„Zero Covid“ und die innere Ausgangssperre

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Zero Covid und Zero innere Ausgangssperre

„Die Gefängnisse des Innern sind schlimmer als die schlimmsten steinernen Verliese und solange sie nicht geöffnet werden bleibt all euer Aufruhr nur eine Gefängnisrevolte die niedergeschlagen wird von bestochenen Mitgefangenen.“ (Peter Weiss)

Keine Frage: Für ein tödliches Virus gibt es keinen Zaubertrunk, sonst wäre es keine tödliche Krankheit. Von daher sind alle Maßnahmen zur Eindämmung des Virus vorläufig, gewagt. Manche Virologen sagen es auch recht deutlich: Man fährt auf Sicht! Das macht man in der Regel, wenn man wenig sieht, wenn man sich im Dunklen vortastet, wenn um einen herum Nebel ist, was die Orientierung stark einschränkt. Jede Entscheidung unter diesen Bedingungen ist folglich mit einer großen Irrtumswahrscheinlichkeit verbunden.

Diese sehr große Vorläufigkeit der Erkenntnisse und die sich daraus ergebenen Schlussfolgerungen der Regierung vorzuwerfen, die sich für Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie entscheiden muss, ist unredlich.

Hier geht es also nicht darum, die einzelnen Corona-Maßnahmen zu prüfen und ggf. zu kritisieren. Es geht um eine vollkommene Dissonanz, wo die Corona-Maßnahmen gelten sollen und wo nicht. Da gibt keine Ungewissheiten, sondern sehr klare Bestimmbarkeiten.

Wenn man nach der Arbeit nicht ins Café, ins Kino gehen kann, wenn man sich am Wochenende nur mit einem weiteren Haushalt (plus x) treffen darf, wenn Groß-(und Klein-)veranstaltungen aus dem Freizeitangebot gestrichen sind, wenn man ab 22 Uhr nicht mehr aus dem Haus darf, dann kann das alles einen vernünftigen Grund haben: Man will das damit verbundene Infektionsrisiko minimieren. Das kann man im Großen und Ganzen noch einsehen und irgendwie als notwendige Einschränkung akzeptieren.

Dann kommt der nächste Morgen und alles, was vorher galt, was vorher vernünftig war, gilt mit einem Schlag nicht mehr: Man fährt in der vollen U-Bahn, dicht gedrängt im Bus zur Arbeit. Dort ist man mit sehr vielen Menschen meist mehr als acht Stunden zusammen, in geschlossenen Räumen. Das nimmt man hin, obwohl es genau das Gegenteil von dem ist, was man sich im Freizeit-Bereich an Einsichten angeeignet hat. Nach acht Stunden und mehr fährt man wieder nach Hause, im drängelnden Berufsverkehr.

Zuhause angekommen schaltet man wieder auf Einsicht und befolgt die Lockdown-Regeln für den ‚Feier‘abend, der es mit dem Feiern nicht mehr so wirklich hat. Irgendwie arrangiert man sich mit dieser dichotomen Welt und mit der eigenen Gespaltenheit. Vielleicht will man es auch gar nicht hinterfragen, denn es könnte die Befolgung der Corona-Maßnahmen erschweren, man könnte mit seinem eigenen Verstand zusammenstoßen und sich damit das Leben schwermachen. Ob man dies bewusst in Kauf nimmt oder mi einer großen Portion Verdrängung aushält, ändert am Ergebnis nichts: Faktisch gefährdet man sich jeden Tag, man verletzt sich selbst, nicht nur körperlich, sondern auch und gerade psychisch.

Corona-Massentest zur Einübung dissoziativen Verhaltens

Das nennt man in der Psychologie ein dissoziatives Verhalten, man kann auch sagen: Man versucht Unaushaltbares, Widersinniges auszuhalten und bestraft sich dabei selbst und damit.

