Vom Asylbewerberleistungsgesetz zur Mordserie des nationalsozialistischen Untergrundes/NSU?

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Mord aus Konsens?

aktualisiert am 27.7.2012

Wenn sich der dreizehnjährige Untergrund der neonazistischen Terrorgruppe NSU, die neun Morde, die ihm bislang zugeordnet werden, die zahlreichen Banküberfälle, nicht durch Pannen, persönliche Unzulänglichkeiten und sonstigen Unbill aufseiten der Verfolgungsbehörden erklären lassen, stellt sich die Frage: Welche politischen Motive könnten tragend sein, um die systematische Verhinderungen von möglichen Festnahmen, die koordnierte Weigerung, die Hinrichtung von türkischen Menschen in Verbindung mit neonazistischen und rassistischen Motiven zu bringen, die behördenübergreifende Vernichtung von Beweismitteln, die Lügen von Leitenden Beamte gegenüber den Untersuchungsausschüssen zu erklären? Gibt es politische Grundeinstellungen, die verbindender waren, als die möglichen Differenzen zwischen Polizei und Geheimdiensten, die stärker waren, als das Wissen, dass über 13 Jahre hinweg von Amtwegen Recht gebrochen, die Verfassung ad absurdum geführt wurde und dabei schwere Straftaten und Verbrechen gedeckt bzw. deren Aufklärung verhindert wurden?

Am 18. Juli 2012 erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass das Asylbewerberleistungsgesetz aus dem Jahr 1993 verfassungswidrig ist: »Die derzeitigen Leistungen für Asylbewerber verstoßen gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Das entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am Mittwoch verkündeten Urteil. Der Gesetzgeber sei verpflichtet, die Leistungen neu zu regeln. Bis dahin gilt eine Übergangsregelung (Az. 1 BvL 10/10 und 2/11).

Führt eine Spur von der staatlich verordneten Entwürdigung von Flüchtlingen zur Mordserie des nationalsozialistischen Untergrundes/NSU?

Seit 1993 sind die Leistungen für Asylbewerber nicht erhöht worden. Während ein Hartz-IV-Empfänger einen Regelsatz von 374 Euro pro Monat erhält, sind es bei Flüchtlingen etwa 220 Euro. Damit werde das zur Sicherung des Existenzminimums Erforderliche ›evident verfehlt‹, sagte der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, bei der Urteilsverkündung. Schon die Hartz-IV-Sätze gelten als Existenzminimum.
Ursprünglich galt das Asylbewerberleistungsgesetz nur für Flüchtlinge während des Asylverfahrens. Die Regelung wurde aber auf andere Menschen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht ausgeweitet – nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren es zum Jahresende 2010 insgesamt 130.300 Menschen.« (FR vom 18.7.2012)
An diesem Gesetz haben alle ›Volksparteien‹, von CSU/CDU, FDP bis SPD mitgewirkt. Mehr noch: Welche Regierung, ob schwarz-gelb oder rot-grün, in den 19 Jahren auch immer an der Macht war, sie haben die Regelungen verschärft.

Als Begründung für diese fortgesetzte, überparteiliche, verfassungswidrige Praxis wurde angegeben, dass man alles dafür tuen wolle, um einen ›Bleibewunsch‹ der Flüchtlinge nicht zu befördern.
Den Gesetzentwurf hatte 1992, also kurz nach dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, die CSU/CDU-Fraktion eingebracht: »Der wirtschaftliche Anreiz, nach Deutschland zu kommen, muss gemindert werden«, sagte Ex-CSU-Generalsekretär Bernd Protzner damals im Bundestag. Von den Sachleistungen erhoffte sich seine Fraktion eine »Eindämmung des ungebremsten Einwandererzustroms«. (TAZ vom 18.7.2012)
Auch wenn der Sprachduktus gewählter ist, so entspricht die Praxis ganz dem rassistischen und neonazistischen Weltwelt, mit dem fünf Jahre später die führenden Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes/THS in den Untergrund gingen, um die ›Eindämmung des ungebremsten Einwandererzustroms‹ auf mörderische Weise zu vollstrecken.

Selbstverständlich ist es nicht dasselbe, ob man das Leben der hier schutzsuchenden Flüchtlinge zur Qual macht oder ob man sie umbringt. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Matrix, dass Menschen, die nicht deutsch genug sind, minderwertig sind, also weder die gleichen Rechte, geschweige denn die gleiche Menschenwürde haben dürfen.

Nach neunzehn langen Jahren erkennt nun das höchste Gericht in Deutschland etwas für verfassungswidrig, was neunzehn Jahre in einer breiten Koalition aus CSU-CDU-FPD-SPD im Namen, zum Schutz und zur Verteidigung der Verfassung beschlossen wurde.

Man könnte, man müsste meinen, der Beschluss des BVG würde ein Schock, einen Sturm der Entrüstung unter den verfassungsfeindlichen Parteien auslösen. Nein.
Man hätte auch annehmen können, dass sich die daran beteiligten Parteien zumindest schämen, sich  für eine Praxis entschuldigen würde, die sie nicht aus Versehen, sondern in genau kalkulierter Absicht betrieben haben. Nein.
Sie reagieren so, wie jemand, der nur erstaunt ist, dass das so lange gut ging.

Dass hier Menschen leben, die zu viel sind, nichts zu suchen haben, ist keine neonazistische Erfindung, sondern der breite Konsens, aus dem das Asylbewerberleistungsgesetz schöpft

Anfang der 90er Jahre wurde generalstabsmäßig eine ›Asyldebatte‹ entfacht. Die darin inszenierte ›Asylflut‹ führte geradenwegs zu der Schlussfolgerung ›Das Boot ist voll‹ (Der Spiegel). Die Allgegenwärtigkeit und Medienpräsenz dieser Kampagne lagen nicht in den Händen neonazistischer Organisationen. Sie wurde von etablierten Parteien, von der Großen Koalition aus CSU/CDU/FDP/SPD und fast allen bürgerlichen Medien ins Leben gerufen – auf deren rassistischen Gehalt sich immer wieder lächelnd neonazistische Kader bezogen, wenn ihnen Anstiftung, Mordaufrufe und Pogrome zur Last gelegt wurden.
Viele politische Enttäuschungen und soziale Unzufriedenheiten, aber auch der von allen Parteien wieder aufpolierte Stolz, ein Deutscher zu sein, bekamen ein staatlich-zugewiesenes, rassistisch markiertes Opfer: Die Ausländer, die Flüchtlinge, die ›Scheinasylanten‹ und die Juden, die in allen stecken, hinter allem stehen. Eine ungeheure Pogromwelle zog durch das wiedervereinigte Deutschland. Eine Mordwelle, die bereits in den ersten beiden Jahren über dreißig Menschen das Leben kostete und denen, die gemeint waren, das Leben zur Hölle machte.
Inbegriff dieser mörderischen Allianz wurde Rostock-Lichtenhagen 1992, als dort ein Flüchtlingsheim tagelang belagert wurde und als es lichterloh brannte, bereitstehende Hundertschaften ›Pause‹ bzw. ›Schichtwechsel‹ machten. Die (außerparlamentarische) Linke war dieser Allianz aus Regierungspolitik und deutsch-nationaler Pogromstimmung nicht gewachsen. Wenn sie intervenierte, Schutz von Flüchtlingsheimen organisierte, stand sie in aller Regelmäßigkeit einem Großteil der Bevölkerung, Lokalpolitikern und aus dem Boden schießenden neonazistischen Schlägertrupps gegenüber, die in erschreckend kurzer Zeit ›national befreite Zonen‹ schaffen konnten, in denen linke ›Zecken‹ und alles was nicht deutsch aussieht und fühlt, bedroht waren. Hinzu kamen ›Todeslisten‹ von so genannten Anti-Antifas, von neonazistischen Kadern, auf denen namentlich aufgeführt Linke standen, deren Beseitigung sie versprachen bzw. ankündigten.

Wie weit diese Bedrohung reichte, brachte Ralph Giordano 1993 öffentlich zum Ausdruck: »Wir Überlebende des Holocaust und unsere Angehörigen, wir werden unseren Todfeinden nie wieder wehrlos gegenüber stehen – niemals!…
Es ist Euer verdammtes Recht, Euren Schutz selbst zu besorgen, wenn der Staat Euch nicht schützen kann. Kein Gehör den Klugscheißern, die selbst unbedroht sind, aber weise Ratschläge erteilen wollen. Kein Gehör nach Solingen mehr denen, die uns weis machen wollen, im ›Rechtsstaat‹ habe man sich lieber von seinen Todfeinden abschlachten zu lassen, ehe man Überlegungen des Selbstschutzes anstellen darf. Nicht diese Überlegungen sind das Delikt – das Delikt sind jene Zustände, die solche Gedanken hervorgerufen haben

(Aus dem Aufruf des Schriftstellers Ralph Giordano: ›Es ist an uns zu handeln‹, TAZ vom 1.61993)

Zwei Jahre lang – bis zum Mordanschlag in Mölln am 22.11.1992 – galt als Regierungsstil und die im Regierungsstil vorgetragene Beileidsbekundung:
Zuerst bedauerte man den neusten ›ausländerfeindlichen Übergriff‹, je nach Verletzungsgrad, auch mit Entsetzen, um im zweiten Halbsatz die Dringlichkeit einer Grundgesetzänderung, die Abschaffung des Asylrechts ins Zentrum der eigentlichen Aussage zu rücken.
1993 war es dann soweit: Was Neonazis und anständige Deutsche, mit Springerstiefeln und im Anzug, mit Hass und verständlicher Sorge jahrelang, unter Schirmherrschaft einer Großen Koalition, im ›Einzelfall‹ betrieben, wurden systematisiert, verstaatlicht, verrechtlicht: Am 26.5.1993 verabschiedete der Deutsche Bundesstag mit einer satten 2/3 Mehrheit die de facto Abschaffung des Asylrechts (Grundgesetzartikel 16).
Fortan umgab sich Deutschland mit der Erfindung ›sicherer Drittstaaten‹, in die Flüchtlinge sofort abgeschoben werden konnten. Für Flüchtlinge war Deutschland nicht mehr erreichbar. Und wer es dennoch – per Flugzeug – schaffte, nach Deutschland zu kommen, den erwartete eine bis auf 98 Prozent ansteigende Ablehnungsquote von Asylanträgen – die sichere Rückkehr in Hunger, Folter und Tod.

Mit bedauerlichen Einzelfällen wird nicht erst seitdem dem ›NSU-Skandal‹ operiert

Aufgrund extrem hoher ›Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund‹ wurde in Sachsen-Anhalt eine landesweite Kampagne gegen neonazistische Gewalt gestartet, unter dem Motto: ›Nicht Weggucken‹. Was darunter der Polizeichef in Dessau, Hans-Christoph Glombitza verstand, hielten Beamte in einem Gesprächsprotokoll vom 5.2.2007 fest: »Das ist doch nur für die Galerie.« Anschließend gab er seinen Untergebenen Anweisungen, wie man zumindest die Statistik aufs unauffällige Mittelmaß drücken und damit das Ansehen Sachsen-Anhalts wieder liften könne: Erstens gäbe es die Möglichkeit, »dass man nicht alles sehen müsse« und zweitens könne man einen Bericht »auch langsamer schreiben«. Selbstverständlich handelt es sich dabei, laut Innenminister Holger Hövelmann (SPD) um einen bedauerlichen Einzelfall – dem viele Einzelfälle vorausgingen, dem sich ein weiterer Einzelfall nahtlos anschloss.
Am 8.6.2007 wurde im selben Bundesland, in Halberstadt, eine Theatergruppe von einer Gruppe Neonazis zusammengeschlagen. Die gerufene Polizei befolgte geradezu vorbildlich das oben beschriebene Drehbuch: Man hielt so lange die Personalien der Opfer fest, bis die Täter ausnahmslos flüchten konnten.
Ist das nicht das Drehbuch, nachdem auch die NSU-Morde »aufgeklärt« werden?

Führt ein Weg von der Abschreckung, Diskriminierung und Stigmatisierung von Flüchtlingen zu körperlichen Angriffen, Terror bis hin zu Mord?

Ist es ein Zufall, dass der Thüringer Heimatschutz, aus dem der NSU hervorging, sein Wurzeln in jener Zeit hat, wo kaum ein Tag verging, wo nicht ein Flüchtling, ein Mensch, der nicht deutsch genug aussah, bedroht bzw. angegriffen wurde?

Welche Schlussfolgerungen sollten neonazistische Gruppen aus dem Fakt ziehen, dass alle Parteien die ›berechtigten‹ Sorgen mordlustiger BürgerInnen ernst nahmen, mit ihnen gemeinsam vor Überfremdung und Überforderung warnten, die mit der Existenz von Flüchtlingen einhergeht, die hier Schutz suchten?

Ist es richtig, dass die Evakuierung des Flüchtlingsheimes in Hoyerswerda 1991, nachdem es tagelange belagert wurde, als ein Sieg derer zu verstehen ist, die Flüchtlinge zum Teufel wünschten?

Was sollten neonazistische Gruppierungen für einen Schluss ziehen, wenn Flüchtlingsheime belagert, angegriffen und niedergebrannt werden und die Polizei schaut zu, greift nicht ein – wie bei dem Pogrom in Rostock 1992?

Welchen Schluss sollten neonazistische Gruppen aus dem Fakt ziehen, dass alle Parteien (mit Ausnahme der Grünen) die Flüchtlinge als ein Problem definierten?

Welchen Schluss sollten neonazistische Gruppen aus dem Umstand ziehen, dass nach den zahlreichen Pogromen, den Dutzende zum Opfer fielen, eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag die Abschaffung des Asylrechts beschloss?

Bestätigt der Umstand, dass Flüchtlinge bewusst menschenunwürdigen Umständen ausgesetzt werden, kaserniert, der Residenzpflicht unterworfen werden (ein besserer Hausarrest), statt mit Geld mit Sachgutscheinen an der Kasse bezahlen müssen, neonazistische Gruppen in ihrer Überzeugung, dass Nicht-Deutsche Menschen zweiter Klasse sind?

Welchen Schluss sollten neonazistische Gruppen aus der Erfahrung ziehen, dass nicht sie verfolgt, kriminalisiert wurden, sondern antifaschistische und antirassistische Gruppen, die versuchten, sich gegen diese Pogromstimmung zu stemmen?

Gibt es irgendeinen Grund, nicht anzunehmen, dass die Abschaffung des Asylrechts, die Institutionalisierung rassistischer Grundannahmen, die systematische Entwürdigung von Flüchtlingen, die Denunziation der Schutzsuchenden als ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ neonazistische Gruppen beflügelt, getragen, bestätigt hat, weiterzumachen, bis das Wirklichkeit wird, was sie schon immer fordern: Deutschland den Deutschen?

Könnte es sein, dass die Zwei-Drittel-Mehrheit, die sich für die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, die Verabschiedung und Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetzes eingesetzt hat, dass diese ›Zwei-Drittel-Mehrheit‹ auch in den staatlichen Verfolgungsbehörden zu finden ist, die dafür gesorgt hat, dass der neonazistische Terror des NSU nicht verhindert, nicht gestoppt werden konnte, sollte?
Also alles andere als eine Aneinanderreihung von individuellen Unzulänglichkeiten und Pannen, sondern Ausdruck einer komfortablen Mehrheit – auch in den Verfolgungsorganen?

Wolf Wetzel
Mitautor des Buches: Geschichte, Rassismus und das Boot, Edition ID-Archiv, Berlin 1992
Dieses Buch ist leider nicht mehr zu haben, dafür finden sich einige Texte hier: http://wolfwetzel.wordpress.com/category/02-bucher/geschichte-rassismus-und-das-boot/

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