Verschwörungstheorien. Das fliegende Klassenzimmer | Lesson I

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Das fliegende Klassenzimmer | Lesson I:

Verschwörungstheorien

Wenn Wörter semantisch entleert und in ihrer Bedeutung beliebig werden, wenn Sätze nur noch affektive Appelle sind, ohne in argumentative Zusammenhänge eingebettet zu sein, und wenn ein kommunikativer Austausch auf der Grundlage vernunftwidriger Rahmenerzählungen erfolgt, ist einem vernünftigen Denken die Basis entzogen. 

Das schrieb Rainer Mausfeld in seinem sehr lesenswerten Buch „Warum schweigen die Lämmer?“ (2021). Damit sind nicht nur die “anderen” gemeint, sondern auch wir.

Wir können einiges dafür tun, dass es diese semantischen Selbstentleerungen und die Affekt-Politiken, die jeden Begründungszusammenhang hintergehen, nicht so leicht haben.

Das ist möglich und notwendig, wenn wir genau das Gegenteil machen: Indem wir uns selbst dazu verpflichten, auf Affekte zu verzichten. Indem wir verwendete Begriffe genau umreißen, anstatt sie bis zum Kern „aufzubohren“, und immer wieder Begründungszusammenhänge herstellen und unsere eigene Argumentation daran messen.

Es geht um ein kollektives Lernen und Begreifen, das wir auch hier üben und praktizieren können.

 

In der Reihe „Fliegendes Klassenzimmer“ geht es also darum,

 

 

 

uns wie ein Mechaniker das Werkzeug zu erklären, mit dem wir arbeiten: Wozu ist es da? Was kann es? Wie macht man es – bei falscher Anwendung – kaputt?

 

Lesson I: Was sind Verschwörungsideologien (nicht)

Dieser Begriff hat seit Jahren Hochkonjunktur. Mit ihm wird alles in das Reich des Wahns geschickt, was nicht in die herrschenden Verlautbarungen passt. Fast alles, was der offiziellen Les- und Verstandesart widerspricht, läuft nun Gefahr, in diesen Bannkreis zu geraten.

Bemerkenswert an diesem Begriff ist, dass sich die Anwender kaum bemühen, ihn genau zu fassen. Das passiert nicht aus Versehen, sondern mit Absicht. Im Umgang und in der Verwendung wechselt man sprunghaft, gedankenlos, bis beliebig von einer „Verschwörungsideologie“ zur „Verschwörungstheorie“. Für die Anwender ist es dasselbe, obgleich der Unterschied ein gewaltiger ist. Man kann auch sagen: Es handelt sich in den Begrifflichkeiten um absolut gegensätzliche Bedeutungen. In der klassischen Verschwörungsideologie wird eine Verschwörung imaginiert. Die älteste und weitverbreitete ist die Ideologie von der (Welt-)Verschwörung der Juden. Bei einer Verschwörungstheorie handelt es sich um die analytische Anstrengung, einer verdeckten Organisationsstruktur mithilfe von Belegen und Hinweisen nahezukommen.

Verschwörungsideologien

Bevor ich in Lesson II auf die Existenz von Verschwörungen und dem Versuch, sie in einer Theorie abzubilden, eingehe, möchte ich die Streubombe „Verschwörungstheorien“ aufschnüren. Im gängigen Umgang wird alles in die Schlacht, also in den Topf geworfen: Die einen reden von „Verschwörungsideologien“, die anderen von „Verschwörungstheorien“. In letzter Zeit hört man öfters von „Verschwörungserzählungen“. Dass jeder Begriff eine eigene, sich abgrenzende Bedeutung haben müsste, lässt schon vermuten, dass die verwendeten Begriffe gar nichts „be-greifen“ sollen, sondern in ihrer Streuwirkung genutzt werden.

Was hat es nun mit dem Begriff Verschwörungsideologie auf sich? Das Wort Ideologie wurde im griechischen als die „Lehre von den Ideen“ bezeichnet. Im marxistischen Verständnis bezieht sich der Ideologiebegriff auf „Ideen und Weltbilder, die sich nicht an Evidenz und guten Argumenten orientieren, sondern die darauf abzielen, Machtverhältnisse zu stabilisieren oder zu ändern.“ Und ich möchte den italienischen Philosophen Antonio Gramsci hinzufügen. In seinen Gefängnisheften verwendet er einen Ideologiebegriff, der Ideologie als „gelebte, habituelle gesellschaftliche Praxis“ versteht. Die Macht und Wirkungsweise von Ideologien sind bei ihm folglich nicht auf die Ebene des „notwendig falschen Bewusstseins“ (Karl Marx) zu reduzieren, sondern umfassen auch die Handlungen der Menschen.

In diesem so verstandenen Ideologiebegriff geht es also erkennbar nicht darum, die Wirklichkeit abzubilden, sondern diese zu verschleiern, indem Projektionen und Verblendungen für Wesens- bzw. Strukturmerkmale ausgegeben werden.

Die sicherlich bekannteste Verschwörungsideologie mit der historisch wohl längsten Tradition ist die von einer jüdischen (Welt)Verschwörung. Da sie Wirklichkeitspartikel und vor allem aktuelle Herrschaftsinteressen aufnehmen muss, gibt es diese in den verschiedensten historischen Ausformungen: Sei es der religiöse/christliche Antijudaismus, der den „Judas“ als Verräter an Jesus als Grundfigur hat. Dann stand der „Geldjuden“ im Zentrum dieser antisemitischen Verschwörung, also der Verrat an allem, was als „anständig“ und „ehrlich“ gelten sollte. Geldgeschäfte trugen zwar dazu bei, die Feudalherrschaft aufrechtzuerhalten. Da sie jedoch als anrüchig galten, wurden sie fürs Jüdisch-sein deklariert und abgespalten.

In den 1930er Jahren bewies der deutsche Faschismus, dass dieser nur auf die bestehenden „Verblendungen“ aufsetzen musste. Mehr noch: Er bewies, dass der Jude keine biologische Chiffre ist, sondern in Gänze ein ideologisches Konstrukt: So kam es dann zu dem zentralen Kampfbegriff des Faschismus: Der vermeintliche Kampf gegen die „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“. In diesem imaginierte man eine Verschwörung, in der Juden und Kommunisten gemeinsame Sache machen. Dass selbst dieser irrwitzige Mix bei so vielen Anklang gefunden hatte, lag nicht an der Genialität der Nazis: Denn die Nazis konnten auf einen Antikommunismus „aufsetzen“, der in bürgerlichen Kreisen weit verbreitet war. Auch hier konnte und musste die NSDAP also nur auf bürgerliche „Ressentiments“ anknüpfen.

Dass sich der Bolschewismus, die kommunistische Idee, gerade dadurch auszeichneten, sich nicht auf Glaube, Rasse oder Nation zu gründen, sondern die Herrschaftsverhältnisse als Klassenverhältnisse begriffen, war dem Faschismus völlig egal.

Trotz all dieser historischen Akzentuierungen haben sie einen zentralen, gemeinsamen Kern:

Die antisemitische Verschwörungsideologie imaginiert eine omnipotente Macht, die im Verborgenen ihre Fäden zieht, die Wirtschaft, die Politik, unser ganzes Leben in der Hand hat. Was dem normalen Menschen verborgen bleibt, erkennt der Antisemitismus: Hinter dieser abstrakten, nicht greifbaren Macht verbergen sich den „Illuminaten“ zufolge die Juden, die für Elend und Reichtum, für Schmutz und Glanz gleichermaßen verantwortlich gemacht werden.

Es handelt sich folglich um einen imaginierten Feind, der die wahren Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf stellt und zugleich verteidigt – indem man in „die Juden“ all das hineinprojiziert, was Feudalismus und Kapitalismus an Elend und Ausbeutung produzieren.

Er verortet die Macht dort, wo sie nicht ist. Der Antisemitismus lebt und gedeiht im Irrsinn: Er macht aus marginalisierten und diskriminierten Juden einen übermächtigen Feind, den man gefahrlos aus dem Weg räumen „muss“. Er ist damit ein Komplize der Herrschaft und nicht sein „größter“ Feind.

Diese antisemitische Verschwörungsideologie ist also das Gegenteil einer Analyse: Sie verblendet und verschleiert Herrschaftsverhältnisse und macht aus armen Schweinen Herrenmenschen.

Es wäre sicherlich lohnenswert, dem Gedanken nachzugehen, ob der Antisemitismus, die Imaginierung dieser geradezu unermesslichen Macht, eine Antwort auf die schwindende Macht des „Reiches Gottes“ war und ist. Der Versuch, das Phantasma einer unsichtbaren Herrschaft aus dem Himmel, auf die Erde zu holen, in Gestalt der „Weltherrschaft der Juden“.

Als der Feudalismus seine dominante Herrschaftsform einbüßte, waren nicht nur ökonomische Gründe (das Aufsteigen einer bürgerlichen Klasse) für den anstehenden Niedergang verantwortlich. Dazu gehörte auch der Zusammenbruch seines Legitimationsgebäudes. Im Feudalismus war Gott der Schirmherr dieser feudalen Herrschaft. Die Regenten leiteten ihre Macht, ihre Gewalt, ihre Kreuzzüge und ihren Reichtum daraus ab, dass sie sich als Gesandte, Abgesandte Gottes ausgaben. Die göttliche Ordnung hatte alles gerechtfertigt, was auf Erden passierte. Wer ohne „Sünden“ auf Erden lebte, also alles gottgewollt hinnahm, dem versprach man das „ewige Leben“ im „Paradies“. Wer sich diesem Schicksal widersetzte, dem drohte das „Jüngste Gericht“ und die „Hölle“.

Wenn man also den Begriff von der „Verschwörungsideologie“ auf seinen eigentlichen Sinn zurückführt, dann kann man hoffentlich auch die Dreistigkeit derer spüren, die ihre Herrschaftspolitiken auf dem Hochstand von Verschwörungsideologien verteidigen:

Wer heute aus allen Rohren und allen Volksempfängern tönt, „die Juden“, pardon „die Russen“ haben die „wertebasierte“ Ordnung in Europa (und der Welt) zerstört, wer kein Wort darüber verliert, dass der russische Einmarsch in die Ukraine 2022 ohne den Vormarsch der NATO bis an die Grenzen Russlands, also ohne den Bruch der 2 plus-4-Vereinbarungen1990/91 nicht zu verstehen ist … wer all dies ohne mit der Wimper zu zucken in die Köpfe der Menschen hämmert, der bekämpft keine Verschwörungsideologien, sondern tritt in ihre Fußstapfen, in ziemlich alte.

Wolf Wetzel

Das fliegende Klassenzimmer – Lesson I

Quellen und Hinweise:

Herrschaftstechniken in Demokratien, Rainer Mausfeld, Magazin Overton vom 17.5.2023: https://overton-magazin.de/hintergrund/gesellschaft/herrschaftstechniken-in-demokratien/

Facebook zerschlagen, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2019/05/01/facebook-zerschlagen/

Von Golgatha nach Auschwitz – Die Mitverantwortung des Christentums für den Holocaust, Reinhold Schlotz, Alibri Verlag, 2016

 

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