Die verlorene Unschuld – zum Teufel mit den Opfern

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Die verlorene Unschuld – zum Teufel mit den Opfern. Eine Auseinandersetzung mit linken Positionen zu Israel

Im Folgenden möchte ich an das Zitat von Ulrike Meinhof aus dem Jahre 1967 anknüpfen, das in dem vorangestellten Beitrag erwähnt wurde. Darin verband sie die Notwendigkeit einer radikalen Kritik an der Politik des Staates Israels mit der Mahnung, dass

es für die europäische Linke keinen Grund (gibt), ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben, sie reicht in die Gegenwart und schließt den Staat Israel ein, den britische Kolonialpolitik und nationalsozialistische Judenverfolgung begründet haben. Die Menschen, die heute in Israel leben, die Juden nicht nur, auch die Araber, waren nicht Subjekt, sondern primär Objekt dieser Staatsgründung. Wer den Bestand dieses Staates glaubt zur Disposition stellen zu wollen, muss wissen, dass nicht die Täter, sondern wiederum die Opfer von damals getroffen würden.“ (Konkret, 7/1967)

Die Aufforderung, Imperialismuskritik und internationale Solidarität aus der nationalen Bedingtheit einer radikalen Linken zu entwickeln, anstatt sie verbal-radikal zu überspringen, verhallte weitgehendst. Genauso die von ihr formulierte Verpflichtung, die historische Verantwortung für die (Staats-)Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus nicht teilnahmslos an die Herrschenden zu delegieren, sondern in der eigenen politischen Praxis und Parteinahme sichtbar zu machen.
Die Weigerung der radikalen Linken, sich dieser Schwierigkeit zu stellen, wird nicht nur mit der Beteiligung von Mitgliedern der RZ- und ‚Bewegung 2.Juni‘ an der Entebbe-Flugzeugentführung eines palästinensischen Kommandos 1976 offensichtlich. Sie ist lediglich spektakulärer Ausdruck einer Palästina-Solidaritätsarbeit, in der die Identifikation mit dem palästinensischen Befreiungskampf all zu oft die Unfähigkeit verbergen half, die Solidarität mit den Überlebenden des Holocaust – ohne Verpflichtung gegenüber der deutschen Linken – zum Ausdruck zu bringen. So verwundert es nicht, dass die gescheiterte Entebbe-Aktion weder innerhalb noch außerhalb der Palästina-Solidaritäts-Komitees Anlass für eine kritische Selbstbestimmung militanter Positionen gegenüber Israel war, sondern Schweigen. Erst Mitte der 80er Jahre sorgten zwei Ereignisse für Verwirrung und hitzige Debatten innerhalb der radikalen Linken: Zum einen anlässlich der Aufführung des Fassbinder-Stückes ‚Der Müll, die Stadt und der Tod‘ im Jahre 1985. Zum anderen der 1987 verfasste Aufruf ‚Boykottiert Israel, Waren, Kibbuzim und Strände‘ aus militanten Zusammenhängen in den besetzten Häusern in der Hamburger Hafenstraße. Auch wenn diese wichtigen Auseinandersetzungen die Lokalität des Anlasses überwanden, so blieben die Versuche, die bisherige Politik der radikalen Linken gegenüber Israel und dem palästinensischen Befreiungskampf neu zu bestimmen, marginal und brüchig. Eine neue Offensivität ergab sich daraus nicht. Im Gegenteil. Die Infragestellung antiimperialistischer Strategien und nationaler Befreiungskämpfe, die wackligen Annäherungen an die eigenen nationalen Bedingtheiten machte nicht Mut, sondern sorgte für breite Verunsicherung.