Gefühle und Erfahrungen, die der Betroffene nicht ertragen kann und/oder nicht in sein Selbstbild integrieren kann, werden abgespalten. Die Psyche versucht, sich mit dieser Strategie selbst zu schützen. Verhaltenstherapeutische Konzepte nehmen an, dass verschiedene Faktoren bestimmte Menschen für diese Störungen anfällig machen. (…) Dissoziationen ermöglichen es dem Betroffenen, extreme Belastungssituationen erträglich zu machen und zu verarbeiten. Ist der Betroffene wiederholtem Stress ausgesetzt, so etabliert sich im Lauf der Zeit ein Mechanismus, der automatisch abläuft und nicht mehr nur auf konkrete psychosoziale Belastungen als Auslöser reagiert.“ (Dipl. Psychologin Doris Reile, http://www.psy-reile.de/diss_stoerung/diss_stoerung1.html)

 

Wenn man lange Zeit, über Monate hinweg Millionen von Menschen zu diesem dissoziativen Verhalten ermutigt, dann muss man es füttern, auf beiden Seiten. Man macht Angst, damit die Angst so dominant bleibt, dass man die Maßnahmen, sein eigenes angepasstes Verhalten, sein eigenes Tun noch aushalten kann. Dafür stehen die Bilder von Krankenhausbetten auf den Intensivstationen, die täglichen Infektions- und Sterbens-Grafiken, die Balken, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Gleichzeitig muss man auch Hoffnung machen, denn man will dieselben Millionen, denen man Angst vor dem Tod macht, auch zur Arbeit bringen, also für Lebens-Leistungen motivieren, die völlig im Gegensatz zu der Tatsache steht, dass sie acht bis zehn Stunden alles dafür tun, dass das Infektionsrisiko weiterhin gewaltig ist. Also muss man im selben Atemzug „Licht am Ende des Tunnels“ versprechen. Dabei geht es also um zweierlei: Man muss die Angst vor dem tödlichen Virus noch eine Weile aushalten und gleichzeitig aber auch den Irrsinn von Maßnahmen, die eine Spaltung betreiben, wo es eigentlich keine geben darf: Da der Privatbereich, der als Infektionsherd (weitgehend) eingeschränkt wird und dort der Produktionsbereich, der von den Corona-Maßnahmen explizit ausgeschlossen ist. In den Fabriken, in den Rüstungsfirmen, in der Autoindustrie läuft alles wie normal.

Man entscheidet sich nicht für das Leben, sondern zwischen zwei Ängsten

Wer sich an die Corona-Maßnahmen hält, wer sie für richtig erachtet, muss sozial und psychisch einiges aushalten: Man trifft sich nicht einfach so mit zwei, drei Freunden, abends, bei sich zuhause. Man bleibt unter sich, alleine, mit maximal einem zusätzlichen „Haushalt“. Am nächsten Morgen ist man auf dem Weg zur Arbeit, bei der Arbeit mit Dutzenden, mit Hunderten von Menschen zusammen und darf dabei beides nicht zusammendenken. Die sicherste Art, so einen Widersinn auszuhalten, ist Verdrängung.

Aber es kommt noch eine Angst dazu, die diesen dissoziativen Zustand noch verstärkt bzw. steigert. Eine Angst, die mindestens genauso berechtigt ist, wie die Angst vor dem tödlichen Virus. Es ist die Angst, im Zuge der Pandemie die (Lohn-)Arbeit zu verlieren.

Mit dieser Angst kann man sehr still umgehen, indem man sich nichts anmerken lässt und alles dafür tut, um keinen Entlassungsgrund zu liefern. Ein Grund mehr, genau das zu tun, was von einem verlangt wird (am besten noch etwas darüber hinaus), noch weniger auf die Rechte zu pochen, die man noch hat. Man liegt sicherlich nicht falsch, wenn man feststellt, dass die übergroße Mehrheit diesen Weg der Angstbewältigung geht.

Wer auf den Querdenker*nnen-Demonstrationen geht, geht einen anderen Weg. Er bleibt mit seiner/ihrer Angst nicht alleine und artikuliert sie. Sie artikulieren klar und deutlich Existenzängste. Von Seiten der GegnerInnen von Querdenkern wird ihnen vorgehalten, dass sie damit ihr egoistisches Anliegen in den Vordergrund stellen würde. Jetzt sei vielmehr Solidarität gefragt, die – sehr abstrakt – dem Gemeinwohl diene.

Gehen also die KritikerInnen von Querdenken anders mit ihrer Angst um? Eher nicht. Auch sie haben Angst um ihren Job, um ihren Arbeitsplatz. Auch sie wissen, dass sie gewissenhaft dabei mitmachen, in der Freizeit etwas zu befürworten, was sie während ihrer Lohnarbeit vergessen müssen.

