16.6.2010 – Über einen Versuch, Folter demokratietauglich zu machen

Veröffentlicht von

Die Folter führt aus den Gestapo-Kellern nicht zur Rettung von

Menschenleben – sondern nach Abu Ghraib

Am 31.5.2010 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg die Folterandrohung gegen Magnus Gäfgen während einer Vernehmung im Frankfurter Polizeipräsidium im Jahr 2002 als einen Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, das Folterverbot, verurteilt.

Auffallend kurz wurde in den Leitmedien darüber berichtet, ganz schnell war das Thema vom Tisch. Aus gutem Grund: Es ging um weit mehr als einen Vizepolizeipräsidenten, der ganz alleine und einsam mit Folter Leben retten wollte. Zum Beispiel um die Rolle des Innenministers Bouffier, der bald das Ministerpräsidentenamt antreten wird…


 

Im Zuge einer Fahndung nach Personen, die Jakob von Metzler entführt hatten, wurde am 30.9.2002 Magnus Gäfgen als Tatverdächtiger festgenommen und vernommen. Tags darauf ordnete der Vizepolizeipräsident Wolfgang Daschner die Androhung der Folter und gegebenenfalls deren Durchführung an. Man wollte den Tatverdächtigen »zum Sprechen bringen«.

Noch am selben Tag dokumentierte W. Daschner diesen Rechtsbruch in einer Aktennotiz und informierte den zuständigen Staatsanwalt Rainer Schilling.

Erst drei Monate später wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Frankfurter Vizepolizeipräsident eingeleitet. Der Vorwurf lautete ›Aussageerpressung‹, für Juristen gleichbedeutend mit Folter, für die Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr bis zu zehn Jahren verhängt werden können. Obwohl in anderen Fällen gegen Polizisten bei weit weniger massiven Vorwürfen diese bis zum Ende des Verfahrens suspendiert wurden, blieb der Vizepolizeipräsident im Amt.

Im Februar 2004 ließ die Staatsanwaltschaft auch diesen Vorwurf fallen.

Am 18.11.2004 standen ein namentlich nicht genannter Kriminalhauptkommissar und der Ex-Vizepolizeipräsident Daschner wegen ›Nötigung‹ bzw. ›Anstiftung zu einer Tat‹ vor dem Landgericht Frankfurt.

Das eigentliche Verbrechen, mithilfe der Folter Verdächtige ›zum Reden zu bringen‹ ist bereits vom Tisch

An besagtem 1. Oktober 2002 gab der Vizepolizeipräsident, nach mehreren Beratungen und Rücksprachen, seine Anweisungen. Im Gespräch war u.a. der Einsatz eines ›Wahrheitsserums‹ (Der Spiegel, 9/2003), um den Verdächtigen in einen Zustand zu versetzen, in dem er nicht mehr »Herr seiner Sinne« (Daschner, Der Spiegel 9/2003) ist. Es waren keine rechtlichen oder moralischen Bedenken, sondern schlicht handwerkliche Gründe, die den Einsatz dieses Mittels verunmöglichten: »In der Kürze der Zeit fand sich aber nichts.« (Daschner, Der Spiegel 9/2003). Stattdessen wurde beschlossen, dem Verdächtigten Schmerzen zuzufügen, die keine sichtbaren Verletzungen zurücklassen sollten:

»Sie brauchen jemandem nicht fürchterliche Schmerzen zufügen. Es genügt, wenn ein relativ geringer Schmerz für eine bestimmt Dauer aufrechterhalten wird.« (Daschner, FR vom 22.2.2003).

