PalästinenserInnen brauchen keinen imaginären Feind

Veröffentlicht von

PalästinenserInnen brauchen keinen imaginären Feind

 Um auf die israelische Regierung, die Armee und die Siedler wütend zu sein, brauchen PalästinenserInnen keinen Antisemitismus.

Zur Grundkonstante in der öffentlich-rechtlichen Diskussion gehört, Palästinenser einen Platz nahe am Antisemitismus zuzuweisen. Oder man spricht ganz umstandslos von einem arabischen Antisemitismus. Warum sollte das nicht stimmen? Warum sollten sie weniger rassistisch sein als die Europäer?

Warum sollten sie nicht dasselbe tun wie in Europa, wo viele, viel zu viele die wahren Herrschaftsverhältnisse verschleiern, indem sie die „Juden“ für alles verantwortlich machen? Warum sollten Palästinenser nicht auch der Versuchung erliegen, sich in komplexen Herrschaftsverhältnissen zu verlaufen?

Doch meist geht man gar nicht diesen Fragen nach, sondern hält sich raus. Am Ende ist man selbst ein Antisemit oder jemand, der antisemitische Narrative bedient. Wenn genug zustimmen bzw. schweigen, ist jede Diskussion hinfällig.

Bevor es losgeht, möchte ich eines erklärend hinzufügen. „Die Palästinenser“ gibt es so wenig wie „die Deutschen“. Der palästinensische Bauinternehmer hat so wenig mit der Palästinenserin im Flüchtlingslager gemein, wie die Kassiererin in einer Supermarktkette mit ihrem deutschen Chef.

Wenn ich hier von „den Palästinensern“ (in besetzten Gebieten) rede, dann aufgrund einer tatsächlichen Gemeinsamkeit: Sie sind alle der israelischen Besatzungsmacht unterworfen

Was macht Palästinenser zu Antisemiten?

Wenn man dieser Frage ernsthaft nachgeht, muss man zuvor die Frage beantworten: Was ist eigentlich Antisemitismus?

Es gibt ja mittlerweile so viele Antisemitismen, dass man auch da lieber abwinkt, als den Begrifflichkeiten auf den Grund zu gehen.

Lassen wir einmal beiseite, was den religiösen, christlichen Antisemitismus vom sekundären Antisemitismus unterscheidet. Konzentrieren wir uns auf den in den letzten Jahren sehr in Mode gekommenen Begriff vom „Israel bezogenen Antisemitismus“.

Ich möchte mich auf diese Begrifflichkeit konzentrieren, denn sie wird zurzeit wie Streusalz verteilt, wenn jemand die Politik der israelischen Regierung kritisiert oder gar den Krieg im Gazastreifen nicht für ein Selbstverteidigungsrecht hält, sondern für einen vorsätzlichen und gewollten Massenmord, der durchaus die Merkmale eines Genozids erfüllt.

Wer das tut, ist ganz schnell ein Antisemit, wird aus jeder öffentlich-rechtlichen Diskussion ausgeschlossen und bekommt es bestenfalls mit Polizei, Hausdurchsuchungen und Strafverfahren zu tun (wie zum Beispiel die Frauenorganisation „Zora“ aus Berlin).

Dass es in Deutschland nach wie vor antisemitische Denk- und Handlungsweisen gibt, ist ein Erbe der „zweiten Schuld“ (Ralph Giordano) nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Daran sind nicht die Nazis schuld, sondern all jene „demokratischen“ Parteien, die nach 1948 die Regierung stellten. Man schwieg darüber, wie weit der Antisemitismus staatstragend und parteiübergreifend (von deutsch-national bis liberal) war und dass die Nazis dabei wenig neu erfinden mussten.

Und man schwieg nach 1948 darüber, dass viele Nazis, die überlebt hatten, ihre Karriere in Westdeutschland fortsetzen konnten.

Aber ein fast noch größeres Tabu ist, dass heute viele Neonazis und Postfaschisten Israelfans sind. Für sie ist die israelische Siedlerpolitik, der rassistische Umgang mit den „Arabern“, die in allem Belangen gefeierte Überlegenheit gegenüber den „Anderen“, der Krieg als Grundkonstante staatlichen, nationalen Daseins, viel mehr Vor- als Feindbild.

Auch das wäre eine eigene Untersuchung wert, was dies bedeutet, wenn nicht unbedeutende Teile der „Neurechten“ (von AfD bis hin zu Teilen der „Sezession“) in Netanjahu genau den starken Mann sehen, den sie sich auch für Deutschland wünschen. Ein Mann, der sich nichts vorschreiben lässt, der die institutionelle Gewaltenteilung für liberalen Bullshit hält und der genau weiß, dass es nicht auf (die Einhaltung von) Gesetze ankommt, sondern auf das Gewaltpotenzial, über alle Gesetze und Grenzen hinweg Fakten zu schaffen. Dass die deutschen „Neurechten“ dies begrüßen ist kein Irrtum, so wenig wie die Unterstützung der Netanjahu-Regierung von Mitgliedern, die sich selbst als Faschisten bezeichnen.

Schon alleine diese bizarre politische Konstellation macht die Fadenscheinigkeit deutlich, mit der die Kritik an der israelischen Staatsführung als „rechts“ und dann als antisemitisch denunziert wird.

In diesem Beitrag geht es nicht um deutsche Befindlichkeiten und Nachstellungen. Es geht darum, dem Vorwurf nachzugehen, dass Palästinenser Hass auf Juden hätten, also antisemitisch motiviert seien, wenn sie gegen die israelische Besatzungsmacht aufbegehren.

Es gibt keine dümmere und haltlosere Art der Denunziation.

Zu diesem Fazit kommt man, wenn man sich die Genese des Antisemitismus, also die zentralen Grundannahmen vor Augen führt:

  • Der „Jude“ ist nach außen hin nett, freundlich und unauffällig. Der Antisemitismus enttarnt ihn, reißt ihm die Maske vom Gesicht und zeigt uns allen sein wahres, also böses Gesicht.
  • Der „Jude“ stellt sich den Naiven und Sorglosen als einflusslos, hilflos vor, als Opfer der Umstände. Der Antisemitismus lässt sich auch davon nicht blenden und überführt ihn als geheimes Mitglied einer omnipotenten Organisation, die sich alles unter den Nagel reißt.
  • Der Antisemitismus hat nicht nur eine personale Seite. Seine große Bedeutung bekommt er dadurch, dass er behauptet, uns die Welt zu erklären, indem er Verblendungszusammenhänge durchschaut, indem er die wirklich Schuldigen ausfindig macht.
  • Der Antisemitismus funktioniert genau in dieser Paradoxie: Er behauptet, den Schein zu durchschauen, zum Schein.
  • Der Antisemitismus bietet uns Schuldige, die Juden an, um die wirklich Mächtigen zu schützen.

Wenn man diese Axiome zugrunde legt, dann kommt man mit Blick auf das, was PalästinenserInnen in besetzten Gebieten erleben und zu verarbeiten haben, zu einem sehr eindeutigen Ergebnis:

Die Palästinenser brauchen sich keinen imaginären Feind zuzulegen, den man im Antisemitismus in der Gestalt des Juden findet.

Während der Antisemitismus den omnipotenten Feind erfindet, also von den wirklichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ablenkt, leben die Palästinenser (in den besetzten Gebieten) mit einer realen Feind, dem Staat Israel, der ihr Leben fast vollständig in der Hand hat.

Es gibt wenige Orte auf der Welt, wo der Antisemitismus so dermaßen überflüssig ist, um von den eigentlichen Feinden abzulenken.

 

„Die reine Teufelei ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“

Gideon Levy ist Journalist und Mitherausgeber der israelischen Tageszeitung “Haaretz“. Er ist es gewohnt, gegen rechte ultra-orthodoxe Positionen anzukämpfen. Doch seit dem Krieg in Gaza um Palästina beobachtet er eine erschreckende Verschiebung. Was früher rechts außen war, ist nun Mainstream geworden. Mehr noch: was früher reaktionär war, nähert sich heute einer faschistischen Logik:

„Es ist nicht mehr nur die politische Rechte. Es ist jetzt der Mainstream. [ …] Das Ungeheuerliche ist zur Realität geworden. Die reine Teufelei ist in der Mitte der Gesellschaft und sogar links der Mitte angekommen. Noch ein oder zwei Kriege mehr, und alle werden wie Meir Kahane sein.“

 

Das erklärt er am Beispiel des ehemaligen Leiters der Operations- und Planungsabteilung des Militärs und Chef des Nationalen Sicherheitsrats Giora Eiland:

Giora Eiland ist einer der ‚denkenden Offiziere‘, die aus der IDF, den israelischen Streitkräften, hervorgegangen sind. Er wirkt sympathisch und ist wortgewandt, sein Auftreten ist von Mäßigung und gesundem Urteilsvermögen geprägt. (…) Er wird oft interviewt und von der Arbeiterbewegung hochgeschätzt. Er ist nicht wortkarg und ignorant wie zum Beispiel Brigadegeneral Amir Avivi und nicht blutrünstig wie zum Beispiel Itamar Ben Gvir. Er ist ein Mann der politischen Mitte, der gemäßigten Rechten.“

Während bereits über 10.000 Menschen in Gaza ermordet worden sind, Gaza-Stadt einer apokalyptischen Trümmerlandschaft gleicht, über eine Millionen Menschen vom Nordflügel des Gefängnisses in den Südflügel fliehen, weiß der einst gemäßigte Mann, was jetzt noch fehlt:

„Epidemien in Gaza sind gut für Israel! ‚Schließlich werden schwere Epidemien im Süden des Gazastreifens den Sieg Israels erleichtern und die Zahl der Todesopfer unter den IDF-Soldaten verringern‘, schrieb er diese Woche wörtlich in der Zeitung ‚Yedioth Ahronoth‘. (…) ‚„Und nein, es ist keine Grausamkeit ihnen gegenüber‘, betonte er, als ob jemand so etwas hätte denken können. In Wirklichkeit sei es seltene Freundlichkeit und Menschlichkeit, da sie ja israelische Menschenleben retten würde. Giora Eiland, mit diesem Vorschlag gleichzeitig in der Rolle von Mutter Theresa, in der Rolle eines Offiziers und eines Gentlemans in der moralischsten Armee der Welt, machte einen klaren Nazi-Vorschlag – aber in der Bevölkerung brach trotzdem kein Sturm aus!“

 

Ich hätte noch vor einiger Zeit diese Aussagen als blanke Unterstellungen aus meinem Gedankenwelt getrieben. Tatsächlich reihen sie sich aber in eine Serie von Aussagen ein, die nicht von der „Straße“ kommen, sondern aus Regierungskreisen.

 

  • „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen.“ (Premierminister Netanjahu am 8.10.2023)
  • Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit.“ (Daniel Hagari, Sprecher der israelischen Armee am 10. Oktober 2023)
  • „Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist … Wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen.“ (Präsident Jitzchak Herzog am 14. Oktober 2023)
  • Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“ (Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober 2023)
  • Jetzt gibt es nur ein Ziel: Nakba! Ein Nakba in Gaza, die die Nakba von 48 in den Schatten stellen wird.“ (Ariel Kallner, Knesset Abgeordneter der Regierungspartei Likud auf X am 7. Oktober 2023)

 

Alles Reaktionen auf ein Schockerlebnis?

So könnte man die ersten Reaktionen nach dem „9/11“ am 7. Oktober 2023 begreifen. Was man selbstverständlich jeden Tag macht, Angst und Schrecken auf fremdem Territorium zu verbreiten, das Recht der puren Gewalt auszuüben, passierte zum Schrecken vieler für einen Tag auf israelischem Territorium.

Bekanntlich hat das nicht dazu geführt, in Israel darüber zu reden, was man tagtäglich, Tag und Nacht in besetzten Gebieten macht, für gutheißt, für richtig und gerecht hält.

Aber vielleicht hat sich das nach ein paar Wochen gelegt?

Das Gegenteil war und ist der Fall. Die Büchse der Pandora war geöffnet. Gideon Levy ist Journalist und Mitherausgeber der israelischen Tageszeitung “Haaretz“ und hat dies so zusammengefasst:

„So wie in Auschwitz“ … „in gewisser Weise ein zweiter Holocaust“

Man könnte einwenden, dass es solche vereinzelten Stimmen immer und überall gibt. Sie würden doch nur eine Minderheitsmeinung abdecken, in der Bevölkerung und in der Regierung.

Das ist nicht der Fall. Jeffrey D. Sachs ist ein renommierter US-Wirtschaftswissenschaftler, Professor an der Columbia Universität in New York und Direktor des dortigen Centers for Sustainable Development (deutsch: Zentrum für Nachhaltige Entwicklung). Er ist ein bedächtiger Mann und hat die Entwicklung seitdem sehr genau verfolgt. In einem Artikel im Common Dreams vom 1.01.2024 hält er fest:

„Das grundlegendere Ziel der israelischen Regierung ist es, ihre totale Kontrolle über ein „Großisrael“ zu festigen, d.h. über das gesamte Land vom Jordan bis zum Mittelmeer. Ziel des Einmarsches in Gaza ist es, die palästinensische Bevölkerung aus diesem Gebiet zu vertreiben. Am 10. Oktober erklärte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant:

„Gaza wird nicht zu dem zurückkehren, was es vorher war. Wir werden alles eliminieren.“

In jüngster Zeit sprach Netanjahu von einer freiwilligen Migration der Bevölkerung des Gazastreifens – „freiwillig“, das bedeutet, nachdem Gaza verwüstet und die Bewohner des Gazastreifens zur Evakuierung aufgefordert worden waren.

Der Bürgermeister von Metula, David Azoulai, erklärte, dass „der gesamte Gazastreifen leer sein muss. Abgeflacht. So wie in Auschwitz. Möge es ein Museum für die ganze Welt sein, in dem sie besichtigen kann, was Israel tun kann. Niemand soll im Gazastreifen wohnen, damit die ganze Welt das sehen kann, denn der 7. Oktober war in gewisser Weise ein zweiter Holocaust.

In einer späteren „Klarstellung“ sagte er, dass er es lieber sehen würde, wenn die Bevölkerung des Gazastreifens „umgesiedelt“ und nicht ermordet werden würde.

Zuletzt forderte Finanzminister Bezalel Smotrich, ein Politiker, der sich selbst einen Faschisten nennt, dass die Bevölkerungszahl des Gazastreifens von derzeit mehr als zwei Millionen auf 100.000 bis 200.000 zu reduzieren ist.“ (haaretz.com vom 31.12.2023)

„Freiwillige Auswanderung“? Remember?

Abgesehen davon, dass sich an diesen (angekündigten und in die Wege geleiteten) Staatsverbrechen nichts ändert, wenn man sie mit der Geschichte der Shoa, mit Auschwitz verbindet, haben mich die fortgesetzten Vernichtungsfantasien nicht losgelassen.

Wahrscheinlich haben die wenigsten, die dies in Israel in Führungspositionen vertreten, die Shoa selbst erlebt und auch kein KZ überlebt, aber sie argumentieren damit laufend und parallelisieren den 7. Oktober 2023 – ohne Erschrecken und Bedenken – mit Auschwitz.

Wenn sie so viel Erinnerung für ihren Vertreibungs- und Vernichtungswillen aufbringen, frage ich mich: Erinnern sie nicht an die Zeit vor der Shoa, als die Nazis Juden zur „freiwilligen“ Auswanderung aufgerufen hatten?

Erinnern sie sich daran, wie „freiwillig“ das damals war? Kommt all denen, die an die Shoa und ihr Zustandekommen unentwegt erinnern, nicht das Grausen, wenn sie für ein paar Minuten vergessen, wer diese Vertreibungsandrohungen „verdient“ hat?

Wolf Wetzel

 

Publiziert im Magazin Overton am 9.1.2024: https://overton-magazin.de/hintergrund/kultur/palaestinenser-brauchen-keinen-imaginaeren-feind/

 

 

Quellen und Hinweise:

Wer hat zum x-ten Mal angefangen? Gaza – ein Gefängnis ohne Wärter, Wolf Wetzel, 2023:

https://wolfwetzel.de/index.php/2023/10/16/wer-hat-zum-x-ten-mal-angefangen-gaza-ein-gefaengnis-ohne-waerter/

Israel züchtet die nächste Generation des Hasses gegen sich selbst, Gideon Levy, HAARETZ vom 7. Dezember 2023, Quelle und Übersetzung Antikrieg.

What Israelis won’t be asking about the Palestinians released for hostages, Orly Noy vom 23.11.2023: https://www.972mag.com/palestinian-prisoners-israeli-hostages-exchange/

Rettung Israels durch Beendigung des Krieges in Gaza, Jeffrey Sachs, 2024: https://overton-magazin.de/top-story/rettung-israels-durch-beendigung-des-krieges-in-gaza/

Der eliminatorische Nationalismus, Wolf Wetzel, 2023: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/der-eliminatorische-nationalismus/

 

Palästinenser brauchen keinen imaginären Feind

 

Views: 156

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert