Wie der Rechtsterror in Deutschland verschwiegen wird – NSU-Experte

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Wie der Rechtsterror in Deutschland verschwiegen wird – NSU-Experte

Sputnik-Interview mit Wolf Wetzel vom 6.4.2019

 

Was das jüngste Attentat in Neuseeland, die rechtsextreme Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), ein Bundeswehr-Veteranenverein und die Rassisten des „Ku-Klux-Klan“ miteinander zu tun haben – das erklärt der Journalist Wolf Wetzel im Sputnik-Interview. „Die Mainstream-Medien verschweigen Zusammenhänge“.

 

 

Den NSU-Komplex bezeichnete der Mediensoziologe und Journalist Wolf Wetzel gegenüber Sputnik als „NSU-VS-Komplex“. Aufgrund der Verwicklungen des Verfassungsschutzes (VS) in den Fall. „Daran kann man sehr genau nachzeichnen, mit welchem hohen Grad an ‚Fake News‘ dort die Medien über zehn Jahre hinweg gearbeitet haben.“ Der investigative Journalist hat über Jahre hinweg den kompletten NSU-Gerichtsprozess journalistisch und in seinem Blog begleitet.

„Über 45 V-Leute waren beteiligt“: Geheimdienste und das offene Ende vom NSU-Prozess

Dabei hat er alle damit zusammenhängenden Medienberichte sowie Kriminal- und Gerichtsdokumente, die ihm zugänglich waren, geprüft. Sein Fazit: Er habe „große Zweifel“, dass die sogenannten NSU-Morde allein durch die verstorbenen NSU-Mitglieder Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt sowie Beate Zschäpe begangen worden seien.

Die Medien und die „Döner-Morde“

Der NSU forderte laut Polizei- und Medienberichten neun Todesopfer. Die Morde sind zwischen den Jahren 2000 und 2006 in mehreren deutschen Großstädten verübt worden.

Über zehn Jahre lang wurden diese Morde an Menschen mit migrantischem Hintergrund als ‚Döner-Morde‘ bezeichnet. Man redete von Döner-Killern, man redete von einer düsteren Parallelwelt. Darin waren sich alle Medien einig.“

 

Eine tatsächliche Überprüfung der Fakten und Hintergründe sei jedoch nie im wirklichen Interesse der Medien gewesen. Dies machte er im Interview an ausgewählten Fallbeispielen im NSU-Fall fest.

Tod im Internet-Café: Beispiel Kassel 2006

April 2006: Ein Verbrechen im hessischen Kassel. Der türkischstämmige Internetcafé-Besitzer Halit Yozgat wird ermordet. Kurz darauf nimmt die Polizei Andreas Temme, einen V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes, als Tatverdächtigen fest. In seiner Jugendzeit soll er aufgrund seiner rechten Gesinnung den Spitznamen „Klein Adolf“ getragen haben.

Temme war laut polizeilicher Ermittlungsakten vorab über den Mord informiert gewesen. Er sei zum Tatzeitpunkt im Internetcafé gewesen, habe aber angeblich schon vorher konkrete Kenntnisse von der geplanten Tat, der Tatzeit, dem Opfer und den Tätern erhalten und sich deshalb dort aufgehalten. „Inwieweit Temme direkt an der Tat beteiligt war, ob Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt überhaupt am Tatort waren, ist unklar“, schreibt selbst die Online-Enzyklopädie Wikipedia.

Was wusste Bouffier?

„Die Vorgänge in Kassel 2006 sind spannend, weil im Rahmen der Ermittlungen herauskam, dass der Verfassungsschutz-Mann Temme zur Tatzeit vor Ort war“, brachte es NSU-Kenner Wetzel auf den Punkt. „Die Medien haben zwar ganz leicht aufgemuckt und gefragt: ‚Was hat der Andreas Temme da zu suchen?‘“ Danach ließ das Medieninteresse an der Person jedoch rapide nach. Absichtlich, wie der Soziologe meint.

Denn es kamen bei den Ermittlungen „unerwünschte“ Ergebnisse aus Sicht der Medien heraus:

Temme führte als V-Mann Neonazis in Kassel, die auch zu dem NSU-Netzwerk gehörten. Daraufhin schalteten die großen Medien um. So konnte sich Temme – auch durch gut aufgemachte Home-Stories in den Medien – als Opfer stilisieren.“

Die „Süddeutsche Zeitung“ habe lange Beiträge mit ähnlicher Stoßrichtung geschrieben, kritisierte Wetzel. „Das finde ich haarsträubend: Anstatt die gravierenden Widersprüche aufzudecken und nachzugehen, hat die Zeitung das Gegenteil gemacht.“ Dies sei ein Armutszeugnis für die angeblich investigative Münchner Zeitung.

Als die hessische Polizei das Innenministerium in Wiesbaden anfragte, die durch Verfassungsschutz-Mann Temme geführten V-Männer direkt zu befragen, lehnte der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident des Landes Volker Bouffier (CDU) dieses Angebot ab. Der Politiker habe eine unrühmliche Rolle gespielt, so Wetzel.

Mordanschläge auf Polizisten: Beispiel Heilbronn 2007

Im April 2007 wurde in Heilbronn (Baden-Württemberg) die Polizeivollzugsbeamtin Michèle Kiesewetter auf der Theresienwiese der Stadt mit einem gezielten Kopfschuss getötet. Ihr Kollege Martin A. wurde mit einem Schuss lebensgefährlich verletzt. Jahrelang suchten die Fahnder nach dem sogenannten „Heilbronner Phantom“ als mutmaßlichen Täter. Die Ermittlungen führte zunächst die Polizeidirektion Heilbronn durch. Diese übergab später „zwecks personeller Entlastung“ dem Landeskriminalamt Baden-Württemberg den Fall. Seit November 2011 führte die Bundesanwaltschaft wegen des Zusammenhangs mit rechtsterroristischen Taten die Ermittlungen. Seitdem wird die Tat der rechtsextremen Gruppe NSU zugerechnet. Die Mainstream-Medien haben das ab diesem Zeitpunkt auch genauso dargestellt, so Wetzel.

„NSU 2.0“ in der Frankfurter Polizei? – Drohungen gegen Anwältin von Sami A.

Allein diese zeitliche Achse zeige, dass die Medien unkritisch und „wie ein Fähnchen im Wind“ die Meinung der Staatsbehörden übernähmen.

Die Soko der Polizei stellte sehr schnell fest, dass es anhand der Abläufe vier bis sechs Täter gewesen sein mussten. Wir wissen auch, dass die Ermittlungen im Sande verlaufen sind und dass dann 2011 die Generalbundesanwaltschaft mit einer völlig neuen These aufwartete: Die beiden toten NSU-Mitglieder (die beiden Uwe’s, Anm. d. Red.) wären dort gewesen und hätten diesen Polizistenmord begangen.“

Als „wenig glaubwürdige“ Motive wurden damals genannt: Hass auf die Staatsgewalt und das Ergattern einer Dienstpistole.

Der NSU brauchte nicht 400 Kilometer zu fahren, um sich in Besitz von Waffen zu bringen“, kritisierte Wetzel die Medienberichte. „Warum gingen die Medien diesen Widersprüchen nicht nach?

Warum war der US-Geheimdienst vor Ort?

„Man kann es kurz machen“, schrieb der Journalist Ende März in der Zeitung „Junge Welt“.

„Die offizielle Version ist die am wenigsten wahrscheinliche. Tatsache ist, dass es keine einzige Zeugenaussage gibt, die eine direkte Täterschaft der 2011 zu Tode gekommenen NSU-Mitglieder Mundlos und Böhnhardt belegt. Es gab nicht eine Spur am Tatort, die diese Behauptung stützen kann. Zahlreiche Zeugenaussagen belegen, dass es andere beziehungsweise weitere Täter gab. Selbst die ermittelnden Polizisten sprachen von vier bis sechs Tätern. Phantombilder, die mit Hilfe von Zeugen erstellt wurden, ähneln vielen.“

Eben nur nicht den besagten NSU-Mitgliedern.

Neuseeland-Attentäter und sein Bezug zum Netzwerk rechter Bundeswehr-Soldaten

„Die Frage, die ich mir selbst als Journalist stelle“, ergänzte er im Interview: „Wieso wurde diesen Widersprüchen nicht nachgegangen?“ Der NSU-Experte nannte einen Beitrag des Magazins „Stern“, in „dem die Anwesenheit von US-Geheimdiensten dokumentiert war. Viele Journalisten wie ich wussten damals, dass da auch – warum auch immer – viele Geheimdienstleute vor Ort in Heilbronn waren.“ Die US-Agenten wollten unter anderem untersuchen, in welcher Form Waffenhandel mit einer kroatischen Neonazi-Gruppe betrieben wurde. Bis heute würden zu dem Fall in US-Geheimdienstarchiven versiegelte Berichte schlummern, die erst in 60 Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. „Warum schließt man die so lange weg?“

„Uniter“: Globale rechtsextreme Verbindungen?

Ein Sprung in die Gegenwart: Der mutmaßliche rechte Massenmörder von Christchurch „hatte ersten Erkenntnissen zufolge europäischer Vorbilder. Neben dem rechten Amokläufer Anders Breivik (…) scheinen auch rechtsextreme Bundeswehrsoldaten den mutmaßlichen Täter von Christchurch fasziniert zu haben.“ Das berichtete „Heise Online“ Mitte März im Beitrag „Globalisierung des Rechtsextremismus“. Der Beitrag nennt die Gruppe „Uniter“, ein Verein in Dormagen. Er versteht sich als ein Verein, der „ehemaligen Angehörigen von Spezialkräften aus Polizei und Militär sowie deren Familien in unterschiedlichen Lebenslagen behilflich sein“ wolle. „Laut Recherchen von Focus und der Taz sollen im Umfeld des Veteranenvereins Putschpläne und Massenerschießungen politischer Gegner ausgearbeitet worden sein.“

Rechtsextreme Netzwerke: Früher Schwarze Reichswehr, später Gladio, heute Prepper?

Laut Wetzel sind in dem Verein auch Neofaschisten aktiv. Es gebe Überschneidungen zwischen Mitgliedern des Vereins „Uniter“ zum Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg. Ein dortiger VS-Mitarbeiter habe den Verein „sogar mitgegründet“, wie Wetzel in seinem Artikel berichtete. Zudem habe ein früherer Chef einer Einheit der Bereitschaftspolizei in Böblingen „mit Uniter Geschäfte gemacht. In dieser Polizeieinheit waren auch KKK-Mitglieder, unter anderem Thomas B., der 2007 Einheitsführer von Michèle Kiesewetter war.“ Damit gibt es ihm zufolge Verbindungen des deutschen Soldatenvereins „Uniter“ über US-Rassisten hin zum Polizistenmord in Heilbronn.

Für die Behörden „unangenehme Erkenntnisse“

Für die Zurückhaltung der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden sieht Wetzel in seinem „Junge Welt“-Artikel nur einen naheliegenden Grund.

„Man könnte auf Täter stoßen, die über die involvierten staatlichen Behörden mehr preisgeben könnten, als allen zusammen lieb ist. Dass der NSU von Dutzenden V-Leuten umhegt war, ist bekannt. Gut dokumentiert ist auch, dass die Neonaziszene Baden-Württembergs ebenfalls von V-Leuten durchsetzt war und der dortige Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klan (KKK) von einem V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) geführt wurde: Achim Schmid.“

 

 

Ebenso seien Vorgänge im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex im Bundestag nicht kritisch genug von den Medien begleitet worden. Auch der Fall des früheren Vorsitzenden des NSU-U-Ausschusses, Sebastian Edathy (SPD), der über angebliche Kinder-Pornographie auf seinem Computer stürzte, wurde laut Wetzel nie medial im Kontext der NSU-VS-Affäre wirklich durchleuchtet. „Das ist beschämend“.

Das Kernproblem von „Fake News“ liege in der Logik der Mainstream-Medien selbst begründet. Das erklärte der Mediensoziologe und Journalist Wolf Wetzel gegenüber Sputnik.

„Ich wage die These: Die Erfinder und Macher, also diejenigen die von ‚Fake News‘ profitieren und in die Welt setzen, sind genau jene, die angeblich gegen ‚Fake News‘ vorgehen.“

Er meinte damit die sogenannten „Leitmedien“.

Die sind im Prinzip monopolisiert. Darum gehen sie auch so gegen die ‚Fake News‘ auf Facebook vor.“

Das Radio-Interview mit Wolf Wetzel zum Nachhören (Teil 1):

Das Radio-Interview mit Wolf Wetzel zum Nachhören (Teil 2):

 

Sputnik vom 6.4.2019: https://de.sputniknews.com/gesellschaft/20190406324593058-deutschland-rechtsterror-verschwiegen-wetzel/

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