Auf die Frage der FR-Redakteure, was passiert wäre, wenn Magnus Gäfgen auch nach der Anwendung von Gewalt geschwiegen hätte, antwortete der Vizepolizeipräsident skrupellos: »Irgendwann hätte er nicht mehr geschwiegen. Innerhalb sehr kurzer Zeit.«

Obwohl die Zeit knapp drängte, war ›das Team‹ schnell zusammengestellt: Der Kampfsportexperte, der aus seinem Urlaub auf Mallorca zurückgerufen wurde, sollte die Schmerzen zufügen. Ein Polizeiarzt stand bereit, das Ganze zu überwachen und die Polizeibeamten, die das Verhör führen und die Drohungen aussprechen sollten, waren ebenfalls gefunden. Und ganz selbstverständlich dachte der Vizepolizeipräsident, ein »Ausbund von Korrektheit« (Der Spiegel 9/2003) nicht im Traum daran, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, der das Vertrauen des Beschuldigten gehabt hätte.

Was sich dann genau ereignete und abspielte, als mit dem Verhör begonnen wurde, bleibt – wofür gesorgt wurde – sehr widersprüchlich. Wolfgang Daschner behauptet, dass man bei dieser »Befragung« zuerst an Magnus Gäfgen und sein Gewissen appelliert habe, den Aufenthaltsort des entführten Kindes preiszugeben. Andernfalls müsse man ihn dazu zwingen:»Wie, das wurde ihm gegenüber nicht konkretisiert. Aber es wurde ihm schon sehr deutlich gemacht, dass wir ihm wehtun müssten, bis er den Aufenthaltsort des Kindes nennt.« (Daschner, Der Spiegel 9/2003)

Was unter »sehr deutlich gemacht« andeutungsvoll verschwommen bleibt, hat Magnus Gäfgen so beschrieben: »Ein Spezialist wäre mit einem Hubschrauber unterwegs, welcher ein Fachmann wäre und mir große Schmerzen zufügen könnte. Er könnte mir Schmerzen zufügen, die ich noch nie verspürt hätte. Die Behandlung würde keine Spuren hinterlassen. Der Beamte verdeutlichte die Situation, indem er die Rotorgeräusche eines Hubschraubers nachahmte. Der Beamte kam weiter näher, machte das Rotorgeräusch weiter nach und drohte, dass ich mit zwei großen Negern in eine Zelle gesperrt würde, welche sich an mir sexuell vergehen könnten.« (Der Spiegel 9/2003)

»Das war allein meine Entscheidung« (Daschner, FR vom 22.2.2003) – die Legende vom Einzelgänger

Die Tatsache, dass der Vizepolizeipräsident W. Daschner kurz vor seiner Pensionierung steht, am Ende seiner ordentlichen Beamtenlaufbahn, mag so zufällig sein, wie die sich im Urlaub befindlichen Vorgesetzten: Der Frankfurter Polizeipräsident Harald Weiss-Bollandt, der hessische Innenminister und der hessische Ministerpräsident Roland Koch. So gesehen haben sie alle ein ›Alibi‹ für die fragliche Zeit, als ein ihnen Untergebener die Androhung und Anwendung von Folter anordnete.

Adrienne Lochte ist die ehemalige Polizeireporterin der FAZ. Sie hatte für diese Zeitung den Fall Jakob von Metzler beobachtet und für ihr Buch »Sie werden dich nicht finden« (Droemer Verlag 2004) den Fall neu recherchiert. Man könnte dieser Autorin vieles vorwerfen, aber mit Sicherheit keine polizeifeindliche Einstellung. Gerade deshalb sind ihre Ausführungen von Bedeutung, zumal sie bisher nicht dementiert wurden. Ohne es zu wollen demontiert sie darin die Legende von der ›einsamen Entscheidung‹ an besagtem 1. Oktober 2002:

»Der Führungsstab kam zusammen. Anderthalb Stunden lang diskutierten die Kriminalisten darüber, wie Gäfgen anzupacken sei, mit welchen Methoden man ihn zum Sprechen bringen könnte, was rechtlich machbar sei. Der Polizeipsychologe soll davon abgeraten haben, dem Verdächtigen Schmerzen zuzufügen.« (S. 176)

Drei Seiten weiter fasst sie das Ergebnis dieser Beratungen und Rücksprachen zusammen:

»Der Innenminister wollte in seinem Urlaub ständig informiert sein. Auch Ministerpräsident Roland Koch, der ebenfalls gerade Ferien machte, wollte wissen, wie es weiterging.« (S. 179)

Die Entscheidung zur Androhung der Folter und die entsprechenden Vorbereitungen, sie anzuwenden, wenn die Androhung ihre Wirkung verfehlt, waren demzufolge zwischen dem Führungsstab der Polizei, dem hessischen Innenministerium und hessischen Ministerpräsidenten abgesprochen. In diesem Kreis gab es keinen Grund, Geheimnisse voreinander zu haben. Die Führungs- und Dienstaufsichtspflicht bestand also zur fraglichen Zeit in vollem Umfang, die Gefahr, dass der Vorwurf der Aussageerpressung ein Netzwerk bloßlegen könnte, also weite Kreise zieht ebenfalls.

Verwunderlich ist deshalb nicht, dass Herr Daschner bei jeder sich bietenden Gelegenheit betonte, dass nur er genau wusste, was er tat und anordnete und sich schützend vor seine Vorgesetzten stellte. Diese dankten ihm das. Der aus dem Urlaub zurückgekehrte Polizeipräsident sicherte ihm »volle Rückendeckung« (FR vom 22.3.2003) zu und auch Roland Koch (CDU) reihte sich in die Reihe der Beschützer und Versteher ein. Das verfehlte seine Wirkung nicht: Der hessische Innenminister Volker Bouffier (CDU) sieht auch nach Zulassung der Anklage der Staatsanwaltschaft vor dem Frankfurter Landgericht – beim besten Willen – keinen Grund, den ehemaligen Vizepolizeipräsident zu suspendieren.

Ein Disziplinarverfahren gegen den amtierenden Polizeipräsidenten Harald Weiss-Bollandt steht bis heute aus.

Kurz vor Prozessbeginn überraschte der Vizepolizeipräsident mit einer Stellungnahme, in der er die Legende von der einsamen Entscheidung selbst demontiert. In einem Nachtrag an das Gericht teilte er mit, sein Vorgehen mit dem Innenministerium abgestimmt zu haben.

»Aus der Wiesbadener Behörde habe er die Antwort erhalten: ›Machen Sie das! Instrumente zeigen!‹« (Spiegel online vom 13. November 2004)

Was auf den ersten Blick wie ein Strategiewechsel aussieht, war ein klug eingefädelter Deal: Herr Daschner wollte nicht als Bauernopfer da stehen und zog drohend die Spur ins Innenministerium – ohne den betreffenden Staatssekretär bzw. den Innenminister beim Namen zu nennen. Die Drohung, die Legende vom Einzeltäter auffliegen zu lassen, zeigte Wirkung. Das Urteil strotzte nur so vor ›mildernden‹ Umständen:

»Ehrenwerte Motive, mildes Urteil. Der ehemalige Frankfurter Vize-Polizeipräsident Wolfgang Daschner ist wegen der von ihm angeordneten Folterdrohung im Entführungsfall Metzler zu einer Geldstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Strafmildernd hätten sich die ehrenwerten Motive Daschners und des mitangeklagten Polizisten ausgewirkt, so die Richterin.« (Der Spiegel vom 20.12.2004)

Der Paradigmawechsel – Wer Folter anordnet und/oder befürwortet wird politisch nicht geächtet, sondern ein Medienstar

Dass man für ein richtig gutes Motiv auch mal illegale Methoden bis hin zur Erpressung von Aussagen, also Folter anwenden darf, haben die wenigsten am eigenen Leib erfahren müssen. Die meisten kennen solche Methoden und Szenen aus dem Fernsehen – wenn mal wieder der sympathische Bulle ›Schimanzki‹ zuschlägt – und man ihm verzeiht.

›Schimanski‹ bündelt wie kein anderer Fernseh-Bulle rechte wie linke Fantasien, in denen man sich ›mal vergessen‹ kann, wenn es darum geht, einem Zuhälter, Kindesmörder und/oder Vergewaltiger das Handwerk zu legen.

Im wirklichen Leben, auf Polizeirevieren und in Polizeipräsidien sind einige Menschen diesen ›Schimanskis‹ begegnet, hatten die falsche Hautfarbe, hatten Pech oder wurden des Terrorismus verdächtigt – und haben z.T. schwere Verletzungen davon getragen.

In den aller meisten Fällen werden die Ermittlungen gegen diese Polizeibeamten wegen Mangel an Beweisen eingestellt. In fast allen Fällen weist die Polizei die Vorwürfe der Körperverletzung, der Misshandlung im Amt entschieden zurück. Nicht selten beantwortet die Polizei solche Anzeigen mit Gegenanzeigen.

Das Besondere am Fall ›Daschner‹ ist also nicht, dass die Polizei Festgenommene bedroht und/oder misshandelt, dass Personen, die in ihrer Gewalt sind, zu Aussagen und Geständnissen erpresst werden. Das Besondere ist, dass ein Vizepolizeipräsident aus der behördlichen Routine des Leugnen und Vertuschens ausbricht, diese Polizeipraxis nicht bestreitet, sondern als ›letztes Mittel‹ des Rechtstaates propagiert. Seitdem reißen die Interview-Angebote und Solidaritätsbekundungen für einen Mann, der sein Amt und seine Pensionsansprüche aufs Spiel setzte, nicht ab:

»Daschner – ein Held oder ein Verbrecher? Tatsächlich gibt es kaum jemanden, der nicht den Mut des Beamten bewundert, in einer Konfliktsituation eine klare Entscheidung getroffen zu haben – und dann auch dazu zu stehen.« (Der Spiegel 9/2003)

Tatsächlich?

Die Etablierung der Folter als ›letztes Mittel‹

Tatsächlich war und ist das ›letzte Mittel‹ nie das letzte, sondern lediglich der Ort, von wo aus nach dem nächsten ›letzten Mittel‹ gerufen wird.

Wie viele ›letzte Mittel‹ wurden in den letzten 50 Jahren diskutabel gemacht, diskutiert, abgewogen und angewandt! Von der Wiederbewaffnung Deutschlands, über den ›finalen Rettungsschuss‹, über die Legalisierung von ›out of area‹-Kriegseinsätzen, bis hin zu Angriffskriegen zur »Verteidigung Deutschlands am Hindukusch« …

Aber wie etabliert und integriert man die Folter, die ein Synonym für Diktaturen und ›Unrechts‹Regimes ist?

Zahlreiche Rechtsgelehrte, Wissenschaftler und sonstige Experten haben sich daran versucht. Eine kleine Minderheit wollt(e) Folter einfach nicht Folter nennen. Die veröffentlichte Mehrheit beschritt und beschreitet hingegen den Weg der ›Güterabwägung‹. Sie bestreitet gar nicht ihre Befürwortung der Folter, sondern will sie mit der  Rettung von Menschenleben aufgewogen wissen.

Mit solchen Argumentationsfiguren hat auch ein Diktatur keine Schwierigkeiten. Das schwante auch den Folter-Befürwortern. Sie entwickelten ein neues Kriterium, um Folter in Diktaturen von Folter in Demokratien zu unterscheiden: In Diktaturen, so ihre Logik, wird willkürlich, außerhalb des bestehenden Rechts gefoltert – in Demokratien müsse mit klaren und festgelegten Maßstäben gefoltert werden, wodurch die Folter nicht länger ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, sondern ein Rechtsgut. Tatsächlich ist eine Demokratie einer Diktatur überlegen: Letztere muss außerhalb des Rechts agieren, muss jede Opposition mit allen Mitteln verhindern und zerschlagen. Erstere braucht eine (parlamentarische) Opposition – aktuell nicht zu fürchten. Eine außerparlamentarische auch nicht. An der angewandten Folter ändert das nichts – aber an der Demokratie.

Was vor 20 Jahren noch massenhafte Proteste ausgelöst, den ›sozialen Frieden‹ gefährdet hätte, ist heute ein Teil davon. So bekam der Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Heidelberg, Dr. Winfried Brugger, eine ganze Seite in der FAZ, um für die »Folter als zweitschlechteste Lösung« zu werben. Akribisch führt er acht Merkmale auf, die erfüllt sein müssen, damit anschließend gefoltert werden darf:

»Eine (1) klare, (2) unmittelbare, (3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben oder die körperliche Integrität einer Person durch (5) einen identifizierten Aggressor, der (6) gleichzeitig die einzige Person ist, die zur Gefahrenbeseitigung in der Lage und (7) dazu verpflichtet ist. (8) Die Anwendung körperlichen Zwanges ist das einzig erfolgversprechende Mittel.« (Faz vom 10.3.2003)

Diese schaurig, kalte Fähigkeit, ein (Staats-)Verbrechen in ein Rechtsmittel zu transformieren, hat in der Weimarer Republik nicht zur Stärkung der Demokratie geführt, sondern zum Faschismus. Ohne diese ›furchtbaren Juristen‹ und anderen Persönlichkeiten des bürgerlichen Lebens wäre der deutsche Faschismus nie an die Macht gekommen.

Auch Michael Wolffsohn, Professor für Geschichte an der Bundeswehrhochschule in München, musste sich zu Wort melden. Wie viele andere vor und nach ihm, erklärte dieser in der Sendung von Sandra Maischberger:

»Als eines der Mittel gegen Terroristen halte ich Folter oder die Androhung von Folter für legitim, jawohl.« (Faz vom 18.6.2004).

Das war so unerträglich wie alle anderen Fachexperten, die ihren Sachverstand der Demokratisierung der Folter zur Verfügung stellten.

Er erntete Zuspruch und Widerrede. U.a wurde er zu seinem obersten Dienstherrn, dem Verteidigungsminister Peter Struck eingeladen, der sich – je nach Deutung – nicht glücklich bis erbost über die gemachten Äußerungen zeigte. Anstatt sich damit zufrieden zu geben, dass er für solche verfassungsfeindlichen Äußerungen nicht seines Amtes enthoben wurde, legte er nach. Unter dem Titel ›J’accuse!‹ (Faz vom 25.6.2004) hält er eine analytische und persönliche Rückschau. Die erste Hälfte seines Beitrages beschäftigt sich mit der »Gegenwärtigkeit und Wirksamkeit Herzls«, mit der (Leidens-)Geschichte des Judentums seit dem 19.Jahrhundert. Was die aktuelle Debatte über das »Für der Folter« mit antisemitischen Verbrechen und Herzl’s Einsichten zu tun hat, erschließt sich anfangs überhaupt nicht – bis er die Lehre aus Judenverfolgung und Holocaust in dem Credo zusammenfasst: »Nie wieder Opfer«. Wer und was damit gemeint sind, führt er im folgenden aus: »Der neujüdische Konsens billigt (…) die Gewaltkomponente nicht nur reaktiv, sondern notfalls auch präventiv, also vorwegnehmend. Für den politischen Zweck unseres Überlebens, in Notwehr, befürworten wir die Androhung und notfalls, notfalls, notfalls die Anwendung von Gewalt, also auch Krieg.«

Man muss nicht Geschichte unterrichten, um die Behauptung zurückzuweisen, die Besetzung syrischer, jordanischer und libanesischer Gebiete habe etwas mit dem internationalen Recht auf Verteidigung zu tun. Genau so wenig kann sich die Politik der Liquidierung auf ein »Notwehr«-Recht eines demokratischen Staates stützen.

