Strike Germany – Ein Gespenst geht um die Welt
„STRIKE GERMANY is a strike against anti-Palestinian racism and censorship in their most advanced official forms. As Gaza is being annihilated, artists and cultural workers have a responsibility to fight“
Zu den wenigen staatsnahen Medien, die über diesen Boykottaufruf berichteten, gehört der Deutschlandfunk. Anfang Januar 2024 berichtete er darüber:
„Die gut 1.000 Unterzeichner des Aufrufs “Strike Germany” werfen Deutschland eine zu große Nähe zu Israel vor. Sie fordern unter anderem, Veranstaltungen deutscher Kultureinrichtungen zu boykottieren, weil diese „Solidaritätsbekundungen mit Palästina unterdrücken“ würden. Wer den Aufruf gestartet hat, ist bisher unbekannt.“
Der Deutschlandfunk hatte bei der Staatsministerin für Kultur und Medien Claudia Roth, nachgefragt, was sie davon halte. Sie wollte sich dazu nicht äußern, um dann doch noch etwas recht Überraschendes nachzuschieben:
„Das Büro der Grünen-Politikerin schickte der Rheinischen Post eine Stellungnahme. Darin hieß es, die Kulturstaatsministerin habe mehrfach betont, dass sie von Boykottaufrufen in der Kultur nichts halte. ‚Sie schätzt die Situation in der deutschen Kultur auch völlig anders ein‘.“
Diese Äußerung ist mehr als absurd. Sie weiß sehr wohl um die zahlreichen Boykottmaßnahmen in Deutschland, immer dann, wenn es um die Kritik an der israelischen Regierungspolitik geht. Es gibt schon lange vor dem israelischen Einmarsch in Gaza 2023 eine auf Bundesebene organisierte Verbotskampagne, wenn es um den BDS-Boykottaufruf geht, der auf internationale Ebene den Kampf gegen die israelische Besatzung mit einem Boykottaufruf verknüpft.
„BDS“ steht fürBoykott, Desinvestitionen undSanktionen.
Anstatt darüber öffentlich zu diskutieren, darüber öffentlich zu streiten, wie man eine Besatzung gutheißt oder wie man sie nicht hinnimmt, wurde 2019 ein Anti-BDS-Beschluss verabschiedet, der Initiatoren und Unterstützerinnen der BDS-Kampagne die öffentlichen Räume verweigern soll. In Folge dieser massiven Zensurmaßnahme wurden zahlreiche Autoren, Künstlerinnen und Kulturschaffende ausgeladen oder erst gar nicht eingeladen, weil man deren Haltung und deren politische Einstellung als „Israel bezogenen Antisemitismus“ brandmarkten will.
„Eine Kultur des Silencing, des Mundtot-Machens“ (Masha Gessen)
Der McCarthyismus, den die Initiatoren explizit beklagen, hat in der Tat wahnhafte Züge angenommen: Es reicht mittlerweile, wenn man jemandem die „Nähe“ zur BDS-Kampagne vorhält, um dann alles in Bewegung zu setzen, diese Person als indiskutabel zu brandmarken.
Dass die „Nähe“ zur „bedingungslosen Solidarität mit Israel“ mehr Tote in Kauf nimmt, sei hier nur ganz nebenbei erwähnt.
Zuletzt hat dieses Mundtot-Machen u.a. den Pink Floyd-Mitbegründer Roger Waters treffen sollen, um so das Konzert in der Frankfurter Festhalle 2023 zu verbieten. Was in diesem Fall kläglich scheiterte, gelang an vielen anderen Stellen sehr wohl.
Dazu zählt die israelisch-palästinensische Autorin Adania Shibli. Ihr Roman „Eine Nebensache“ wurde mit dem LiBeratur-Preis der Frankfurter Buchmesse 2023 ausgezeichnet. Die Verleihung dieses Preises wurde hingegen mit haarsträubenden Begründungen und Diffamierungen abgesagt:
„Anstatt nun zu diskutieren, wie wir die Gewaltspirale im Nahen Osten mithilfe literarischer Werke profunder verstehen können, hat dieser Preis eine Rhetorik der Hysterie provoziert (leider auch in der taz). Lauter Diffamierungen, die mit dem Roman kaum etwas zu tun haben und der Autorin absichtlich Unrecht tun, denn wie der Berenberg Verlag klarstellt, verteidigt sie entschieden die Autonomie ihrer Literatur, indem sie Einladungen von aktivistischen Gruppen grundsätzlich ablehnt. Wer diesem Roman Antisemitismus oder gar Menschenverachtung vorwirft, der projiziert seine eigenen Vorurteile auf das Werk.“ (Ilija Trojanow, taz vom 17.10.2023)
Ähnlich erging es der Autorin Masha Gessen. Eigentlich sollte sie mit dem Bremer „Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken“ geehrt werden. Aber dann hat sie politisch falsch gedacht.
„Grund: Gessen, 1967 als Kind einer jüdischen Familie in Moskau geboren, hatte im Aufsatz gefordert, den Gazastreifen mit den jüdischen Zwangsghettos im von den Nazis besetzten Europa wiederzuerkennen. Nur das würde Gessen zufolge zu einer Sprache verhelfen, um zu beschreiben, was sich gerade in Gaza abspielt: ‚The ghetto is being liquidated‘.“ (Benno Schirrmeister, taz vom 14.12.2023)
Daraufhin hat sich die örtliche Heinrich-Böll-Stiftung als Preisgeberinnen zurückgezogen und der Bremer Senat hat verstanden und den geplanten Festakt im Rathaus abgesagt.
In der Nähe von?
Als wollte der Deutschlandfunk einen frischen Beweis für diesen McCarthyismus liefern, kreist sie die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux wie folgt ein. Zuerst macht man sie zur prominentesten Unterstützerin dieses Aufrufes und deutet an, dass sie so etwas notorisch tut:
„Ernaux hatte bereits 2018 gemeinsam mit anderen Kultur- und Kunstschaffenden zur Nichtbeachtung der Kultursaison ‚Frankreich-Israel‘ aufgerufen, 2019 dann zum Boykott des Eurovision Song Contests in Tel Aviv.“
Natürlich ahnte der Deutschlandfunk, dass das zum erwünschten Distanzierungsgebot nicht ausreicht. Also legte man mit genau jedem Verdikt nach, das dieser Streik gegen deutsche, staatsnahe Kulturinstitutionen begründet:
„Ernaux wird seit Längerem auch eine Nähe zur BDS-Bewegung nachgesagt. BDS steht für „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“. Die Bewegung ruft zum Boykott israelischer Produkte auf und ist gegen jede Zusammenarbeit mit Israel in den Bereichen Kultur und Wissenschaft.“ (deutschlandfunk.de vom 18.01.2024)
Einen besseren Beleg für die Methode McCarthyismus kann man nicht liefern.
Säuberungsaktionen
Es gibt offensichtliches, wenn man plötzlich ausgeladen wird oder ein städtischer Raum vernagelt wird. Aber es gibt auch Säuberungsaktionen hinter den Kulissen. Wenn man nach etwas sucht, weiß man nicht, was im „Netz“ vorher verfügbar war. Denn zumindest das Internet hat ein langes Gedächtnis. Und das muss man, wenn nötig, bearbeiten.
Wenn man jetzt die Ukraine, also Selenskyj & co verteidigen will, dann ist es für die ideologische Verteidigung gut, wenn man gute Recherchen verschwinden lässt, die belegen, dass Selenskyj & Co die grassierende Korruption in der Ukraine „bekämpft“ haben, indem sie ein Teil davon wurden (Stichwort: „Panama-Papers“). Die Löschung dieser Recherchen ist eine Möglichkeit. Die „clevere“ ist die, dass man ihre Erreichbarkeit manipuliert, also massiv einschränkt.
Das gilt natürlich auch für den gegenwärtigen israelischen Krieg in Gaza.
Es gab in den „Kriegspausen“ immer wieder einmal sehr gute Reportagen und Filme, die die „andere“, also die palästinensische Sicht beleuchteten bzw. zu Wort kommen ließen. Das stört jetzt und man handelt:
Die ARD strich im November 2023 den preisgekrönten palästinensischen Film “Wajib” aus dem Programm. Die ARD teilt dazu mit, „vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in Nahost“ sei der Film aktuell „nicht richtig im Programm platziert, da er aufgrund seiner Erzählperspektive missverstanden werden könnte“.
Ist eine Erzählperspektive nur dann richtig, wenn sie nicht stört?
From the river to the sea
Ein besonders absurdes Beispiel zum Abschluss dieses Rundganges, bei dem es einem schwindlig werden sollte:
Was sich belanglos und naturverbunden anhört, ist eine Straftat, wenn Sie das laut sagen. Diese Parole wird in Deutschland und überall dort, wo „bedingungslose Solidarität mit Israel“ geübt wird, bedingungslos als antisemitischer Code erkannt, den man wiederum mit Vernichtungsfantasien kurzschließt:
„Bereits Anfang November hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) die Palästinenserparole „From the River to the Sea, Palestine will be free“ verboten. Diese sei ein Kennzeichen der verbotenen Organisationen Hamas und Samidoun. Sie hat damit eine zentrale Parole der palästinensischen Bewegung für strafbar erklärt, ohne das Strafrecht zu ändern und ohne den Bundestag oder die anderen Ressorts der Bundesregierung zu beteiligen. Wie aktuell bekannt wurde, wendet nicht nur die Polizei in Berlin, sondern auch die Staatsanwaltschaft in München das Verbot bereits an.
Die Parole ist hoch umstritten, weil die Formulierung „From the River to the Sea“ den Fluss Jordan und das Mittelmeer meint, also das Gebiet, in dem heute der Staat Israel liegt. Viele Beobachter:innen sehen in der Parole daher eine Verneinung des Existenzrechts Israels. Ende Oktober hat Hessens Justizminister Roman Poseck (CDU) eine Initiative angekündigt, das Strafgesetzbuch zu verschärfen. Eine Leugnung des Existenzrechts Israels solle künftig strafbar sein, hier gebe es eine Strafbarkeitslücke.“ (taz vom 13. 11. 2023)
Die Israelexpertin und Innenministerin Nancy Faeser hatte zudem bei besagter Parole die Eigentümerfrage geklärt. Im Zuge der Verbotsverfügungen gegen das Netzwerk Samidoun in Verbindung mit einem Betätigungsverbot für Hamas hat sie die Parole „‚Vom Fluss bis zum Meer‘ (auf Deutsch oder in anderen Sprachen)“ als deren Kennzeichen erkannt und verboten.
Seitdem kann diese Parole mit Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren verfolgt werden.
Dass Frau Faeser dabei die Geschichte dieser Parole willkürlich und vorsätzlich verstümmelt, weiß sie. Denn diese Parole wurde bereits in den 1960er Jahren gerufen, als Antwort auf die israelische Besatzung nach dem „Blitzsieg“ 1967, verknüpft mit der Idee von einem Staat Palästina, in dem weder die Hautfarbe, die Religion oder Herkunft eine (privilegierte) Rolle spielen sollen. Die Hamas gab es damals noch nicht.
Damit nicht genug:
Genau diese Parole, die eindeutig verbotenen palästinensischen Gedanken zugeordnet werden soll, hat … bitte tief durchatmen … Netanyahus Regierungssprecher Hananya Naftali im Dezember 2023 auf X gepostet. Unterlegt hat er seinen Post mit einer israelischen Flagge und mit „YES“ abgesegnet.
Das „Archiv of silence“ sammelte alleine zwischen Oktober 2023 und März 2024 über 110 Fälle in Deutschland, die diese Zensur- und Kriminalisierungspolitik im kulturellen Bereich dokumentieren.
Eine Diskussion über das Recht auf Vergleiche (also auch falsche), eine Diskussion über das Recht auf Widerstand, eine Diskussion über den Missbrauch des Antisemitismusvorwurfes, sollte keinen öffentlichen/städtischen Platz finden. Zu denen, die diese staatliche Boykottpolitik begrüßten und unterstützen, gehört auch jene Staatsministerin für Kultur und Medien, die plötzlich nichts von Boykottaufrufen in der Kultur hält. Ein Chamäleon an Verlogenheit.
Break the silence
Das Prinzip ist wie so oft dasselbe. Zuerst verschweigt man diesen Boykottaufruf – soweit wie möglich. Wenn das nicht mehr gelingt, muss man die Idee und die Beteiligten in den schrillsten Tönen und grellsten Farben denunzieren.
Tatsächlich gewinnt die Kampagne Zustimmung und zeigt Wirkung.
Im Berliner Techno-Club Berghain führte der Aufruf zu Absagen von DJs. Sie hatten ab dem 26. Januar beim CTM-Festival für experimentelle und elektronische Musik auflegen wollen. Den Angaben zufolge kamen die Absagen von DJs aus den Niederlanden, Großbritannien und Uganda.
Die bosnische Schriftstellerin Lana Bastašić, die den Aufruf auch unterzeichnet hat, trennte sich von dem Frankfurter S.-Fischer Verlag. Dieser habe es nicht nur versäumt, zu dem „Genozid“ Israels im Gazastreifen Stellung zu beziehen; er habe während der vergangenen zwei Monate auch zur „systemischen und systematischen Zensur“ in Deutschland geschwiegen, so der Vorwurf von Lana Bastašić.
Fast zwei Monate später sieht sich die FAZ bemüßigt, das Verschwiegene doch zur Sprache zu bringen. Das liegt nicht an einer langsam gewachsenen Einsicht, dass Silencing die Demokratie nicht schützt und dass man daran nicht mehr länger teilnehmen will. Diese Reflektion findet nicht statt. Stattdessen findet eine wirklich bemerkenswerte Erinnerung statt, die plötzlich wieder von den Toten aufersteht.
Die Professorin für Englische Literaturwissenschaft Eva von Contzen schreibt für die FAZ am 5.3.2024:
„Der anonyme Aufruf ‚Strike Germany‘ macht seit Anfang Januar Schlagzeilen: Unterstützt von prominenten Unterzeichnerinnen wie der Komparatistin Judith Butler und der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, fordert die Initiative, so ist auf ihrer Homepage zu lesen, Kulturarbeiter auf, deutsche Kulturinstitutionen zu bestreiken, weil diese mit Methoden des McCarthyismus die Meinungsfreiheit einschränkten und Solidaritätsbekundungen mit Palästina nicht zuließen. Es hat in den letzten Wochen eine ganze Reihe von Nachrichten gegeben, wonach der Boykottaufruf tatsächlich befolgt wird. Betroffen sind zunächst die großen Branchen der subventionierten Kultur, Musik, Literatur und Film. ‚Strike Germany‘ erwähnt explizit aber auch die Wissenschaft: Wissenschaftliche Institutionen in Deutschland seien wie der Kulturbetrieb vom staatlich oktroyierten Meinungs- und Redefreiheitsverbot betroffen.“
Nun könnte man annehmen, dass die Autorin etwas zu den Vorwürfen und den zahlreichen Beispielen sagt, die diesen McCarthyismus belegen. Das tut sie aber nicht. Sie spricht als „Opfer“ dieser Kampagne, denn sie bekam – mit Verweis auf „Strike Germany“ – eine Absage einer Professorin aus den USA für eine von ihr mitbetreute Tagung an der Mainzer Akademie der Wissenschaften.“
Und jetzt ist ihre Reaktion bemerkenswert. Sie ruft eloquent und wohlwissend all das auf, was seit Jahren mit Füssen getreten und mit ganz viel Schweigen mitgetragen wird.
Zuerst beklagt sie etwas, was am aller wenigsten etwas mit der Kampagne zu tun hat, wenn sie konstatiert, „dass die Bereitschaft, Wissenschaft und Politik auseinanderzuhalten, zurückgeht.“
Man reibt sich die Augen: Wer den Wissenschaftsbetrieb nur halbwegs kennt, weiß, wie abhängig Wissenschaft von politischen Machtapparaten ist. Das wurde doch in den Corona-Zeiten überdeutlich. Wer als WissenschaftlerIn nicht beim Mono-Diskurs mitmachte, war aus dem Rennen. Und wenn man berücksichtigt, wer „die Wissenschaft“ finanziert, der kann doch nicht ernsthaft davon reden, dass diese Kampagne die Unabhängigkeit von Wissenschaft gefährde bzw. in Frage stellt.
Wenig später ruft sie Prinzipien der Wissenschaft wach:
„Um die Komplexität der Wirklichkeit und ihrer kulturellen Spiegelungen zu erfassen und auszuhalten, bedarf es der Kritik und des Dialogs, der Grundpfeiler dessen, was die Geisteswissenschaften prägt und auszeichnet. (…) Bei aller Differenz sollte doch der akademische Dialog gerade eine Aushandlung unterschiedlicher Meinungen und Positionen ermöglichen, anhand von konkreten Beispielen und über die Beispiele hinaus. So kann auch die Literaturwissenschaft einen zentralen Beitrag zur Formung und Schärfung von kritischem Denken leisten: Wer eine Philologie studiert, lernt, Vielschichtigkeit wahrzunehmen, Ambiguitäten zu erkennen, Zwischentöne herauszuarbeiten, Aussagen auf den Prüfstand zu stellen und scheinbare Wahrheiten zu hinterfragen. Literaturwissenschaft ist der praktizierte Perspektivwechsel. Dass nun auch der wissenschaftliche Austausch über unterschiedliche Perspektiven durch eine Initiative wie „Strike Germany“ behindert wird, ist desaströs – für alle Seiten.“
Man möchte ihr zurufen: Ja doch! Genau diese bescheidenen Verweise auf die Erkenntnisse der Aufklärung, auf die elementaren Prinzipien der Wissenschaft haben wir seit Jahren getätigt … und man hat uns ausgelacht und verhöhnt.
Wer in den letzten beiden Vorkriegsjahren darauf besteht, dass der Angriffskrieg Russlands 2022 in der Ukraine nicht der erste (in Europa) war und die Gründe dafür von denen mit geschaffen wurden, die nun unsere Freiheit auch dort verteidigen wollen, der darf dies in den öffentlich-rechtlichen-privaten Anstalten sagen – nur einmal. Dann ist man aus dem Rennen, wie Ulrike Guérot.
Wer mit dem Blick auf den israelischen Einmarsch in Gaza 2023 erwähnt, dass der „7. Oktober“ keine Erklärung ist, sondern ein Tag, dem Monate und Jahre (der Besatzung und Unterdrückung) vorausgingen, der wird als Sympathisant der Hamas denunziert. Wer dem Vorwurf widerspricht, die Palästinenser seien vom Antisemitismus getrieben und einwirft, dass die Palästinenser keinen imaginären Feind brauchen, bekommt keine Einladung, diesen Widerspruch zu begründen. Dieser Vorwurf hält sich nur reflexartig und unantastbar, weil es keine offenen Kontroverse dazu gibt, weil man die Sichtbarkeit der politischen Differenzen nicht aushalten würde.
Wer laut vernehmbar sagt, dass man Jüdin in Deutschland sein kann, wenn man der deutschen Staatsraison folgt, dann kann man das sagen – einmal, wie Deborah Feldman.
Der verschrottete Prüfstand
Wo bleibt die Bereitschaft, „Aussagen auf den Prüfstand zu stellen und scheinbare Wahrheiten zu hinterfragen“?
Wo sind die Talkshows, die öffentlichen Veranstaltungen, wo diese Widersprüche zur Sprache kommen?
Ausgerechnet der Kampagne „Strike Germany“ vorzuwerfen, dass sie das verunmögliche, ist doch eine Schuldverschiebung par excellence.
Auch der Hinweis von Eva von Contzen, dass es einen großen Erkenntnisgewinn gibt, wenn man einen „Perspektivwechsel“ praktiziert, ist großartig.
Aber genau dieser wird doch nicht durch „Strike Germany“ verunmöglicht, sondern eingefordert.
Ich halte von dieser Möglichkeit sehr viel – nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen. Denn in der Tat folgen meine Gefühle nicht dem Grenzverlauf zwischen Israel und Palästina.
Denn erst wenn ich den Horror nachempfinden kann, den Israelis am 7.Oktober 2023 erlebt haben, kann ich erahnen, was es bedeutet, wenn man dem tagtäglich ausgeliefert ist, in Form von „normalen“ Schikanen bis hin zu dem doch sehr besonderen Gefühl, im eigenen Land eine Gefangene zu sein.
Zu guter Letzt möchte ich die Bereitschaft zum „Perspektivwechsel“ auf die Probe stellen.
Stellen Sie sich, Frau Eva von Contzen, einmal vor, die Lage wäre Folgende:
Die Palästinenser hätten ein Mauer rund um Israel errichtet. Sie wird schwer bewacht und ist fast unüberwindbar. Selbst das Meer bietet keine Fluchtmöglichkeit. Das Leben der Israelis ist total vom Wohlwollen der Palästinenser abhängig. Ob sie genug Wasser haben, genug zu essen, ob sie festgenommen oder getötet werden, liegt in der Hand der Palästinenser. Die unzähligen Klagen der Israelis, dass all das seit Jahrzehnten gegen internationales Recht verstößt, verhallen. Und wenn sie mit friedlichen Mitteln dagegen aufbegehren, wird der Aufstand blutig niedergeschlagen.
Frau Eva von Contzen: Kennen Sie einen Artikel, eine Sendung, eine Diskussionsrunde, die diesen Perspektivwechsel vorgenommen hat?
Wolf Wetzel
Aufruf: „STRIKE GERMANY“: https://strikegermany.org/
„Strike Germany“: Was hinter dem Aufruf zum Boykott deutscher Kultureinrichtungen steckt, deutschlandfunk.de vom 18.1.2024: https://www.deutschlandfunk.de/strike-germany-was-hinter-dem-aufruf-zum-boykott-deutscher-kultureinrichtungen-steckt-100.html
„STRIKE GERMANY“: Erste Zungen stehen still, faz.net vom 5.3.2024: https://www.faz.net/aktuell/wissen/forschung-politik/strike-germany-in-der-wissenschaft-erste-zungen-stehen-still-19531375.html
Kontroverse um Autorin Adania Shibli: Lob des Universalismus, Ilija Trojanow: https://taz.de/Kontroverse-um-Autorin-Adania-Shibli/!5963724/
Roger Waters in der Messehalle in Frankfurt am 28.5.2023 und die Allianz der Niederträchtigen, Wolf Wetzel, 2023: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/roger-waters-und-die-allianz-der-niedertraechtigen/
Offener Brief an Markus Lanz, Wolf Wetzel,2023: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-2-0/offener-brief-an-markus-lanz/
Archive of silence: https://docs.google.com/spreadsheets/d/1Vq2tm-nopUy-xYZjkG-T9FyMC7ZqkAQG9S3mPWAYwHw/edit#gid=1227867224
Preis für Journalist*in Masha Gessen: Immer noch ein Eklat mehr: https://taz.de/Preis-fuer-Journalistin-Masha-Gessen/!5980312/
Post von Hananya Naftali am 10.Dezember 2023 auf X: https://archive.is/bD6Dy
Stimmen aus dem israelisch-palästinensischen Transitbereich, Wolf Wetzel, 2023: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/stimmen-aus-dem-israelisch-palaestinensischen-transitbereich/
PalästinenserInnen brauchen keinen imaginären Feind, Wolf Wetzel, 2024: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/01/09/palaestinenserinnen-brauchen-keinen-imaginaeren-feind/
In (nicht nur) eigener Sache, Moshe Zuckermann, 2024: https://overton-magazin.de/top-story/in-nicht-nur-eigener-sache/
The spiraling absurdity of Germany’s pro-Israel fanaticism, Michael Sapir, +972 Magazine, 2024: https://www.972mag.com/germany-israel-palestine-solidarity-repression/?utm_source=972+Magazine+Newsletter&utm_campaign=73dd146f0d-EMAIL_CAMPAIGN_9_12_2022_11_20_COPY_01&utm_medium=email&utm_term=0_f1fe821d25-73dd146f0d-318824121
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