Wenn man also nicht auf die Parolen schaut, sondern auf das konkrete Verhalten, dann stößt man verblüfft auf etwas Gemeinsames: Die QuerdenkerInnen demonstrieren gegen die Einschränkungen ihrer Freiheit in der Freizeit und gehen am nächsten Tag tadellos und ohne Aufbegehren zur Arbeit. Und die Geradeausdenkenden halten die Einschränkungen in ihrem Privatleben für notwendig und für einen Akt der Solidarität und gehen im selben Bus, in derselben U-Bahn zur (Lohn-)Arbeit, um zusammen das auszuhalten, was sie in der Freizeit so auseinanderbringt.

Diese gemeinsame Inkonsequenz könnte doch eine Basis sein, sich miteinander auseinanderzusetzen, anstatt sich in falschen Überlegenheiten zu sonnen.

Der Aufruf „Zero Covid“ – eine Chance

Der Aufruf konstatiert zu recht, dass die verschiedenen Lockdowns im Freizeitbereich die Pandemie nicht bekämpft haben, sondern im besten Fall „unter Kontrolle“ gehalten haben, also eine Art „stabile Seitenlage“, bis der Impfstoff das Exitangebot aus dieser lebensgefährlichen Hinhaltestrategie bereitstellt.

Um mit diesem lebensgefährdenden Strategie zu brechen, schlagen die Initiator*innen einen wirklichen Lockdown vor, der also nicht kapitalistischen, sondern gesundheitlichen Prämissen folgt:

„Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine solidarische Pause von einigen Wochen. Shutdown heißt: Wir schränken unsere direkten Kontakte auf ein Minimum ein – und zwar auch am Arbeitsplatz! Maßnahmen können nicht erfolgreich sein, wenn sie nur auf die Freizeit konzentriert sind, aber die Arbeitszeit ausnehmen. Wir müssen die gesellschaftlich nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft für eine kurze Zeit stilllegen. Fabriken, Büros, Betriebe, Baustellen, Schulen müssen geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden.“

Das ist aus virologisches Sicht eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber nicht in einer Welt, in der die Gesundheit ein (weicher) Kapitalfaktor ist, aber kein (unbezahlbares) Lebensgut.

Das ist der Kern dieses Aufrufes und der politische Sprengstoff, der in diesem Aufruf steckt. Er ruft im Kapitalismus zu etwas auf, was im Kapitalismus nicht vorgesehen ist, solange die Profite die Verluste, die Kollateralschäden überwiegen. Das ist nichts Neues, sondern genau das, was der Kapitalismus immer macht und was ihn so erfolgreich macht.

Der Aufruf hat über 40.000 Unterstützer*innen, findet also eine immerhin beachtenswerte Aufmerksamkeit. Man könnte also zuerst einmal froh sein und aufatmen. Endlich mal eine Initiative, die nicht der Bundesregierung – zwei Schritte voraus oder in ordentlichem Abstand dahinter – folgt, die aus dem Jo-Jo-Spiel der letzten Monate ausbricht und eine neue Karte auf den Tisch wirft. Denn ganz viele sind nicht verbittert über notwendige Maßnahmen, sondern wütend über die Willkür ihrer Anwendung und ihrer Gültigkeit.

Zero Covid ist auch eine Initiative, die sich nicht damit genügt, zu sagen, welcher Protest falsch ist, sondern selbst einen Protest initiiert. Das spricht bestimmt auch vielen aus dem Herzen, die mit leichtem Bauchgrummeln und mittelschwerem Unbehagen auf eine Querdenkerdemonstration gegangen sind. Man will nicht die Pandemie, die Angst davor kleinreden, aber man will auch nicht den Verstand verlieren und tatsächlich so etwas wie eine Handlungsoption gegen den inneren Stillstand entwickeln, um der Regierung ganz handfest das Motiv streitig zu machen, sie handele im Namen unserer Gesundheit, zu unserem Besten.

Dass diejenigen, die von den kapitalistischen Spielregeln profitieren, das bestehende Corona-Regime nicht in Frage stellen (wollen), in diesem Aufruf etwas „Systemfremdes“ (und wenn sie ganz ideologisch aufgeladen sind, etwas „Systemfeindliches“) wittern ist naheliegend und erwartbar. Für sie gibt es keinen einzigen Grund, an der bisherigen Strategie etwas zu ändern, solange die überwiegende Mehrheit die Beschränkungen in ihrem Privatbereich akzeptiert und ohne irre zu werden, am nächsten Tag zur Arbeit geht, um sich dort all dem auszusetzen, was sie nach der Lohn-Arbeit zu vermeiden versuchen.

Selbstverständlich sind sie also dagegen, denn bisher haben sich alle nur in der Nebenstraße „Privatbereich“ gebalgt und getreten und völlig aus dem Blick verloren, was auf der Hauptstraße abgeht. Sie wissen, dass sie nicht im Gemeinwohlsinn argumentieren können und in der direkten Konfrontation zugeben müssten, dass die bisherigen Lockdowns einer Kapitallogik folgen, in der Gesundheit nicht alles, sondern vor allem ein Kostenfaktor ist. Obwohl also diese Initiative recht viel Aufmerksamkeit erfährt, bleibt in Corona-Sendungen das Personal und das Themenfeld, auf dem man sich den Ball hin- und her kickt, dasselbe.

Ganz anders ist die Reaktion auf Seiten der Linken, wobei sich jetzt auffallend viele Akteure zur Wort melden, die der Partei DIE LINKE nahestehen. Es hagelt ziemlich viel Kritik. Eine Person, die sicherlich für den aufrichtigen Versuch steht, Partei- und Bewegungspolitik zusammenzubringen, ist Alex Demirović. Er ist Sozialwissenschaftler, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac und Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Es lohnt sich mit seinem Widerspruch auseinanderzusetzen, weil er ‚das Beste‘ zusammenbringt, was man gegen die Zero-Covid-Initiative vorbringen kann, gerade auch aus basisdemokratischer Sicht.

Sein Beitrag trägt die Überschrift: Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist. Zur Kritik des Aufrufs #ZeroCovid.

Ich möchte drei zentrale Kritiken herausgreifen, die auf den ersten Blick eingängig und sympathisch klingen.

Der erste Einwurf macht sich daran fest, dass der Aufruf staatsfixiert sei: „Der Aufruf wendet sich offensichtlich an den Staat. Aber dieser Staat sollte nicht in seiner autoritären Tendenz verstärkt werden.“

Wer einen solchen umfassenden Lockdown fordere, der rufe doch buchstäblich zu noch mehr Staat auf. Schließlich müsse dieser all diese vorgeschlagenen Maßnahmen durchsetzen. Das klingt auf den ersten Blick recht staatskritisch und vielleicht haben einige auch tatsächlich anarchistische Gedanken im Kopf, wenn sie den Staat für ziemlich ungeeignet halten, um für das (Lebens-)Glück der Menschen zu sorgen.

Der Einwurf, hier werde mehr/zuviel Staat gefordert, verwundert aus dem Mund derer, die bisher gerade den Staat mit der Verfolgung des Gemeinwohls beauftragt haben und alle staatlichen Maßnahmen begrüßt haben, die mit einem massiven Sanktionspotential einhergehen.

Doch warum warnen sie gerade jetzt vor einem zu mächtigen Staat? Vielleicht steckt dahinter mehr als eine ziemlich offensichtliche Unlogik.

Zweifellos ist von allen Seiten unbestritten, dass man zur Zeit nichts gegen den Staat durchsetzen kann. Gerade dieser politisch sehr schwache Zustand zwingt also dazu, dass man für die Idee eines „Zero-Covid“ zuerst einmal eine gesellschaftliche Akzeptanz finden muss, um zumindest auf der politischen Ebene den Staat, also die Regierung in einen legitimatorischen „Notstand“ zu bringen. Wenn ganz viele diese Zero-Covid-Idee in ihrer Grundausrichtung teilen, dann müsste es zuerst darum gehen, aus der Isolation herauszukommen, sich Wege zurückkämpfen, die aus dem Homeoffice und der Vereinzelung herausführen. Dann müsste man Formen und Strukturen schaffen, die das Wort Solidarität verdienen und die verschiedenen Formen der Ich-AGs (Ein Haushalt/Homeoffice/Facebook-Gemeinschafts-und Zoom-Fiktionen) verlassen. Damit ginge eine nächste Herausforderung einher: Wir müssen gemeinsam einen Weg finden, der mit Solidarität nicht Isolation meint, sondern Zusammenkommen, auf eine Weise, die den Gefahren angemessen ist. All das hat nichts mit Staat zu tun. All das wird gar nicht so einfach sein, wenn man das aufgeben will und muss, woran man sich fast schon gewöhnt hat: Man macht keine Treffen mehr, man organisiert kaum noch etwas öffentlich, und das mit möglichst Vielen.

Erstes Fazit: Den Aufruf kann man als Aufruf an noch mehr Staat lesen. Man muss es nicht, vor allem dann nicht, wenn man die Grundidee für begrüßenswert hält und dann darum kämpft, dass man dieses Verlangen nicht an den Staat oder an eine Partei delegiert.

Auch der zweite schwere Vorwurf lässt einen schnell und berechtigt erschaudern: „Ein enormer Ausbau der entsprechenden Behörden und ein intensives Kontrollregime“ wären notwendig, um einen europaweiten Lockdown umzusetzen. Die Initiative spricht in der Tat von einem europäischen Vorgehen, um möglichst großflächig und grenzüberschreitend das Infektionsrisiko zu vermindern. Alex Demirović führt also notwendige Konsequenz die Schließung von Flughäfen, Häfen und Grenzen an. Auch hier schlussfolgert Alex Demirović etwas, was gar nichts zwingend sein muss. Vor allem übersetzt er die Idee in einen Staatsakt, obgleich man ihn (wenn‘s ganz gut läuft) zu aller erst als gesellschaftlichen Akt begreifen kann, der also nicht an die jeweiligen Staatsregierungen gerichtet ist, sondern an die Bevölkerungen.

Was wäre es doch für ein Gewinn, wenn wir bei dieser Idee nicht an Staatsmacht denken, sondern an die Möglichkeit, verschiedene Bewegungen in vielen Ländern miteinander ins Gespräch zu bringen. Zu aller erst ginge es doch darum, für einen gesellschaftlichen Konsens zu sorgen, der auf Überzeugung basiert und nicht auf der zurzeit herrschenden Mischung aus Angst und Sanktionsgewalt. Und wenn man tatsächlich Gesellschaft meint und nicht (die gute) Partei, kann man endlich dafür eintreten, dass man nicht nur von Gesellschaft spricht, sondern sich stark dafür macht, dass Strukturen von Bürgerkomitees, von Basisstrukturen entstehen, die dafür Sorge tragen, dass nicht nur im Fernsehen, im Parlament und in abgeschlossenen Foren darüber diskutiert wird, was für die „Menschen“ das Richtige ist, sondern die Menschen selbst ermächtigt werden, sich eine Meinung zu bilden und diese mit Handlungsmacht vertreten können.

Wenn Alex Demirović also genau diese basisdemokratischen Aspekte betont, dann liegen diese doch nicht außerhalb eines solchen Aufrufes, sondern im Bereich dessen, was man aus diesem Aufruf machen kann.

Ich werde also das ungute Gefühl nicht los, dass viele, die den Vorschlag wegen zuviel Staat ablehnen, andere Gründe haben, die nicht ganz so sympathisch sind. Und diesen nähern wir uns mit dem folgenden Einwurf.

Das dritte gewichtige Argument, das zu Alex Demirović Ablehnung führt, ist der Vorwurf, dass der Aufruf „unrealistisch“ sei. Man könne die Pandemie nicht ausrotten. Damit verbreite man nur Illusionen und zünde ein „Licht am Ende des Tunnels“, das es nicht gibt. Man müsse, so Alex Demirović mit dem Virus leben: „Ein Ende der Pandemie wird gefordert – so als könne der Staat das verfügen und als gäbe es die Pandemie nur, weil politisch falsch gehandelt wurde.“

Alex Demirović weiß, dass es bei Zero-Covid um einen griffigen Titel geht und nicht um das Ziel, Covid-19 aus der Weltgeschichte zu tilgen. Es geht, und das ist der Kern dieses Aufrufes, darum, dass man soweit es geht, das Infektionsgeschehen einschränken muss und dass es dafür sehr wohl eines politischen Willens bedarf, denn weder Covid-19, noch der Schutz davor sind naturgegeben.

Im Mittelpunkt dies Aufrufes steht also kein Fantasialand, sondern der Vorschlag, die Arbeitswelt, die ungefähr 80 Prozent des Infektionsgeschehens ausmacht, in Corona-Maßnahmen einzubeziehen. Dass man genau dies bis heute nicht macht, hat keine medizinischen Gründe, sondern ausschließlich politische und ökonomische. Wenn also Alex Demirović der Initiative vorwirft, sie hyperstatiere „politische Macht“, dann ignoriert er nicht nur den Kern dieses Anliegens. Er schützt damit auch die gegenwärtige Corona-Politik und die politisch gewollte Exklusivität der Corona-Maßnahmen.

Warum geht Alex Demirović nicht explizit auf den Kern dieses „harten“ Lockdowns ein? Medizinische Gründe halten ihn sicherlich nicht von der Einsicht ab, dass in der Arbeitswelt dieselben Ansteckungsgefahren bestehen wie in einem Café oder im einem Kino (unter Einhaltung der AHA-Regeln).

Anstatt für dieses riesige „schwarze Loch“ in der Pandemie-Bekämpfung eine (andere/bessere) Lösung zu präsentieren, druckst er sich um des Pudels Kern herum. Man muss kein Politik-Profi und kein Wirtschaftsökonom sein, um zu wissen, dass das Wissen von Virologen vor den Fabriktoren Halt macht, dass es genau dieses politischen Willens bedarf, um die Gefährdung von Menschen in Kauf zu nehmen.

Wenn man weiß, dass Alex Demirović sehr wohl um ökonomische und staatsimmanente Prozesse Bescheid weiß, dann reibt man sich bei diesem Satz die Augen:

„Es ist eine politische Entscheidung auf der Grundlage einer Güterabwägung, die stoffliche Versorgung, den Erhalt des Produktionsapparats, die kapitalistischen Gewinne, die Freiheit der Individuen, die demokratischen Rechte, das psychische Wohlbefinden, Krankheiten und Tod in ein Verhältnis setzen muss.“

Das sieht die Bundeskanzlerin Angelika Merkel – nicht ganz so verwissenschaftlicht – genauso: „Diese Pandemie ist eine medizinische, eine ökonomische, eine soziale, eine psychische Bewährungsprobe.“ (Regierungserklärung der Kanzlerin vor dem Bundestag am 29. Oktober 2020)

Alex Demirović will damit sagen, dass in das gegenwärtige Corona-Regime sehr viele und zum Teil sich widersprechende Faktoren einfließen und es sich der Aufruf diesbezüglich zu einfach macht. Letzteres wäre ein Grund, herauszubekommen, ob es sich die Initiator*innen und Unterstützer*innen wirklich zu einfach machen. Aber warum macht es sich Alex Demirović so einfach? Der Aufruf ist doch gerade in dem Wissen geschrieben worden, dass bei der Pandemiebekämpfung eben nicht nur medizinischen Faktoren und Erkenntnisse ausschlaggebend sind.

Es muss doch (gemeinsam) darum gehen, nicht länger hinzunehmen, dass politische und ökonomische Interessen das Corona-Regime dominieren und dass wir das nicht länger mit Angst, Sanktionen und Einschließungen hinnehmen.

Dass sich der Adressat dieses Aufrufes noch herauskristallisieren muss, ist zweifellos richtig. Das hängt vor allem an denen, die ihn unterstützen und tragen werden.

Wenn dieser Aufruf unrealistisch ist, dann hat der Aufruf bereits viel erreicht bzw. genau das Richtige angestoßen: Würde sich herausstellen, dass das medizinisch Unumstrittene unmöglich umzusetzen ist, dann ist nicht der Vorschlag unrealistisch, sondern das System, in dem so etwas nicht möglich ist.

Wolf Wetzel

Februar 2021

publiziert auf Telepolis am 6. Februar 2o21: https://www.heise.de/tp/features/Zero-Covid-und-die-innere-Ausgangssperre-5044601.html

Quellen und Hinweise:

Wolf Wetzel, Das Virus, der Kapitalismus und wir, Telepolis vom 16. Dezember 2020: https://www.heise.de/tp/features/Das-Virus-der-Kapitalismus-und-wir-4990952.html

#ZeroCovid. Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown: https://zero-covid.org/

Alex Demirović, Warum die Forderung nach einem harten Shutdown falsch ist. Zur Kritik des Aufrufs #ZeroCovid, Analyse & Kritik vom 18. Januar 2021: https://www.akweb.de/bewegung/zerocovid-warum-die-forderung-nach-einem-harten-shutdown-falsch-ist/

 

 

 

 

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