.d.Red.) – das Pendant zu NSU, die Terrorstrategie, Terror als Weg zum Erlangen ihres Zieles propagieren. Die gibt es seit 20 Jahren. Sie sind sehr gut organisiert, sie sind sehr konspirativ, und Stefan Ernst war noch bis 2019 dabei. Ich sage jetzt mal, dass der Verfassungsschutz die Geschichte und zwar die vernetzte, die organisierte Struktur von Stefan Ernst mit Neonazis in Kassel und darüber hinaus, dass sie das wissen und dass die Einzeltäterthese von vorneherein erlogen war und ermittlungstechnisch irrsinnig. Wenn ich nichts weiß und nach zwei Tagen wir eine Einzeltätertheorie verkünden, dann weiß ich, die ist falsch.

– Tobias Rathjen, der Attentäter von Hanau, über den ist vieles bekannt und auch wenig. Man kann sein Manifest auf gewissen Wegen bekommen. Man konnte auch sein Youtube-Video anschauen. Was wussten Sie über den Mann?

Also, ich verfolge das ja eher von der gesellschaftlichen, von der politischen Seite. Ich wusste von ihm nichts. Auch bei „Exif“ (eine Internet-Rechercheplattform – Anm.d.Red.) taucht er ja nicht auf. Das kann durchaus sein, das spricht nicht gegen seine Gefährlichkeit, dass er aus rassistischen Motiven gehandelt hat. Er braucht in keiner Gruppierung zu sein. Die gedankliche Munition kriegt er doch nicht nur bei Neonazis. Die kriegt er bei Seehofer, der bis zur letzten Patrone kämpfen will, damit keine weiteren Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Die können sich natürlich, ohne dass sie selbst organisiert sind, radikalisieren. So wie es viele Bürger gibt, die nicht organisiert sind und sich rassistisch oder sich antisemitisch äußern. Ich finde allerdings bei Hanau, wo dann Bouffier und andere erklären, ja, wir müssen jetzt die Unbekannten ins Visier nehmen, das finde ich eine ziemlich dreiste Fehlspur. Es reicht doch, wenn man mit den bekannten Neonazis anders umgeht. Man muss dazu auch sagen, hier hieß die CDU nicht umsonst jahrelang die Stahlhelm-Fraktion. Sie war politisch, ideologisch dem, was man rechten Rand nennt, so nah, dass man sich nicht wundern darf, warum so einer wie Andreas Temme, ein bekennender Rassist – vielleicht sogar mit faschistischer Ideologie angefüllt, warum so einer ein Verfassungsschutzmitarbeiter war. Bis heut gilt – das ist meine These, dass neofaschistische, neonazistische Strukturen auf irgendeine Art und Weise hilfreicher sind, oder man lässt sie, weil der Kampf gegen den Antifaschismus, der hat oberste Priorität. Man muss auch wissen, dass viele neonazistische Gruppierungen beschäftigen und binden natürlich auch ganz viele Antifaschisten, die sich damit auseinandersetzen, die Gegendemonstrationen organisieren. Also sie haben durchaus eine Funktion, zu paralysieren.“

https://de.sputniknews.com/gesellschaft/20200319326634247-vom-nsu-zu-hanau-morden-tatort-hessen-und-die-rolle-des-verfassungsschutzes–interview/

Komplettes Interview mit Wolf Wetzel zum Nachhören: https://soundcloud.com/sna-radio/tatort-hessen-und-die-rolle-des-verfassungsschutzes-interview-mit-wolf-wetzel

Nachwort:

Ein Freund hat mich auf folgenden Satz aufmerksam gemacht und gefragt, ob ich das wirklich so gesagt habe:

„Ich bezichtige Sie (also den Verfassungsschutz, d.V.) nicht, die Selbstmorde begangen zu haben.“

Ich habe mir daraufhin die Stelle noch einmal genau durchgelesen, insbesondere den Satz und musste schmunzeln … über den feinen, unbeabsichtigten Doppelsinn dieser Formulierung.

Es ist natürlich unsinnig, dem Verfassungsschutz die Selbstmorde anzuhängen. Und dennoch bekommt diese Formulierung einen Sinn, wenn man den „einvernehmlichen Selbstmord“ für den unwahrscheinlichen Tathergang hält. Dann ist es durchaus plausibel, dass der Geheimdienst an einer Selbstmordversion beteiligt ist, die einen anderen Tathergang verdecken soll.

Es gibt zahlreiche „Selbstmorde“ im Kontext neonazistischer Verbrechen bzw. im Zuge der „Aufklärung“.

Ich erinnere an den Förster und Inhaber von Dutzenden Waffendepots Heinz Lempke. Als 1981 die über 30 Waffendepots durch Zufall entdeckt wurden, wurde Lempke inhaftiert. Er kündigte an „auszupacken“. Einen Tag davor soll er in seiner Zelle Selbstmord begangen haben.

Als im Zuge der NSU-Aufklärung der Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 aufgeklärt werden sollte, erklärte sich 2013 ein Aussteiger aus der Neonaziszene bereit, Aussagen zu machen. Einen Tag vor dem anberaumten Zeugentermin soll sich der 21-jährige Florian Heilig in seinem Auto selbst verbrannt haben. Ich habe dazu sehr viel und lang recherchiert, habe in alle Richtungen nachfragend mit den Eltern, mit der Tochter gesprochen, die zusammen und übereinstimmend ein Selbstmord ausgeschlossen, das Liebeskummer-Motiv für erfunden gehalten haben.

Dass man ein Mordgeschehen wie einen Selbstmord aussehen lässt, dass man Ermittlungen in diese Richtung führt und lenkt, Indizien für einen Mord beiseiteschafft und/oder ignoriert, ist nicht nur etwas für Krimis, sondern auch fürs wirkliche Leben.

 

Quellen und Hinweise:

Der neonazistische Terroranschlag auf das Oktoberfest in München 1980 wirft lange Schatten – bis in die Gegenwart, https://wolfwetzel.de/index.php/2015/02/13/der-oktoberfestanschlag-in-munchen-1980-und-der-staatseigene-untergrund/

 

Der blinde Fleck, der äußerst gut sehen kann, https://wolfwetzel.de/index.php/2016/10/04/der-terroranschlag-auf-das-oktoberfest-in-munchen-1980-und-die-puppenspieler/

Sechste (potenzielle) Zeugin im NSU-VS-Komplex in Baden-Württemberg verstorben, https://wolfwetzel.de/index.php/2017/02/09/sechste-potenzielle-zeugin-im-nsu-vs-komplex-in-baden-wuerttemberg-verstorben/

 

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