Warten auf … Godot.

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Warten auf … Godot.

Die Wellen der Empörung, Niederträchtigkeit und Enttäuschung werden immer größer und höher. Man erlebt Überschwemmungen jeder Art, ob als „Naturkatastrophe“ oder als politisch-gewollter Dammbruch. Wir wissen vieles, wir wissen oft alles besser. Wir schlagen uns das um die Ohren. Auf was warten wir?

Man kann die Corona-Politik die letzten Jahre nehmen, den Kriegswillen der Bundesregierung, endlich die betrauerte 80-jährige kriegerische „Zurückhaltung“ aufgegeben zu haben, um an die Kriegsfront zurückzukehren, wo Deutschland schon für zwei Weltkriege sorgte.

Die in den 1980er Jahren vom Bundeskanzler Helmut Kohl ausgerufene „geistig-moralische Wende“ sollte den „gesunden“ Nationalismus, die Freude am konservativen Deutschsein wieder satisfiktionalisieren. 30 Jahre später sorgte die SPD für ein Update und rief die „Zeitenwende“ aus. Wenn „deutsche Interessen“ wieder salonfähig und zum schützenswerten Welt-Kulturgut erhoben werden, dann ist der nächste Schritt geradezu angelegt: Dann muss man diese auch in aller Welt verteidigen, wobei Angriff die beste Verteidigung ist, was einer einfachen Fußballregel folgt. Ging es bei der „geistigen Wende“ Kohl’scher Diktion um die innere Verfasstheit innerhalb bestehender Grenzen, so gibt es bei der „Zeitenwende“ keine Grenzen, kein Halt/en mehr.

Dazu gehört, endlich den „Russen“ das heimzuzahlen, was die rote Sowjetfahne auf dem Reichstag in Berlin 1945 angerichtet hat. Dazu gehört eben auch eine innere Feinderklärung, die sich endlich fast zügellos entfalten kann. Diese neuen inneren Feinde sind etwas ganz Besonderes. Sie sind keine Systemfeinde, sie haben nicht zum bewaffneten Kampf gegen die Bundesregierung aufgerufen. Sie haben fast alle zum „guten“ und „besseren“ Deutschland gehört, was der nicht ganz so helle Ex-Bundespräsident Gauck zum „Helldeutschland“ machte.

Die neuen inneren Feinde sind ein illustrer Haufen: Das reicht vom Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der es vom „Genossen der Bosse“ (um die Jahrhundertwende) zum „Putinfreund“ (ab 2022) schaffte. Dazu gehört auch ein Till Schweiger, der lange ein taffer, junger und beliebter Schauspieler und Regisseur war, bis er die Covid-19-Impfungen seiner Kinder ablehnte und das auch noch sehr genau begründete. Erst recht gehörten dazu alle Schauspieler und SchauspielerInnen, die bei den Video-Clips gegen zahlreiche Corona-Maßnahmen („#allesdichtmachen“) auf ironische Weise Stellung bezogen. Als sie damit nicht aufhörten und nicht kuschten, sondern eine zweite Serie („#allesaufdentisch“) starteten, die mit nüchternen und evidenzbasierten Fakten aufwartete, wurde es noch rabiater. Man drohte ihnen an, dass sie „Berufsverbot“ kriegen, zumindest dort, wo staatlichen Institutionen das Sagen haben. Und seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine 2022 läuft eine „Sonderoperation“ in Deutschland der besonderen Art: Alle, die einst die Entspannungspolitik Willy Brandts und den gigantischen Schröder-Deal mit Russland (Nordstream I und II) begrüßten und sich dabei en passant eine goldene Nase verdienten, nicht begreifen wollten, dass das alles ab Februar 2022 als naiv und schädlich gelabelt wird, werden abgeschaltet, denunziert und von Bord geworfen. Das reicht von der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot bis zu der ehemaligen hoch geschätzten ARD-Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz.

Die Zeitenwende als Wildcard

Das geht jetzt schon ziemlich lang so und von einem Versehen kann nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Jetzt wird abgeräumt, auch die letzten Reste eines bürgerlichen Selbstverständnisses, das Schutzrechte gegenüber dem Staat als Errungenschaft, im Kampf gegen Feudalismus und Faschismus begriffen hatte.

Gerade haben sich die ehemaligen Geheimdienstchefs des Auslandgeheimdienstes (BND) August Hanning und Gerhard Schindler in der BILD-Zeitung zu Wort gemeldet. Bereits die Überschrift zeigt Kriegswillen:

Exklusiv: BND nur bedingt einsatzbereit. Ex-BND-Chefs nennen Nachrichtendienst „zahnlosen Wachhund“ (BILD vom 6.8.2023)

Mit „bedingt einsatzbereit“ will man auf den angeblich verlotterten Zustand der Bundeswehr verweisen, die überall in der Welt mitmischt und stolz ihre „Auslandseinsätzen“ aufzählt, aber eigentlich nicht mal Deutschland schützen könne. BILD gewährt diesen stramm rechten Ex-BND-Männern einen „Gastbeitrag“.

Diese wollen auch die „Zeitenwende“ durchbuchstabieren und wollen „nicht nur die Rückkehr der klassischen Kriegsführung, sondern (…) auch eine Veränderung der gesamten Sicherheitsarchitektur unseres Landes.“

Dann kommen sie ziemlich schnell zur Sache. Dabei ist bemerkenswert, dass sie nicht ihre (mangelhafte) Ausstattung in den Vordergrund rücken. Schließlich hat der BND über 6.000 Mitarbeiter. Es geht ihnen darum, dass sie beim dem, was ihnen möglich ist, nicht gestört werden. Sie beklagen, dass sie kontrolliert werden, obgleich jetzt doch das „Wichtigste“ sei:

„Politik und Gerichte dürfen Nachrichtendienste nicht länger als Bedrohung für die Rechte deutscher Bürger verunglimpfen. (…) Die Nachrichtendienste dürfen nicht weiter zum zahnlosen Wachhund mit Maulkorb und Eisenkette degeneriert werden.“

Das ist schon besonders dreist! Denn die Geschichte des BND ist ein Parcours der Rechtsbrüche, auf nationaler und internationaler Ebene. Dazu gehört, dass der BND unter anderem die SPD-Führung abgehört hatte, Spitzel beim Spiegel platzierte und verfassungswidrig beim weltweiten Überwachungsprogramm des NSA mitmachte.

Und wenn der Ex-BND-Chef Hanning zu seiner Amtszeit forderte, rechte „Randgruppen“ zu integrieren, dann war das auch ein verstecktes Selbsthilfeprogramm. Niemand anderes als der BND war jahrzehntelang der Pate eines paramilitärischen Ausbildungs- und Trainingslager für Ex-Nazis und Jung-Nazis, die „hinter den Linien“ kämpfen sollten. Dabei arbeitetet von ganz oben bis ganz unten Ex-Nazis und Jungnazis eng und vereint zusammen: Diese paramilitärische Truppe nannte man „stay behind“ und wurde bereits in den 1950er Jahren vom BND betreut, an dessen Spitze der Generalmajor der Wehrmacht und Nazi Reinhard Gehlen stand. Im Dritten Reich war er Chef der „Abteilung Fremde Heere Ost“ – dem Auslandsgeheimdienst der Nazis gegen die Sowjetunion. Man kann auch sagen: Er machte da weiter, wo er durch die militärische Niederlage 1945 kurz aufgehalten wurde.

Wie gesagt, fast alles und mehr passierte mehr oder weniger unbehelligt die „Kontrollinstanzen“, die die die beiden EX-BNDler für störend halten. Man kann sich also vorstellen, was uns bevorsteht, wenn selbst diese verschwinden und der Wachhund ganz von der Leine gelassen wird.

Was tun?

Es ist kein Geheimnis, dass der Protest dagegen vernachlässigbar ist. Und damit meine ich einen Protest, der zum Problem für die Gewählten und die nicht gewählten Regierenden wird. Dafür sorgt zum einen die Polizei mit ihrem martialischen Aufgebot und eine Auflagenpolitik, die eine Demonstration in eine selbst organisierte Demütigung verwandelt. Zum anderen gehören die Gegen-Gegendemonstranten dazu, die auf eine dumme und geschichtslose Weise die Narrative der Regierung übernehmen (und überbieten), dass man am Ende nicht weiß, auf wen man mehr Wut haben muss. Auf die Regierenden, die wissen, wem sie dienen oder jenen, die, die diese verteidigen, indem sie behaupten, dass die Maßnahmen unserem Wohl dienen.

Das führt auf Dauer zu dem, was wir seit ein paar Jahren feststellen: Die wachsende Wut und Hilflosigkeit zieht sich ins Private zurück, versucht alleine klar zu kommen.

Was übrig bleibt, ist der Blick auf die Parteien, auf die eine „Stimme“, die man in die Urne werfen kann. Deshalb wird fast nur noch darüber geredet und geschrieben, wie man es mit der Partei DIE LINKE halten soll. Man spekuliert über eine Spaltung. Man wartet auf N.N, also auf den Wagenknecht-Flügel.

Auf der Tribüne ändert man kein Spiel auf dem Rasen

Das ist ein Spiel, das nun seit 100 Jahren so gespielt wird. Nach dem Ersten Weltkrieg setzten Millionen von Menschen auf die SPD, obwohl es keinen ernsthaften Grund dafür gab. Sie hat 1914 den Kriegskrediten zugestimmt und als sie als Retter der kapitalistischen Ordnung gerufen wurde, kam sie herbeigerannt und hat ganz nebenbei noch die Dienste der Freicorps in Anspruch genommen, alles niederzuschlagen, was einen Kapitalismus (auch ohne Kaiser) nicht länger ertragen wollte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte man lange die SPD nicht, bis das „Wirtschaftswunder“ über das Schweigen faschistischer Kontinuitäten nicht länger hinwegtäuschen konnte. Die SPD bewies sich ein weiteres Mal als Retter und Blender: „Mehr Demokratie wagen“ war die Parole der Willy Brandt Ära, bis es zu viel wurde und die SPD unter Helmut Schmidt mit der Krisenstab-Diktatur bewies, dass man sogar hinter die 1950er Jahre zurückfallen kann. Der „bleiernen Zeit“ folgten prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, mit dem größten Niedriglohnsektor in der EU. Die massive Repression brachte erneut eine Selbsttäuschung zur neuen Blüte: Die GRÜNEN. Man wolle ganz anders ein, versprachen die GRÜNEN und das verwirklichen, was man auf der Straße nicht erreichen konnte. Das war zwar geschichtslos, aber ein passabler Selbstbetrug. Der schönste Spruch kam aus Frankfurts Finanzmetropole:

Früher besetzten wir Häuser, heute Parlamentssitze.

Man gab sich flott radikal und schaffte es soweit, dass man die GRÜNEN – ohne sie zu beleidigen – rechts von alledem verorten kann.

Als auch diese Blume vertrocknet war, kam die Partei DIE LINKE zum Vorschein. Sie war schon gar nicht visionär und schon gar nicht parlamentskritisch – so wie die GRÜNEN, die anfangs das Parlament noch als „Spielbein“ ausgaben, und das, was außerhalb stattfindet, als „Standbein“ deklarierten. Die LINKE war durch und durch parlamentarisch und verspielte sich in den Jahren ihrer Präsenz allen Zuspruch aus dem außerparlamentarischen Raum. Zuletzt ließen sie die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, die sehr erfolgreich war, erbärmlich im Stich, weil ihnen eine Regierungsbeteiligung deutlich mehr wert war, als an der Seite dieser Initiative zu stehen. Und was man im Kleinen praktizierte, wiederholt man auch auf bundesweiter Ebene. Die Corona-Politik kritisierte man nicht anhand ihrer Maßnahmen, sondern nur als sozial unausgewogen. Man unterließ jedes Engagement, sich gegen diesen Ausnahmezustand zu wehren. Auch der Umgang mit dem NSU-VS-Komplex, der Aufklärung der neonazistischen Mordserie macht die LINKE überflüssig: Als sie in Thüringen noch in der Opposition war, wollten es die linken Mitglieder im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) wissen. Sie sorgten für den bestmöglichsten Abschlussbericht des PUA, in dem sowohl die Beteiligung des Verfassungsschutzes beim Gewähren-lassen des NSU, also auch die Selbstmordthese in Frage gestellt wurde. Man versprach echte politische und strafrechtliche Aufklärung, die Auflösung des Verfassungsschutzes, bis … sie Regierungspartei in Thüringen wurde.

Und mit der Kriegspolitik der Bundesregierung verschwindet die LINKE im politischen und gesellschaftlichen Nirwana. Weder greift sie die deutsche Bundesregierung als Kriegspartei an, wozu sie auch parlamentarisch einige Möglichkeiten hätte. Noch geht sie offensiv mit dem Faktum um, dass dieser Krieg auf dem Territorium der Ukraine sehr lange vom Westen vorbereitet wurde, wenn Russland sich nicht damit abfindet, dass sie seit 30 Jahren belogen und betrogen wurden (angefangen mit den Zusagen im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche 1990/91 bis hin zum Minsk-Abkommen I und II 2014).

Warum sollte eine „Wagenknecht-Partei“ aus diesem Schema ausbrechen?

Wen ich die Unterströmungen dieser Debatte verfolge, dann sollten wir etwas Anderes nicht unerwähnt lassen: Die sogenannte „Alternative für Deutschland“ (AfD).

Dabei geht es mir nicht um stramme Rechte, um den Höcke-Flügel, der doch nicht falsch zu verstehen ist. Auch die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel ist kerzengerade reaktionär, wenn sie sich zur „Festung Europa“ bekennt, die man verteidigen müsse. Und wer das AfD-Gerede gegen „die da oben“ nicht nur affektiv gut findet, sondern auch nach praktischen Konsequenzen sucht, der kann sehr schnell herausbekommen, was die AfD gegen Altersarmut, für auskömmliche Renten, gegen den größten Niedriglohnsektor in der EU, für einen höheren Mindestlohn unternimmt. Nichts.

Als im Juni 2022 der Mindestlohn auf 12 Euro angehoben wurde (was nicht einmal die Inflation ausgleicht), enthielten sich die CDU und die AfD der Stimme. Vielleicht wollten beide ja (viel) mehr? Von wegen: Der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter las vielmehr aus dem Märchenbuch vor:

„Ein gesunder Markt bräuchte keinen Mindestlohn, er hat nämlich Regeln, und er hat Grenzen.“ (stern.de vom 3.6.2022)

Es geht mir um die recht Vielen, die sich selbst gar nicht für rechts halten und auch gar nicht rechts eingestellt sind. Sie werden wahrscheinlich zustimmen, wenn man im Detail aufführt, dass die AfD eben keine Alternative ist, sondern Einpeitscher bei der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Aber, werden sie sagen, darum gehe es doch jetzt nicht: Man wolle denen da oben eines auswischen, mit einer Stimme für die AfD. Damit wischt man aber nicht „denen da oben“ eines aus! Das einzige, was man damit macht, ist die eigene Ohnmacht zu kaschieren, so zu tun, als tue man etwas.

Solidarität heißt (eben nicht) zuhause zu bleiben.

„Bleibt zuhause. Seid solidarisch“. Diese Parole aus der Corona-Zeit hat das Potenzial für die Dystopie „1984“.

Diese Sinnentleerung mit Wohlfühlfaktor hat es mit der Corona-Politik bis ins Innere geschafft. Allein zu sein, alleine zu bleiben, wurde als Solidarität ausgegeben. Noch nie war „Solidarität“ so häuslich, so ergeben, so unterwürfig wie in Corona-Zeiten. Diese sind jedoch nicht zuende, denn diese Erfahrung hat wie der Impfstoff Langzeitwirkungen.

 

Wahlen sind, nicht erst seit Corona, ein Art Impfstoff. Man glaubt, Einfluss auf das große Ganze zu nehmen, indem man ein Kreuz macht. Man kann dabei sogar zuhause bleiben, alleine, sich selbst betrügen.

Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie

Wir haben doch eh keine (andere) Chance, werden viele laut oder stumm antworten.

In das eigene Leben wieder einzugreifen, sich das Leben (jenseits der vier Wände) wieder anzueignen, selbst das Leben zu planen, anstatt verplant zu werden, nicht länger geduldig zu sein, sondern zu bestimmen, Einfluss zu nehmen, ist der angesprochene Gedanke der „Commune“. Dabei geht es eben nicht um eine ländliche Idylle, um eine Landkommune, die aufs Land zieht, um dort zu verwirklichen, was in der Stadt nicht möglich bzw. gescheitert ist. Der Gedanke der „Commune“ meint nicht Flucht, sondern Wiederaneignung von Raum, von Wünschen, von Gestaltungsmacht. Es ist unser Leben, es ist unser Stadtteil, unsere Stadt. Wir begraben den Kunden und kehren als kollektives Subjekt zurück. Wir planen, wir artikulieren unsere Bedürfnisse, wir gestalten, wir entscheiden. Wenn das ein schöner Traum ist, und wir beim Träumen nicht aufhören, dann geht es nicht um eine temporäre Intervention, um ein Blitzlicht des Widerspruchs, um die Verwendung der Tastatur, sondern um die Idee einer permanenten Präsens, genau das, was die Commune in Paris für einige Zeit war.

Nachklang mit Erich Kästner

Ich habe ein sehr schönes, sehr realistisches Gedicht zugeschickt bekommen, von einem Mann geschrieben, den man ja gerne verspielt und witzig in Erinnerung behalten möchte: Erich Kästner.

Vielleich konnte er auch so witzig sein, weil er sich nichts vormachte. Das folgende Gedicht stammt aus dem Jahr 1931, als vielen noch un/denkbar, vieles vorhersehbar und vieles nicht gesehen werden wollte.

 

Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie.
Sie wächst zu rasch. Es wird ihr schlecht bekommen.
Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen:
So groß wie heute war die Zeit noch nie.

Sie wuchs. Sie wächst. Schon geht sie aus den Fugen.
Was tut der Mensch dagegen? Er ist gut.
Rings in den Wasserköpfen steigt die Flut.
Und Ebbe wird es im Gehirn der Klugen.

Der Optimistfink schlägt im Blätterwald.
Die guten Leute, die ihm Futter gaben,
sind glücklich, daß sie einen Vogel haben.
Der Zukunft werden sacht die Füße kalt.

Wer warnen will, den straft man mit Verachtung.
Die Dummheit wurde zur Epidemie.
So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung.

Erich Kästner 1931

Stimmungslage

Es gab recht viele Kommentare zu diesem Beitrag. Wenn ich sie halbwegs gut eingeordnet habe, so haben über 50 Prozent der Kommentierenden eines gemeinsam: Sie wollen sich das Wählen, das Kreuz auf dem Wahlzettel nicht nehmen lassen. Da helfen keine Enttäuschungen und noch weniger die vielen Erfahrungen.

Wenn das mit dem Wählen schon etwa 100 Jahre schiefgegangen ist (wenn man von reaktionären bis faschistischen Wahlsiegen absieht), dann ist das doch kein Zufall, kein Einzelfall, sondern vielleicht etwas Systemisches, das sehr wenig von unserem individuellen Wahlverhalten abhängt.

Dann müsste man sich doch fragen, ob man sich ein anderes System der gesellschaftlichen Beteiligung, gar der Selbstbestimmung vorstellen kann? Dass es diese Versuche in der Geschichte gab, meist sehr kurz und von denen massakriert, die uns dann zu den Wahlurnen rufen (oder darauf ganz verzichten), haben sofort einige eingeworfen, um sich die nächste Enttäuschung ja nicht nehmen zu lassen. Sie finden den gemachten Hinweis auf die (Pariser) Commune überholt und vergeigt. Ähnlich hart würde es dem Hinweis auf die Räterepublik 1918/19 oder auf die portugiesische (Nelken-)Revolution 1974 ergehen, in der Arbeiter- Bauern- und Soldatenräte das Leben der Menschen organisieren sollten.

Mehr noch. Ich weiß, dass das Thema Ohnmacht ein schwieriges ist. Mir fällt es auch schwer, sie auszuhalten, sie an mich heranzulassen, ohne sie auf meinen „Thron“ zu lassen.

Aber es ist doch bemerkenswert und des Nachdenkens wert, dass es auf meinen Beitrag ganz viele Kommentare gab, die das bestehende Wahlsystem auf keinen Fall über Bord werfen wollen, sondern sich daran klammern wie an einen Schwimmring: Eine lange Debatte unter den Foristen wurde darüber geführt, ob man nicht eine „Querfrontstrategie“ befürworten soll. Also so etwas wie eine Koalition, eine Zusammenarbeit von AfD und die LINKE und wer noch dieser „Querfront“ betreten will.

Das ist kein Ausweg, sondern die Spitze einer jeglichen inhaltlichen Selbstaufgabe. Aber vielleicht ist die „Querfrontidee“ nur eine Spielpaarung mehr, bei der man auf der Tribüne sitzen bleiben kann.

Dass es nicht einfach ist, die Tribüne zu verlassen, ist kein neues Phänomen. Dass man kein neues Konzept aus dem Ärmel schütteln kann, ist naheliegend.

Aber dieses geradezu verbissene Klammern an einer aller letzten Parteienkonstellation, lässt doch die Annahme zu, dass bei aller Enttäuschung, die man mit Wahlen und –versprechen gemacht hat, diese eine sichere und selbstentlastende Bank ist, die man auf keinen Fall verlassen möchte. „Die anderen“ werden wieder einmal Schuld daran sein, was man mit ermöglicht hat.

 

Wolf Wetzel

Publiziert im Magazin Overton am 15.8.2023: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/warten-auf-godot/

 

Quellen und Hinweise:

Exklusiv: BND nur bedingt einsatzbereit. Ex-BND-Chefs nennen Nachrichtendienst „zahnlosen Wachhund“, BILB vom 6.8.2023: https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/geheimdienst-nur-bedingt-einsatzbereit-ex-bnd-chefs-fordern-spionage-reform-84939156.bild.html

Der deutsche Auslandsgeheimdienst BND – Enthüllungen als Teil einer Verhüllung, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2022/05/30/der-deutsche-auslandsgeheimdienst-bnd-enthuellungen-als-teil-einer-verhuellung/

Alles dichtmachen – Ein tolles Schauspiel mit Michel*ine als Hauptdarsteller*in, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2021/04/26/alles-dichtmachen-ein-tolles-schauspiel/

#allesaufdentisch … und die Schädlingsbekämpfung, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2021/10/06/allesaufdentisch-und-die-schaedlingsbekaempfung/

Birte hat sich rauskatapultiert, Wolf Wetzel: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/birte-hat-sich-rauskatapultiert/

 

Warten auf … Godot?

 

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Ein Kommentar

  1. Der Glaube an höhere Wesen – also an Repräsentanten – mündet zwangsläufige Elend. Wer soetwas für Demokratie hält, verdient auch nichts besseres.

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