From the river to the sea
Über einen Satz, um den es gar nicht geht.
Damit ist kein naturverbundener Wandertipp gemeint. Es geht vielmehr um etwas Brandgefährliches. Wenn das von den „Guten“ kommt, ist daran nichts auszusetzen. Wenn denselben Satz die „Bösen“ sagen, transportiert er damit Vernichtungsfantasien.
Die Parole „From the river to the sea“ wird in Deutschland und überall dort, wo „bedingungslose Solidarität mit Israel“ geübt wird, zweifelsfrei als antisemitischer Code erkannt und sogleich entlarvt, da es sich dabei um versteckte Vernichtungsfantasien handeln würde.
Was aber, wenn die israelische Regierung genau diese Parole in die Tat umsetzt?
Über die „Verneinung des Existenzrechts Israels“ und die Auslöschung Palästinas
„Bereits Anfang November hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) die Palästinenserparole „From the River to the Sea, Palestine will be free“ verboten. Diese sei ein Kennzeichen der verbotenen Organisationen Hamas und Samidoun. Sie hat damit eine zentrale Parole der palästinensischen Bewegung für strafbar erklärt, ohne das Strafrecht zu ändern und ohne den Bundestag oder die anderen Ressorts der Bundesregierung zu beteiligen.
Wie aktuell bekannt wurde, wendet nicht nur die Polizei in Berlin, sondern auch die Staatsanwaltschaft in München das Verbot bereits an.
Die Parole ist hoch umstritten, weil die Formulierung „From the River to the Sea“ den Fluss Jordan und das Mittelmeer meint, also das Gebiet, in dem heute der Staat Israel liegt. Viele Beobachter:innen sehen in der Parole daher eine Verneinung des Existenzrechts Israels. Ende Oktober hat Hessens Justizminister Roman Poseck (CDU) eine Initiative angekündigt, das Strafgesetzbuch zu verschärfen. Eine Leugnung des Existenzrechts Israels solle künftig strafbar sein, hier gebe es eine Strafbarkeitslücke.“ (taz vom 13. 11. 2023)
Die Israelexpertin und Innenministerin Nancy Faeser hatte zudem bei besagter Parole die Eigentümerfrage geklärt. Im Zuge der Verbotsverfügungen gegen das Netzwerk Samidoun in Verbindung mit einem Betätigungsverbot für Hamas hat sie die Parole „‚Vom Fluss bis zum Meer‘ (auf Deutsch oder in anderen Sprachen)“ als deren Kennzeichen erkannt und verboten.
Seitdem kann diese Parole mit Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren verfolgt werden.
Dass Frau Faeser dabei die Geschichte dieser Parole willkürlich und vorsätzlich verstümmelt, weiß sie. Denn diese Parole wurde bereits in den 1960er Jahren gerufen, als Antwort auf die israelische Besatzung nach dem „Blitzsieg“ 1967, verknüpft mit der Idee von einem Staat Palästina, in dem weder die Hautfarbe, die Religion oder Herkunft eine (privilegierte) Rolle spielen sollen.
Die Hamas gab es damals noch nicht.
Frau Innenministerin Faeser:
Ich habe eine Verständnisfrage: Netanyahus Regierungssprecher Hananya Naftali hat auf X eine Collage gepostet: „From the river to the sea“.
Dann hat er eine israelische Flagge darüber ausgebreitet und jedes Missverständnis mit dem Satz ausgeräumt:
„Thats the flag you’re gonna see“ (Das ist die Flagge, die Sie sehen werden)
Frau Innenministerin Faeser: Ist also Netanyahus Regierungssprecher ein „Terror-Kennzeichen“-Verbreiter und Propagandist für einen Genozid?
Ich weiß Frau Faeser, dass Sie sagen würden, dass es solche extremen Positionen überall gibt und diese nicht für die israelische Regierungspolitik stehen.
Also hätte ich da noch eine weitere Frage, die nach Ihrem Expert*innenwissen ruft: Wo steht das Folgende geschrieben?
„Das Recht des jüdischen Volkes auf das Land Israel ist ewig und unbestreitbar … daher werden Judäa und Samaria keiner ausländischen Verwaltung übergeben. Zwischen dem Meer und dem Jordanien wird es nur israelische Souveränität geben.“
Ich bin ein guter Mensch und komme einer blamablen Antwort zuvor: Diesen Terror-Marker findet man in der Plattform der Likud Partei aus dem Jahr 1977. Das ist ihr Parteiprogramm und dieses setzen sie seitdem ungehindert um. Benjamin Netanjahu ist deren Vorsitzender und aktueller Ministerpräsident.
Dabei gehen nationalistische, ultra-orthodoxe und profaschistische Gesinnungen Hand in Hand. Man okkupiert das Westjordanland, vertreibt und entrechtet die dort lebende palästinensische Bevölkerung. Man macht aus Gaza ein Ghetto und sorgt auf verschiedene Weisen dafür, dass das Leben dort die Hölle ist. Das macht man mit Ihrer Unterstützung, also mit der massiven Unterstützung der deutschen Bundesregierung. Wenn also jemand Vernichtungsfantasien in die Tat umsetzt, wenn jemand diese Vernichtungsfantasien offen äußert, dann ist es die israelische Regierung, die zur deutschen Staatraison gehört. Darf ich also in diesem Zusammenhang von Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Beihilfe zum Genozid reden?
Ich weiß, das darf ich nicht. Denn bis heute ist nur das Anprangern dieser Staatsverbrechen strafbar, aber nicht ihre Unterstützung.
Und selbstverständlich schützen Sie uns auch vor solchen Tatsachen:
Das Bestreben, „Groß-Israel” zu errichten, ist das zentrale ideologische Ziel der Likud-Partei, die seit 1977 die israelische Politik dominiert. Das Engagement für dieses Groß-Israel wurde 2018 in den ‚Grundgesetzen‘ des israelischen Staates verankert, als die Knesset das Gesetz vom ‚Nationalstaat des jüdischen Volkes‘ verabschiedete. Dieses Gesetz besagt, dass das Recht auf nationale Selbstbestimmung in Palästina ‚nur für das jüdische Volk‘ gilt und dass ‚der Staat die Entwicklung der jüdischen Besiedlung als nationalen Wert‘ betrachtet, und dazu ermutigen soll, diese zu fördern und zu stärken. Diese Verpflichtung ist eines der ‚Leitprinzipien‘ der gegenwärtigen israelischen Regierung, wonach ‚das jüdische Volk ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel hat, einschließlich ‚Judäa und Samaria‘.” (US-Magazin „The Nation“)
Die Bibel als (neue) Grenzziehung
Wenn man auf die Nah-Ost-Karte blickt, wird man weder Judäa noch Samaria finden. Aber das macht ja nichts, wenn man die Bibel hat und auf diese schwört:
„Diese Begriffe sind in der Bibel allgegenwärtig, mit mehr als 100 Erwähnungen allein von ‚Samaria‘ im Tanach (jüdische Bibel) und in den christlichen Evangelien.“ (Rabbi Dov Fischer, Jüdische Rundschau vom September 2021)
Auf diesem sehr hohen Niveau halten auch arabische Gelehrte mit und verweisen auf Quellen, die so urgeschichtlich sind, dass selbst Jesus vor Neid erblassen würde.
Umso mehr kommt die Jüdische Rundschau gleich zu Beginn zu dem Schluss:
„Es war schon immer absurd, Judäa und Samaria als „Westjordanland“ zu bezeichnen. Mögen auch die arabische Welt und die israelfeindliche Linke auf dem verlogenen und geografisch ungenauen Begriff „Westjordanland“ (engl. Westbank) bestehen – der legitime israelische Anspruch auf die urjüdischen Regionen Judäa und Samaria wird davon nicht beeinträchtigt.“
Das von „Gott“ bestimmte „gelobte Land“ wird seit Jahrzehnten mit massiver Unterstützung der israelischen Regierung besiedelt, also kolonialisiert. Während die Gläubigen die Bibel als Begründung nehmen, rechtfertigt die israelische Regierung die Besetzung des Westjordanlandes mit „Sicherheitsinteressen“. Beide Begründungen gehen dabei meist Hand in Hand.
Im Westjordanland leben gegenwärtigen über 450.000 israelische Siedler. Seit dem israelischen Vernichtungskrieg in Gaza sieht die Siedlerbewegung offensichtlich die Gunst der Stunde gekommen. Sie treten noch offener und gewalttätiger auf: Sie verjagen die dort lebenden Menschen, nehmen ihnen die Häuser weg, zerstören ihre Felder – und die israelische Armee schaut zu.
Von Aachen bis Gaza
Mitte Mai hat eine palästinensische Gruppe namens „Students for Palestine“ ein Protestcamp vor dem Hauptgebäude der RWTH in Aachen aufgebaut. Ihre Ziele sind denen anderen Protestcamps in Europa und den USA sehr ähnlich: Sie fordern die Universitätsleitung dazu auf, sich für „Waffenstillstand in Gaza“ auszusprechen, den „dort von Israel ausgeführten Genozid“ zu verurteilen und die Kooperation mit dem Israel Institute of Technology (Technion) in Haifa zu beenden.
Wie kriminalisiert man ein solches Anliegen? Die Polizei, die bekanntlich in ganz Deutschland ein Bollwerk gegen rechts bildet, gab sich auch in Aachen alle Mühe. Selbstverständlich waren deren Ohren auf die Parole „From the river to the sea“ scharfgestellt. Aber was macht die Polizei, wenn sie diese Parole partout nicht hört?
Nun, die deutsche Polizei hat gelernt, sich kein X für ein Z vormachen zu lassen. Ein Mann im Protestcamp ruft:
„Yalla Yalla Intifada – Von Aachen bis nach Gaza“.
Um ehrlich zu sein: Der Anfang „Yalla Yalla Intifada“ stand nicht auf dem Spickzettel. Aber dann war dem Beamten klar: „Yalla Yalla“ bedeutet so viel wie „Auf geht’s“ und „Intifada“ steht für Rebellion, Aufstand. Denn er hat gelernt und verstanden: Panzer, Häusersprengungen und Liquidationen stehen für Ordnung – Steine und brennende Reifen für Unruhe und Gewalt. Also kann das Folgende nur eine umformulierte Vernichtungsfantasie sein: „Von Aachen bis nach Gaza“.
Der Polizeibeamte erkennt die Gefahr blitzschnell. Hier handelt es sich nicht nur um einen Gewaltaufruf, der sich auf den Nah-Ost-Konflikt bezieht. Diese Parole ist nichts anderes als eine Weltkriegsparole. Das Ergebnis ist somit klar:
„Es bestehe somit der Verdacht einer Straftat nach Paragraf 80a und 130 des Strafgesetzbuches – Aufstacheln zum Verbrechen der Aggression und Volksverhetzung. Die Polizei erfasste (…) die Personalien des Mannes und erstattete Strafanzeige.“ (Aachener Zeitung vom 16.05.2024)
Das Berliner Museum entfernt alle Kunstwerke, die Flüsse oder Meere zeigen
„Durch ein Regierungsdekret hat die Deutsche Nationalgalerie in Berlin alle Kunstwerke mit Flüssen oder Meeren aus dem Blickfeld genommen. (…) Zu den entfernten Werken gehören Gustave Courbets „The Wave“ (1869), Caspar David Friedrichs „Der Mönch am Meer” (1808-10), Carl Blechens „Fischer auf Capri” (1834) und Hunderte mehr. (…)
„Wenn wir es ernst meinen, die historischen Traumata des jüdischen Volkes zu respektieren, müssen wir jeden Fluss, Kanal und Bach in diesem Land beseitigen“, sagte ein Abgeordneter, der zudem das Versprechen abgab, für den Rest seines Lebens niemals einen Strand zu besuchen.
Die deutschen Medien lobten den Schritt und beschuldigten mehrere internationale Gewässer, darunter den mächtigen Nil, „einen anhaltenden Strom von Antisemitismus“ aufrechtzuerhalten.“
Ich möchte Sie damit alleine lassen: Was ist davon ernst, lachhaft oder gar ein Aprilscherz?
Wolf Wetzel
Publiziert im Magazin Overton am 22.5.2024: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/from-the-river-to-the-sea/
Quellen und Hinweise:
Post von Hananya Naftali am 10.Dezember 2023 auf X: https://archive.is/bD6Dy
„From the River…“ ist verboten, taz vom 13. 11. 2023: https://taz.de/Umstrittene-Palaestinenserparole/!5969471/
Der eliminatorische Nationalismus. Zwischen Krieg und Krieg in Gaza um Palästina, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/11/29/der-eliminatorische-nationalismus-zwischen-krieg-und-krieg-in-gaza-um-palaestina/
Es gibt keine Äquidistanz zum Israel/Palästina-Konflikt, Wolf Wetzel, 2021: https://wolfwetzel.de/index.php/2021/05/14/es-gibt-keine-aequidistanz-zum-israel-palaestina-konflikt/
It’s Time to Confront Israel’s Version of “From the River to the Sea”, The Nation vom 22.11.2023: https://www.thenation.com/article/world/its-time-to-confront-israels-version-of-from-the-river-to-the-sea/
Aachen: Staatsschutz ermittelt. Polizeieinsatz an Protestcamp vor RWTH, Aachener Zeitung vom 16.5.2024: https://www.aachener-zeitung.de/lokales/region-aachen/aachen/polizeieinsatz-an-protestcamp-vor-rwth/12923983.html
HRC55 | Independent UN Expert Alleges Israeli Genocide Against Palestinians in Gaza, 26.3.2024: https://www.youtube.com/watch?v=3XrwNGWF108
Das historische jüdische Gebiet heißt Judäa und Samaria – nicht „Westjordanland“, Rabbi Dov Fischer, Jüdische Rundschau, 2021: https://juedischerundschau.de/article.2021-09.das-historische-juedische-gebiet-heisst-judaea-und-samaria-nicht-westjordanland.html
Das Berliner Museum entfernt alle Kunstwerke, die Flüsse oder Meere darstellen, 1.4.2024: https://hyperallergic.com/881440/berlin-museum-removes-all-artwork-depicting-rivers-or-seas/
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