Als der US-alliierte Krieg gegen den Irak 1991 begann, konnte zwar die Losung ‚Kein Blut für Öl‘ für kurze Zeit eine breite Anti-Kriegs-Bewegung zusammenführen und -halten. Als jedoch die irakische Regierung Israel mit Krieg und Giftgasangriffen drohte und Scud-Raketen auf israelischem Territorium einschlugen, machte die deutsche Staatslinke aus der ‚Lehre von Auschwitz‘ eine Kriegswaffe und rief dazu auf, Israel mit allen Mitteln zu verteidigen. Sie brachte ‚die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel‘ in Stellung und trat damit in die Kriegskoalition gegen den Irak ein. Weder der richtige Verweis auf die imperialistischen Ziele der westlichen Kriegskoalitionäre, noch der Verweis auf die antiimperialistischen Solidaritätsbewegungen in arabischen Nachbarstaaten konnte das moralische Leck stopfen.
Wie verhält sich die radikale Linke angesichts der Drohung, Israel militärisch zu vernichten und geo-politisch von der Landkarte zu löschen? Hat auch die radikale Linke eine Verantwortung gegenüber dem Staat Israel – und wenn ja, welche? Dass die radikale Linke darauf keine gemeinsam-tragende Antwort hatte, hängt mit der paradox anmutenden Aufforderung zusammen, die Ulrike Meinhof 1967 formulierte und seitdem weitgehendst unbeantwortet blieb. Dass die radikale Linke dieses Versäumnis nicht zum gemeinsamen Ausgangspunkt machte, trug mit dazu bei, dass die Anti-Kriegs-Bewegung 1991 politisch nicht verhindern konnte, dass die Staatslinke die Solidarität mit den Opfern des Holocaust in eine Kriegserklärung gegen den Irak münden ließ.
Glücklicherweise blieben nicht nur Sprachlosigkeit und Handlungsunfähigkeit zurück. In vielen Städten und Gruppen wurden zum ersten Mal (linke) jüdische Positionen diskutiert, die sich taktisch nicht vereinnahmen ließen, sondern uns mit dem Vorwurf konfrontierten, dass im Antizionismus der deutschen Linken ein versteckter bzw. geleugneter Antisemitismus zum Tragen kommt. Viele dieser Kritiken sind nicht neu. Wir haben sie nur all zu oft nicht wahrgenommen, geschweige denn ernsthaft geprüft.
Bis in die 90er Jahre hinein betrachte die radikale Linke Israel nicht von der eigenen Geschichte, sondern von palästinensischen Stellungen aus. Wir übernahmen selbstentlastend und erleichtert deren Argumente, zitierten ihre Analysen (wie z.B. die von ‚Al Karamal‘, Ali Hashash oder Karam Khella), teilten ihren Hass gegen das israelische ‚Siedlerprojekt‘, verurteilten im selben Wortlaut den Zionismus als rassistische Herrschaftsideologie eines imperialistischen Staates. Im selben Atemzug rangen wir uns jede Art von Verständnis und Erklärung für die inneren Strukturen des palästinensischen Widerstandes ab, für deren Forderungen nach einem eigenen palästinensischen Nationalstaat oder für die militärische Ausbildung von Neonazis in palästinensischen Ausbildungslagern. Was an Israel bedingungslos kritisiert wurde, wurde mit Blick auf den palästinensischen Widerstand im Namen der Solidarität mit den ‚Opfern der Opfer‘ zu rechtfertigen versucht. Was als linker Antizionismus Kritik an nationalstaatlichen Ideologien vortäuschte, wurde still oder offen mit der Unterstützung palästinensischer Forderungen nach Eigenstaatlichkeit reproduziert.

David und Goliath – oder: Der Opfer(aus-)tausch

Die massive Kritik an der imperialistischen Politik Israels, der linke Blick auf Israel, der diesen Staat im Wesentlichen nur noch als ‚Brückenkopf‘ des Westens wahrnehmen konnte, die offene und/oder verdeckte Infragestellung des staatlichen Existenzrechtes Israels markieren Positionen, die die deutsche Linke erst nach 1967 eingenommen hat. Vor und bis 1967 existierte in der heranwachsenden 68er Protestbewegung ein positives Bild von Israel. Israel galt ohne Wenn und Aber als ‚Heimstätte der Überlebenden des Holocaust‘. Die Staatsgründung Israels 1948 erschien als unbestrittene Konsequenz aus einer europäischen Staatengeschichte, in der seit Jahrhunderten Menschen jüdischen Glaubens verfolgt wurden, ihres Lebens nie sicher sein konnten. Die (staatliche) Existenz Israels galt der Linken als lebender, unauslöschlicher Beweis für die begangenen und im Wiederaufbaudeutschland verdrängten Naziverbrechen. Ein sicherer und zu schützender Ort für die ZeugInnen des in der Geschichte einzigartigen Versuches, ein ganzes Volk industriell auszulöschen.
Dass diese Heimstätte nicht in Europa, oder in Deutschland selbst liegen sollte (und konnte), dass biblische und imperiale Erwägungen den Ausschlag gaben, dass in dieser ‚Wiedergutmachung‘ ein weiteres Staatsverbrechen bereits angelegt war, wurde damals kaum bzw. gar nicht problematisiert. Das war nicht zufällig, sondern zwingend. Denn in der linken Wahrnehmung Israels spiegelte sich mehr ein deutsches Verhältnis wider, als dass die Bedingungen dieser Staatsgründung selbst – der im Kolonialstil praktizierte Akt der Staatsausrufung, die politischen Ziele zionistischer Organisationen und (Staats-)Theoretiker, deren bestimmender Einfluss im neuen Staat Israel usw. – mit zum Ausgangspunkt der Solidarität gemacht worden wären.
Israel lag politisch zwischen denen, die mehrheitlich von allem nichts gewusst haben und heute nichts mehr hören wollen und einer kleinen radikalen Minderheit, die genau jener schweigenden Mehrheit das lebendige Zeugnis eines fast vollendeten Genozids vor Augen halten wollte. In dieser innerdeutschen Auseinandersetzung spielten die Überlebenden als Menschen mit unterschiedlichsten Herkünften, Vorstellungen und politischen Konsequenzen keine Rolle. Das Gewicht bekamen sie, die Sympathie verdienten sie sich als Opfer, unterschiedslos. Das, was die deutsche Linke mit den ‚Opfern der Nazi-Verbrechen‘ verband, was sie in ihr Überleben hineinprojizierte, hatte selten etwas mit diesen zu tun. Statt dessen wiederholte diese Opfer-Metaphysik – seitenverkehrt – den Blick der Herrschenden auf jüdische Menschen, indem sie den Opfern etwas Gemeinsames unterstellte, was das antisemitische Konstrukt der Verfolger reproduzierte, anstatt zu durchbrechen. Etwas Einigendes, Übereinstimmendes, was weit über die kollektive Erfahrung der an ihnen unterschiedslos exekutierten Verfolgung hinausgeht. Wie wenig gemeinsam erlittene Unterdrückung ‚befreiend‘ oder ‚erlösend‘ wirkt, wie entscheidend die sozialen Verhältnisse bleiben, durch die sie hindurchwirkt, wie entscheidend die politischen Vorstellungen sind, auf die sie einwirkt, dokumentieren die unzähligen gegen Kolonialisation und ‚Fremd‘-Herrschaft geführten Befreiungskämpfe.
Anstatt sich den Handelnden, den AkteurInnen politischer Entwicklungen in Israel zu nähern, blieb die deutsche Linke bis 1967 der eigenen Opfer-Metaphysik verhaftet. Dafür eignete sich Israel hervorragend. In der Vernichtung der Jüdinnen und Juden konnte die Unschuld der Opfer reinste Gestalt annehmen: Die jahrhundertelange antisemitische Verfolgung, das seit Menschengedenken durch Vertreibung und Pogrome gebrandmarkte und geprägte jüdische ‚Volk‘, immer auf der Flucht, ohne Heimat, ohne (nationalstaatlichen) Schutz, Sympathien und Verbündete. Mit der Staatsgründung Israels 1948 sollte diese jahrhundertelange Diaspora ein Ende haben – was wiederum neue Feinde schuf, die „die Juden ins Meer werfen“ (Ahmad Schukeiri, PLO-Führer 1964, zitiert nach ‚Deutsche Linke zwischen Israel und Palästina‘, AK 1988, S. 28) woll(t)en.
Eine Geschichte der Vertreibung und Vernichtung, die zu keiner Zeit in der (bedrohlichen oder opponierenden) Haltung der Opfer begründet war (und ist). Der einzige Grund war ihre jüdische Existenz, die mittels ‚Rassenmerkmale‘ erst definiert werden musste.
Doch wer sich – wie die deutsche Linke – dem jüdischen Leben nur im Verfolgtsein näherte, wer sie nur als Opfer wieder(an)erkennen wollte, der hatte nicht die Wirklichkeit des Staates Israel nach 1948, sondern das eigene Bild davon, im Kopf. Alles, was störte, wurde nicht wahrgenommen. Die Identifikation mit den Opfern zwang, auf ihre Reinheit zu achten. Mann/frau bewunderte ihren bewaffneten Kampf um nationale Selbstbestimmung (der Film ‚Exodus‘ war die cineastische Übersetzung dafür), die ‚Fruchtbarmachung der Wüste‘, die Aufbauleistung Israels. Viele sahen im Kibbuz-System die Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaftsutopie, das Ende kapitalistischer Ausbeutung, die Gleichberechtigung von Frau und Mann innerhalb kollektiver Lebensformen – ein gemeinsamer Kampf um den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft.
Diese Bewunderung und Unterstützung hatte jedoch weniger die israelischen Verhältnisse im Auge, als die eigenen. Die Sympathie für Israel entwickelte sich nicht aus den sozialen und politischen Verhältnissen dort – sie musste gegen sie behauptet werden. Der Sieg der israelischen Armee 1967 im Sechs-Tage-Krieg stellte nicht nur die linke Opfer-Metaphysik auf den Kopf, sondern auch die innerdeutschen Israel-Frontlinien. Aus Ex-Nazis und Rassisten wurden philo-semitische Bewunderer des Staates Israel, aus linken und militanten AntifaschistInnen wurden Feinde des Staates Israel. Die Neue Linke wechselte das Objekt, solidarisierte sich nun mit den ‚Opfern der Opfer‘.

Die verlorene Unschuld der Opfer

Mit dem israelischen ‚Blitzsieg‘ (jede Ähnlichkeit mit der nazistischen Kriegsterminologie ist ganz und gar nicht zufällig), dem gerade hier mit Begeisterung verfolgten militärischen Sieg Israels über seine scheinbar weit überlegenen Feinde, schien der Antisemitismus in Deutschland paradoxe Wege zu nehmen.
Das rechtschaffene Deutschland entdeckte nicht länger in Israel den ‚Judenstaat‘, sondern Moshe Dayan als zweiten Rommel, als wiedergeborenen ‚Wüstenfuchs‘ im Afrikafeldzug. Mit der militärischen Vernichtung seiner Feinde, mit der Eroberung und Besetzung fremder Territorien, mit der militärischen Verwirklichung der ‚biblischen‘ Grenzen des Staates Israel wurde für viele Deutsche ein Jahrtausendtraum nachsynchronisiert, der unter den Trümmern des 3. Reiches verschüttet schien – und in der Begeisterung für die geniale israelische Kriegskunst ungestraft wieder aufleben durfte. An den bewunderten Helden des Krieges war nichts ‚Jüdisches‘ mehr. Mit den nun erfolgten Zuschreibungen wie Tapferkeit, Entschlossenheit, Wagemut, Disziplin, Wille und Glaube an den Sieg, wurden innerhalb der rassistischen Konstruktion von Wesenheiten eine philo-semitische Umdeutung vorgenommen.
Das, was der deutsche Antisemitismus dem ‚Juden‘ zuschrieb, wurde nun in die Gestalt des ‚Arabers‘ verschoben. Die deutsche Kriegsberichterstattung zeigte nicht nur, wie Sieger aussehen, sondern auch wie Verlierer aussehen müssen. (Die Golfkriegsberichterstattung war zumindest diesbezüglich nur eine Wiederholung.) Die Bilder von barfüßigen, arabischen Soldaten, von Tausenden in der Wüste zurückgelassenen Militärstiefeln, von um ihr Leben flehenden Soldaten, die kopf- und führungslos in der Wüste herumirrten, zeigten mehr als einen Kriegsgegner. Sie visualisierten den ewigen Verlierer, seine Rückständigkeit, seine Unzivilisiertheit, seine Aussichtslosigkeit. Israel wurde zum Symbol der Überlegenheit westlicher Zivilisation – umgeben von einem Orient, der gegen die Moderne vergeblich anzurennen versucht.
Auch für die deutsche Linke wurde der Sechs-Tage-Krieg 1967 zum entscheidenden Wendepunkt ihrer Israel-Solidarität. Plötzlich war die deutsche Linke nicht mehr mit Opfern, sondern mit einem strahlenden Sieger konfrontiert – von der westlichen Welt maßgeblich unterstützt, von dem seit Jahrhunderten antisemitisch geprägten Europa bewundert. Die scheinbar einstimmige Begeisterung für diese israelische Glanztat reichte von BILD bis FR, vom Ex-Nazi bis zur Ex-Widerstandskämpferin, von CSU bis SPD.
Lassen wir einmal beiseite, ob sich Israel ‚nur‘ gegen seine Feinde verteidigte, oder, ob es der erste offizielle Expansionskrieg Israels war, um die ‚biblischen‘ Grenzen militärisch herzustellen. Fest steht jedenfalls, dass Israel infolge dieses Krieges fremde Territorien besetzte, die dort lebenden Menschen vertrieb bzw. israelischem Besatzungsrecht unterwarf, militärisch und wirtschaftlich interessante Gebiete de facto annektierte, ‚neu‘ besiedelte und damit zu israelischem Staatsterritorium erklärte.
Für viele Linke wurde aus dem Staat Israel, als Heimstätte der Überlebenden des Holocaust, ein Staat, der selbst imperiale (Kriegs-) Ziele verfolgt. Aus Opfern wurden TäterInnen, aus Vertriebenen VertreiberInnen, aus Verfolgten VerfolgerInnen, aus Unschuldigen wurden Schuldige. Aus David wurde ein Goliath.
Nun, die Geschichte der Herrschenden ist voll von Beispielen, in denen einstig Verfolgte mit Eroberung der Macht (z.B. die UdSSR oder Algerien), mit Gründung eines eigenen Nationalstaates (z.B. Jugoslawien oder Polen), mit dem siegreichen Befreiungskampf (z.B. Vietnam) selbst die Logik von Herrschaft und Ausbeutung reproduzierten. Im besten Fall hätte sich die Linke – im Nachhinein – erklären können, wie es zu so etwas hat kommen können. Im schlechtesten Fall – der im Zuge der internationalistischen Solidaritätsbewegung der 60er und 70er Jahre eher der Normalfall war – hätte sich die Linke einfach enttäuscht abwenden können, ohne viel Aufsehens, wie später, in anderen (Zweifels-)Fällen auch (z.B. Vietnam, Portugal, Chile, Iran, usw.).
Doch Israel wurde auf ganz eigenartige Weise zum Sonderfall internationalistischer Solidarität. Alles, was sonst die Regel war, wurde über den Haufen geworfen. Alles, was woanders auch konsequent gewesen wäre, wurde einzigartig am Beispiel Israel exekutiert. Alles, was woanders noch für Verständnis sprach, wendete sich am Beispiel Israel in ungeahnter Weise dagegen. Für diesen ‚Sonderfall‘ internationalistischer Solidarität lassen sich zwei Erklärungen anführen:

Es liegt an der Einzigartigkeit des Staates Israel, an der Unvergleichbarkeit mit anderen Nationalbewegungen und Staatsgründungen.
Es ist dem besonderen Verhältnis der radikalen Linken zur deutschen Geschichte des Nationalsozialismus geschuldet. Anstatt die politische und historische Verantwortung selbst zu übernehmen, wurde sie den Opfern übertragen.

Ich möchte die Eigenartigkeiten linker Kritik an Israel auf drei Punkte konzentrieren, auf die fast alle Argumentationen der letzten Jahre zuliefen.

Ich kenne keinen Fall internationalistischer Solidarität, wo die Linke aus Enttäuschung die Seite so bedingungslos und kritiklos wechselte.
Wenn ich an die russische Oktoberrevolution 1917/18, an den erfolgreichen Befreiungskampf in Algerien oder Vietnam denke, kann ich mich nicht daran erinnern, dass die radikale Linke zum Kampf gegen die neuen Machthaber und Unterdrücker aufgerufen hätte. Die minoritäre Kritik an den neuen Machthabern löste weder eine Solidarität mit den Opfern der Opfer aus, noch gab es massive Bemühungen, der neuen Staatsmacht den Kampf anzusagen. Der focussierte, verengte Blick auf den Kampf gegen Fremdherrschaft, gegen imperiale Groß- und Kolonialmächte verdrängte fast immer die (selbst-)kritische Frage, wofür die ‚Opfer‘ kämpfen, welche Vorstellungen sie von Gesellschaft und Befreiung haben, mit welchen inneren Strukturen sie gegen ihre Unterdrücker kämpf(t)en.
All diese Kritik schien die Solidaritätsbewegung an Israel nachzuholen. Sie kritisiert(e) zu Recht das israelische Vorgehen gegenüber PalästinenserInnen als rassistisch, sie verurteilt(e) zu Recht die Besetzung fremder Territorien als kolonialistisch, erkannte zu Recht in der massiven wirtschaftlichen und militärischen Aufrüstung Israels durch die USA, Deutschland usw. seine Brückenkopf-Funktion für den westlichen Imperialismus. All das wäre so richtig, wenn sich nicht – im selben Atemzug – der Unschuldsblick auf den palästinensischen Widerstand, auf das neue Objekt internationalistischer Solidarität wiederholt hätte.
Ende der 1960er und ganz massiv in den 1970er Jahren entstanden überall in der BRD Palästina-Solidaritätsgruppen, die von nun an einen kontinuierlichen und dominanten Bezugspunkt für die internationalistische deutsche Linke darstellten. Es geht nicht darum, die konsequente Umsetzung einer formulierten Kritik (an Israel) zu unterlassen. Ich behaupte jedoch, dass der veränderte Blick auf Palästina in hohem Maße nur den Objekt(um-)tausch rechtfertigen sollte – was weder die Kritik am neuen Objekt internationalistischer Solidarität, noch die Selbstkritik an der linken Opfer-Metaphysik mit einschloss. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Rolle der palästinensischen Bourgeoisie ähnlich scharf thematisiert wurde, wie die der zionistischen Organisationen für Israel. Es wurde kaum der Frage nach der ‚arabischen Allianz‘ im Kampf gegen den Erzfeind Israel nachgegangen, der Frage nach den Motiven und Zielen reaktionärer arabischer Nationalstaaten, die mit Millionenbeträgen den palästinensischen Befreiungskampf unterstützten. Nachfragen, die in Bezug auf ‚zionistische Allianzen‘ und Geldgeberinteressen für das ‚Siedlerprojekt‘ Israel selbstverständlich erschienen. Ich weiß, wie wenig in den 1960er und 1970er Jahren die Frage eine Rolle spielte, wie demokratisch PLO-Entscheidungen zustande kamen, wie (basis-)demokratisch die verschiedenen Befreiungsorganisationen aufgebaut waren, oder welche Rolle die Frau im palästinensischen Befreiungskampf einnahm bzw. einnehmen durfte. Und schon gar nicht kann ich mich an hitzige Debatten erinnern, die das Ziel eines eigenständigen palästinensischen Nationalstaates hinterfragten, bzw. die Legitimität von National-Staatlichkeit überhaupt zur Diskussion stellten.

Mir ist kein Land bekannt, dem die radikale Linke mit der Kritik an kapitalistischen und imperialistischen Herrschaftsstrukturen zugleich das ‚staatliche Existenzrecht‘ abgesprochen, aberkannt hätte.
Ich kann mich an keine einzige Diskussion, an keine einzige Grundsatzdebatte der 1970er Jahre erinnern, die die Kritik an einem kapitalistischen, imperialen System mit der Aberkennung nationaler Eigenständigkeit verknüpfte. Mir ist nicht bekannt, dass die Kritik an der US-Ausrottungspolitik gegen die IndianerInnen, an der gewaltsamen Landnahme und Besiedlung, an der Versklavung der Schwarzen auf die Frage nach dem Existenzrecht dieses Siedlerstaates USA zielte.
Was die deutsche Linke nirgendwo auf der Welt machte, vollbrachte sie einzigartig am Staat Israel. Sie diskutierte, stritt und bestritt schließlich das Existenzrecht des Staates Israel. Wenn die deutsche Linke überall auf der Welt den Kampf gegen das Verbrechen eines Staates nicht nur zu einem Kampf gegen die Herrschenden gemacht hätte; wenn die deutsche Linke das Staatswesen selbst als ein Akt des Verbrechens begriffen hätte, egal, wer die Macht darüber ausübt oder ‚erobert‘; wenn die Kritik der Linken den Gewaltakt jeder Staatsgründung gemeint hätte, dann hätte die Kritik am Staat Israel exemplarischen Charakter gehabt. Doch all dies tat die deutsche Linke weder theoretisch noch praktisch. Für die meisten deutschen Linken galt das marxistisch-leninistische Konzept der Staatsübernahme. Mit der Revolution war nicht die Zerschlagung, sondern die ‚Eroberung‘ des Staatsapparats gemeint. Alleine, angesichts dieser sozialistischen und kommunistischen Staatsverehrung eines Großteils der deutschen Linken hätten die ‚anarchistischen‘ Anwandlungen auffallen bzw. stutzig machen müssen. Doch bei näherem Nachgehen der Argumente, die gegen das Existenzrecht des Staates Israel ins Feld geführt wurden, kommt ganz und gar nichts Anarchistisches zum Vorschein. Der Prozess um die An- bzw. Aberkennung von Staatsrechten wurde, gerade am Beispiel Israel, zum nationalistischen Schauspiel!
Seit den 70er Jahren halten sich in der deutschen Linken – in unterschiedlicher Gewichtung und Verknüpfung – folgende geliehene oder unwidersprochen gebliebenen Einwände gegenüber einem Staat Israel:

– Voraussetzung für einen (linken) Anspruch auf einen eigenen Staat sei „ein Territorium, auf dem die Menschen seit geraumer Zeit leben“ (Intifada-Komitee Mainz/Wiesbaden, zitiert nach AK vom 21.10.91) – Mit der jahrhundertelangen Diaspora haben Jüdinnen und Juden diesen Anspruch verwirkt.
– Anspruch auf einen eigenen Staat darf nur erheben, wer auf ein ‚Volk‘ verweisen kann, was für Jüdinnen und Juden nicht zutrifft: „Das Judentum ist der Ausdruck für eine Religion, wie auch das Christentum, der Islam und der Buddhismus. Dies ist eine Bezeichnung für eine Religion, und nicht die Bezeichnung für ein Volk.“ (Karam Khella);
– eine linke Staatsbewilligung setzt voraus, dass eine gemeinsame Kultur, eine gemeinsame Sprache existiert – beides wird wegen erwiesener kultureller Vielfalt und Mehrsprachigkeit bestritten.

Die Nichterfüllung vorgeblicher Kriterien für ein nationalstaatliches Anerkennungsverfahren mündete – bei allen Argumenten – in das (Gesamt-)Urteil, „dass die ‚jüdische Nation‘, abgesehen von der mythologischen Komponente, künstlich geschaffen wurde … Das Ziel … war nie das Wohlergehen der jüdischen Menschen und schon gar nicht das der PalästinenserInnen, sondern immer nur der Staat.“ (Intifada-Komitee Mainz/Wiesbaden, zitiert nach AK vom 21.10.91)
Nationalistischer kann ein linkes Staatsrechtsverständnis kaum sein. Was sich als radikale Kritik am Staat (Israel) ausgab, war nichts weiter als die billige Reproduktion bürgerlicher, abendländischer Staatsideologien. Sie kritisierte nicht die Konstrukte einer Nationbildung, den Mythos von dem einen Volk – sie machte sie zur Bedingung linker Anerkennungspolitik.
Und was das „Wohlergehen“, gemeinsamer Staatsauftrag linker und rechter Staatsrechtsinterpreten anbelangt: Wenn die Linke ihre Staatskritik wirklich ernst gemeint hätte, dann wäre doch zuallererst das Existenzrecht des Staates BRD zu bestreiten gewesen, anstatt diese ‚neue‘ Staatskritik einzigartig an Israel zu exekutieren.
In der ganzen Kritik am Staat Israel, in der Bestreitung seines Existenzrechtes kam keine radikale Staatskritik zum Ausdruck, sondern ein linker Nationalismus, der Israel nur vorwarf, seine Staatsgründung nicht im Zuge der europäischen Nationalstaatenbildung vor 200 Jahren vollzogen zu haben, um damit in den (Euro-) Genuss linker Verjährungsfristen zu kommen.

Eine Linke, die die eigene nationale Verfasstheit vergisst, indem sie selbstverständlich vom Existenzrecht des Staates BRD ausgeht, betreibt Herrschaftspolitik und nicht -kritik. In der Ab- und Anerkennung von Nationalstaatlichkeit behauptet sich nicht die Kritik, sondern das Konstrukt von der ‚natürlichen‘ Nation.

Genau dieses natürliche (Staats-)Wesen musste wohl in den Köpfen der Linken herumspuken, als sie vom „künstlichen Gebilde“ Israel redete – als ginge es ihr um die Rettung der Natur, um die Verteidigung organischer Verbindungen. Wie nationalistisch dieses Bio-Gutachten ist, müsste alleine der (Rück-)Blick auf die Wiedervereinigung des ‚geteilten‘ Deutschlands belegen. Wäre nicht in dieser Logik die Wiedervereinigung das verdiente Ende einer unnatürlichen Spaltung? War nicht die Ex-DDR ein ‚künstliches Gebilde‘ der Siegermächte, das mit dem Anschluss nur renaturalisiert wurde?
Wenn die Kritik an der Staatsgründung Israels eine Kritik an der kolonialen und imperialistischen Staatenbildung überhaupt gewesen wäre, hätte die Linke nicht übersehen können, dass auch die meisten Staaten rund herum auf dem Reißbrett der Ex-Kolonialmächte entstanden sind (von Jordanien, über Syrien bis zum Irak). Sie alle haben soviel und sowenig mit kulturellen und geschichtlichen Gemeinsamkeiten zu tun, wie Israel. Die Willkür der Grenzziehung und Staatsgründung liegt nur ca. 30 Jahre weiter zurück.

Ich kenne keine ‚Opfer‘, denen die Linke so andeutungsvoll bis vollendet eine Mitschuld an ihrer eigenen Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung nachzuweisen versuchte, wie den Überlebenden des Holocaust.
Galten sie bis 1967 als Inkarnation der ‚unschuldigen Opfer‘, so wurde 20 Jahre nach der Staatsgründung Israels in der deutschen Linken nachgeholt, was die einstige Solidarität möglicherweise gestört hätte. Die Verdächtigungen waren nicht neu; die Quellen alles andere als plötzlich zugänglich – um so mehr deren Einfügung in linke Argumentationsfiguren. Dabei ging es nicht darum, die Überlebenden zu begreifen, sondern ihnen die einst verliehene Unschuld zu nehmen, sie mit den TäterInnen ähnlich, vergleichbar machen, um sie als ‚falsche‘ Opfer abzustoßen. Sie hatten einfach nicht gehalten, was sich die Linke von ihnen versprach; sie hatten einfach nicht getan, was die Linke in sie hineinprojizierte. Dann soll sie der Teufel holen.
25 Jahre nach der militärischen Zerschlagung des Dritten Reiches deckte die Linke die Zusammenarbeit zionistischer Organisationen mit dem Naziregime auf. Aus Israel, einst Heimstätte der Überlebenden des Holocaust, wurde nun ein von den Nazis gefördertes ‚Siedlerprojekt‘: „Die zionistische Weltbewegung“ war es, „die mit Nazideutschland zusammenarbeitete, um die Rassenpolitik der Nazis maximal zur Organisierung einer breit angelegten Emigration nach Palästina auszunutzen. Die deutschen Faschisten wieder unterstützten die Kolonialisierungspläne der Zionisten.“ (‚Immer rebellieren‘, zitiert nach ‚Deutsche Linke zwischen Israel und Palästina‘, Redaktion Arbeiterkampf, Hamburg 1988, S. 50) Die organisierte Flucht nach Palästina wurde nicht mehr als sichere Rettung vor Judenhass und drohender Vernichtung verstanden, sondern als „verbrecherische Allianz zwischen Zionismus und deutschem Faschismus.“ (Ali Hashash, in ‚Palästina – Kampf der Gegensätze‘, S. 55)
Als letzter Akt der Entwürdigung der Opfer wurde ihnen schließlich die Beteiligung an ihrer eigenen Vernichtung vorgehalten:

Die Zionisten riefen zum Stillhalten und zur Zusammenarbeit mit dem Naziregime auf. Sie leiteten den von den Nazis installierten ‚Judenrat‘ und beteiligten sich somit unmittelbar an der Auswahl der zur Tötung ausersehenen Opfer.“ (‚Immer rebellieren‘, s.o., S. 50)

Selbst wenn Opfer ihre letzte (Über-)Lebenschance in der Zusammenarbeit mit den Nazis gesucht hätten: Was ändert das an der Tatsache, dass das Naziregime sie umbrachte und nicht sie sich selbst. Und auch die Tatsache, dass zionistische Organisationen mit Nazis kooperiert haben (vor allem zu einer Zeit, als die Nazis noch die Politik der „forcierten Auswanderung“ von Jüdinnen und Juden verfolgten), ändert nichts daran, dass der Nationalsozialismus und eben nicht zionistische Staatsgründungspläne den letzten Beweis dafür lieferte, dass ein ‚Volk ohne Staat‘ der Willkür aller (europäischen) Staaten ausgeliefert war und ist.
Solange eine radikale Kritik am Staat Israel nicht die Kritik an jeder Staats(be-)gründung einschließt, solange reproduziert sie auch das antisemitische Grundmuster, das Kritik an den (herrschenden) Verhältnissen nur vortäuscht, um sie den ‚Besonderheiten jüdischen Wesens‘ anzulasten.

Wolf Wetzel | 2001

Textauszug aus dem Buch: Die Hunde bellen … Von A bis…(R)Z. Eine Zeitreise durch die 68er Revolte und die militanten Kämpfe der 70er bis 90er Jahre, autonome L.U.P.U.S.-Gruppe, S.57 – 68, Unrast-Verlag, Herbst 2001

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