Noch schwerer auszuhalten ist, wenn er die Erinnerung an Judenverfolgung und Vernichtung dazu missbraucht, dem deutschen Staat die Anwendung und den Nutzen der Folter zu lehren. Die Außerkraftsetzung von Schutzrechten gegenüber dem Staat, die staatlich sanktionierte Minderwertigkeit von Menschen, die als Feinde des Staates, als ›Volksschädlinge‹ ausgemacht wurden, waren keine Erfindungen des deutschen Faschismus. Sie wurden in der Weimarer Republik in Gang gesetzt und endeten in der industriellen Vernichtung jüdischen Lebens im Nationalsozialismus.

Von bedauerlichen ›Einzelfällen‹ zum System der Folter

Mitten in diese Versuche, Folter zu einem rechtstaatlichen Mittel einer Demokratie zu machen, platzten die öffentlich gewordenen ›Misshandlungen‹ von irakischen Gefangenen im ehemaligen Folterzentrum des irakischen Regime unter Saddam Hussein, das seit der ›Befreiung‹ von US-Militärs und US-Geheimdiensten genutzt wird.

Normalerweise gibt es keine Beweise für solche Verbrechen. Für gewöhnlich gibt es lediglich Berichte von Opfern, die man stets in regierungstreuen Medien ignoriert und im äußersten Fall regierungs-amtlich dementiert.


In diesem Fall nicht: Als die ersten Fotos über sexuelle Demütigungen, Misshandlungen und Erniedrigungen in der ›Washington Post‹ veröffentlicht wurden, glaubte man an Privatfotos sadistischer US-Militärs, die – wie soll es anders sein – ›Einzelfälle‹ und ›Ausnahmen‹ dokumentieren, die man unisono und selbstverständlich bedauere. Als davon Hunderte solcher ›Ausnahmen‹ auftauchten, brach dieses Lügengebäude in sich zusammen.

Dass Fotos überhaupt von Folterungen und Misshandlungen gemacht werden konnten, ist keinem sadistischen Vergnügen einzelner US-Armeeangehöriger geschuldet, sondern einem System. In Abu Ghraib gehörte die Anfertigung von Fotos zum festen Bestandteil der Folter. Mit der Drohung, die auf Fotos festgehalten sexuellen Demütigungen, den Angehörigen und Freunden zu zeigen, wurden Aussagen erpresst.

Während die Regierung wahnhaft die US Army-Angehörigen als die »Edelsten der Edelsten« (US-Präsident Georg W. Bush) halluzinierte, denen ein paar ›schwarze Schafe‹ nichts anhaben können, bewirkte die Veröffentlichung der Folter-Bilder immerhin eines: Die US-Administration sah sich gezwungen, Anordnungen und Dekrete zu veröffentlichen, die trotz aller Versuche, Verantwortung zu verschieben und Befehlsketten zu verschleiern, nicht verhindern konnten, dass sich ein System der Folter (in Umrissen) abzeichnete: Ein System, das weder aus Kontrolle geriet, noch sich verselbstständigte, sondern von höchster Stelle angeordnet und immer wieder neu optimiert wurde (und wird).

Ein US-Drehbuch zur Legalisierung der Folter – ohne Copyright

Nach den Anschlägen vom 11.9.2001 begann in den US-Medien eine Diskussion über die Anwendung der Folter als legitimes Mittel im ›Kampf gegen den Terror‹. Nicht nur das absolute Folterverbot, auch die amerikanische Öffentlichkeit sollten ›aufgeweicht‹ werden, für das was kommen wird.

Während in den Medien noch ›kontrovers diskutiert‹ wurde, stand das Ergebnis andernorts bereits fest: Anlässlich einer Parlamentanhörung ein Jahr nach dem 11. September erklärte der damalige Chef der Terrorabwehr der CIA, Cofer Black, auf bohrende Nachfragen: »Die ist ein sehr geheimes Gebiet, und ich muss sagen, dass alles, was sie wissen müssen, ist: Nach dem 11.September haben wir die Handschuhe ausgezogen.« (FR vom4.5.2004)

Im Auftrag des Präsidentenstabes ließ Alberto Gonzales, juristischer Chefberater des Präsidenten, ein Gutachten im Justizministerium erstellen. Am 1.8.2002 lag es dem Pentagon vor: »Was von dort zurück ans Präsidialamt ging, war weniger sorgfältige Rechtsanalyse als eine unverblümte Handreiche für die Lizenz zum Foltern. Es war auf 50 Seiten eine völlig neue Interpretation des Begriffs Folter. Demnach hätte es einen Folterskandal von Abu Ghraib nie gegeben. Und auch sonst gäbe es herzlich wenig Folter in der Welt […] Jeder Diktator dürfte sich das Memorandum aus dem Internet heruntergeladen haben.« (FR vom 24.7.2004)

Im Dezember desselben Jahres schaltete sich der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ein und genehmigte eine überarbeitete »Liste von Verhörstechniken, die auch den Einsatz von Hunden, 20-stündige Verhöre sowie ›milde, nicht zu Verletzungen führende Kontakte‹ erlaubte.« (FR vom 24.7.2004)

Der Transfer des Folterwissens von Guantanamo/Kuba in den Irak lässt sich spätestens auf den August 2003 datieren. In diesem Monat reiste der frühere Gefängnisleiter von Guantanamo, Generalmajor Geoffrey Miller, in den Irak, mit dem Auftrag, »den Verantwortlichen dort Vorschläge für effektivere Verhöre« (FAZ vom 9.7.2004) zu unterbreiten. »Auf Millers Empfehlung genehmigte der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Irak, Generalleutnant Ricardo Sanchez, (…) für Abu Ghraib eine Liste mit harschen Methoden zur Verhörsvorbereitung – wie Schlafentzug, Zwang zum Verharren in unbequemen Körperstellungen und langer Isolationshaft.« (FAZ vom 9.7.2004)

Die Bilder von Abu Ghraib haben zwar das System der Folter offengelegt – die fortgesetzte Anwendung der Folter konnte damit nicht verhindert werden. Im Gegenteil:» Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat in einem vertraulichen Bericht die Haftbedingungen im US-Militärlager Guantánamo Bay in der bislang schärfsten Form kritisiert. Die Verhörmethoden liefen auf Folter hinaus, zitierte die New York Times am Dienstag aus dem bereits im Juli an die US-Behörden überstellten Report. Das US-Militär habe in dem Militärgefängnis auf Kuba ein ›absichtliches System von grausamer, unüblicher und entwürdigender Behandlung‹ eingerichtet, das den Tatbestand der Folter erfülle, heißt es laut der Zeitung in dem Bericht…. Der Bericht legt damit zugleich nahe, dass sich die Zustände in dem US-Militärgefängnis auf Kuba nach Bekanntwerden des Abu-Ghraib-Skandals in Irak im April nicht verbessert, sondern vielmehr verschärft haben. Das Rote Kreuz spricht von zunehmend ›ausgetüftelten und repressiven‹ Methoden.« (FR vom 1.12.2004)

Wenn man sich dieses Netzwerk aus (regierungsnahen) Medien, Regierungsstab, Justizministerium, Verteidigungsministerium, Armee und Geheimdienste vor Augen hält und es wie eine Folie auf den ›Fall Daschner‹ legt, wird man sich nicht wundern (müssen), dass das in Deutsch übersetzte Drehbuch Ähnlichkeiten und Überschneidungen aufweist.

Keine Frage, die gesellschaftlichen, politischen und imperialen Implikationen sind nicht mit denen der USA zu vergleichen.

Solange zu warten, bis ähnliche Folter-Fotos aus deutschen Gefängnissen auftauchen, wäre zynisch.

Wolf Wetzel

Autor des Buches ›Krieg ist Frieden. Über Bagdad, Srebrenica, Genua, Kabul nach …‹, Unrast-Verlag, Münster, 2002

 

Visits: 420

Schreibe einen Kommentar zu Ana Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert