Die jungen Revolutionäre aus der ganzen Welt in die richtige Richtung zu schieben …
Mitte September 1986 berichtete die Berliner Zeitung von einem „begeisternden Solidaritätsmeeting“ mit dem Präsidenten von Nicaragua Daniel Ortega vor dem Hauptgebäude der Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“ (JHS) in Bogensee. Und weiter heißt es in dem Bericht, dass sich dort „Hunderte Studenten und Lehrer (…) mit Fahnen, Spruchbändern und Freundschaftstüchern eingefunden“ hätten, um Ortega „und die anderen Persönlichkeiten des freien Nicaragua brüderlich willkommen zu heißen.“ Ortega durchschritt dann „ein dichtes Spalier von Mädchen und Jungen aller Hautfarben aus 45 Ländern.“ Hochrufe auf die internationale Solidarität und die Unbesiegbarkeit des nicaraguanischen Volkes. „Sandino lebt“ und „No Pasaran!“ (Sie werden nicht durchkommen!) wurden „in vielen Sprachen gerufen“, kurz: „Lieder der Revolution wurden angestimmt.“
Der unter anderem von dem Mitglied des Politbüros Egon Krenz begleitete Ortega nutzte seinen Besuch auch dazu, eine Gruppe junger Landsleute, die am Bogensee studierten, zu begrüßen. Seit 1980 hatten 50 AktivistInnen aus Nicaragua an dieser Bildungsstätte ihre Ausbildung erhalten. Der Bericht der Berliner Zeitung notiert, dass zu diesem Zeitpunkt etwa 15.000 Mitglieder des sozialistischen Jugendverbandes der DDR „sowie 4700 junge Revolutionäre aus 50 Ländern“ an der Jugendhochschule ausgebildet worden sind. Und weiter heißt es, „Viele der ausländischen Absolventen erfüllen heute verantwortungsvolle Aufgaben in Staat und Gesellschaft ihrer Heimatländer.“ (1)
„Dichtes Spalier“, „Mädchen und Jungen aller Hautfarben“, „Hochrufe auf die Unbesiegbarkeit“ und so weiter. Auch das alles hat es einmal in der kurzen linken Geschichte des 20. Jahrhunderts gegeben und das ist schon mehr als 30 Jahre her. 2016 veröffentlichte die finnische Kommunistin Kirsi Marie Liimatainen unter dem Titel: „Comrade, where are you today?“einen Dokumentarfilm darüber, was aus ihren ehemaligen Genossinnen geworden ist. Nachdem sie selbst 1987 von einer Shell-Tankstelle eine Flagge mit Firmen-Logo geklaut hatte, um gegen die Apartheid zu protestieren, ging sie in den Jahren 1988/89 an die Jugendhochschule, um, wie sie es formulierte, „Marxismus-Leninismus zu lernen und die Welt zu verändern“. Für ihren Dokumentarfilm führte sie die Reise zu ihren alten GenossInnen quer um die Welt, nach Chile, Bolivien, Südafrika und in den Libanon. Die Antworten darauf, was von dem dem kommunistischen Traum noch übrig geblieben ist, fallen durch die Protagonisten natürlich vielfältig aus, im Subsound ist der Dokumentarfilm melancholisch gestimmt. (2) In einer ansonsten positiv gestimmten Besprechung kritisierte Phil Butland, dass der Film teilweise den Eindruck vermittelt, „dass Sozialismus etwas Exotisches sei – etwas, das in Lateinamerika, Arabischen Ländern und Südafrika erkämpft werden kann, aber nicht hier im Westen.“ Liimatainen hätte doch für ihren Film, so Butland, doch auch mal eine europäische Genossin oder einen Genossen interviewen sollen – „jemand, der bei 15M, Nuit Debout oder in der Jeremy Corbyn-Bewegung aktiv ist.“ (3)
Vielleicht auch das hat sich nun der in Kopenhagen lehrende Historiker Detlef Siegfried zu Herzen genommen. Ob er dabei heute nun in der 15M-, Nuit Debout- oder in der Jeremy Corbyn-Bewegung aktiv ist, kann dabei offen bleiben. Ihn hat das jedenfalls nicht daran gehindert, sich auf dem Weg zu machen, die Geschichte der Jugendhochschule Wilhelm Pieck zu erkunden. Und dabei führte seine Reise gerade nicht um die ganze Welt, sondern directemang in einige Archive in Berlin und Kopenhagen, … um was? Richtig geraten: Siegfried hat eine Studie zu der besagten Jugendhochschule am Bogensee mit dem verheißungsvollen Untertitel: „Weltrevolution in DDR 1961 – 1989“ verfasst. Das Buchcover zeigt zunächst passend zu der Erzählung der Weltrevolution einen roten fünfzackigen Stern. Doch dem Titelfoto fehlt jede Militanz. Auch einen Schießprügel sucht man vergeblich. Es zeigt stattdessen mit Badehosen bekleidete junge Menschen von hinten, die sich an einem Schwimmsteg im Bogensee einem Badespaß hingeben. Man kann dieses Bild als eine Metapher zu dem untersuchten Gegenstand verstehen. Es verweist darauf, dass die Bildungsanstrengungen der Jugendhochschule Wilhelm Pieck nicht zum Sieg der Weltrevolution führten. Im Gegenteil: Solche Überlegungen, gar Träume scheinen spätestens mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in den Jahren nach 1989 – umgangssprachlich gefasst – baden gegangen zu sein.
Die mitten im Brandenburger Wald gelegene Jugendhochschule, deren Lehrgebäude nach dem Krieg mit Referenz auf die Bauten in der Ostberliner Stalinallee in einem gigantomanischen »Zuckerbäckerstil« errichtet worden waren, diente zunächst der Freien Deutschen Jugend als Kaderschule. (4) Ab 1958 wurde sie für einen internationalen Lehrgang geöffnet, in dem ein paar tausend junge Leute aus der ganzen Welt, ganz so wie es von Kirsi Marie Liimatainen in „Comrade where are you today?“ annonciert wird, im „Marxismus-Leninismus“ ausgebildet wurden. Bis zum Ende der DDR durchliefen ein paar tausend Leute, die Mitglieder sozialistischer, kommunistischer und anderer linker Jugendorganisationen waren, diesen Lehrgang in einem Studienjahr. Ziel war es, sie dazu zu befähigen, so Siegfried, „in ihren Ländern die Revolution voranzutreiben.“ Dabei hat es der von ihm gewählte Untertitel des Buches „Weltrevolution in der DDR“ in sich. Denn er erinnert daran, dass die DDR mit dieser Jugendhochschule eben immer auch als einen Ast am großen Baum des Weltkommunismus verstanden werden muss. Und eine Idee von Weltkommunismus bespielte im 20. Jahrhundert immerhin siebzig Jahre der Weltgeschichte.
In der Einleitung hebt Siegfried hervor, dass die Jugendhochschule einer der wenigen Orte in der DDR gewesen sei, „an dem junge DDR-Bürger in dieser Größenordnung ihren Alltag mit Jugendlichen aus aller Welt verbringen konnten.“ Ein Raum der politischen Diskussion, von Anpassung und Kritik gleichermaßen sei sie gewesen, „des kulturellen Aufeinanderprallens von West und Ost, Nord und Süd im globalen Maßstab, von Liebe und Sexualität über Grenzen hinweg.“ Von Siegfried wird die JHS Bogensee als eine „Schnittstelle einer alternativen Globalisierung“ bezeichnet, „die sich gegen den Kapitalismus richtete.“ Nun: Wie wurde das im Lehrbetrieb umgesetzt?
Siegfried rekonstruiert hier wesentlich die Perspektive der nordeuropäischen Jugendverbände der KPs auf den Betrieb der Jugendhochschule. Dabei stützt er sich auf die Akten der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei aus Dänemark, die regelmäßig Gruppen an den Bogensee schickte; diese sind in dem Archiv der Arbeiterbewegung in Kopenhagen überliefert. Das ist ein guter Griff, denn der Verfasser entgeht so einer auf die innerdeutschen Perspektive zentrierten Nabelschau. Zu dem nach 1949 kalt geführten deutsch-deutschen Bürgerkrieg wollte Siegfried nun wirklich keinen Beitrag leisten. Jedenfalls konnte die Schulleitung am Bogensee auch aufgrund des seit Ende der 1950er Jahre existenten Polyzentrismus der kommunistischen Weltbewegung, mit Auffassungen, die vom Dogma abwichen, nicht mehr umstandslos auf repressive Art und Weise umspringen. Im Verlauf der rund drei Dekaden des internationalen Jahrgangs verhielt sich die Mehrheit der Studierenden aber gegenüber der Schulleitung loyal. Und eben diese bemühte sich darum, so formuliert es Siegfried auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, darum, „die jungen Revolutionäre aus der ganzen Welt in die richtige Richtung zu schieben.“ Was war aber nun auf dem Weg zum Kommunismus die jeweils „richtige Richtung“? Insbesondere unter dem Einfluss des Aufschwunges globaler antiimperialistischer Bewegungen und der Studentenrevolte in den westlichen Ländern in den späten 1960ern und dann wieder in der zweiten Hälfte der 1980er im Zusammenhang mit dem Kurs von Gorbatschow sollte es zu kritischen Diskussionen an der Schule kommen. Hier meldeten sich Antiautoritäre, zum bewaffneten Befreiungskampf entschlossene AntiimperialistInnen oder MaoistInen zu Wort. Dabei stieß die von der DDR-Schulleitung natürlich stark gemachte Perspektive der „revolutionären Geduld, Geduld, Geduld“ in der Perspektive der friedlichen Koexistenz der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme nicht immer auf ungeteilten Zuspruch.
In flapsiger Formulierung hat Siegfried die Frage aufgeworfen: „Warum hat die DDR eigentlich die ganzen verrückten Leute eingeladen, die ja schwer zu händeln waren?“ Seine Antwort: Der DDR ging es darum, einen Fokus für die ganzen revolutionären Bewegungen auf der Welt zu bilden, um auch so ihr Renommee innerhalb der kommunistischen Bewegung zu stärken. Doch bei allen Schwierigkeiten und Widersprüchen im Detail: Die JHS Bogensee existierte als eine Insel der Offenheit in der DDR, die leider nicht in den Alltag dieser Gesellschaft sickerte. Sie öffnete für die Studierenden die Chance, über alle seit den späten 1970er Jahren erkennbaren Motivationslücken, die die zunehmend offensichtlichen Unzulänglichkeiten des ‘realen Sozialismus’ und der kommunistischen Parteien offenbarten, die Welt als einen Revolutionsraum wahrzunehmen, sprich: Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft zu sein, die für revolutionäre Ziele eintrat.
Auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Siegfried wurde die Frage gestellt, ob sich die zur Jugendhochschule abgeordneten AktivistInnen der FDJ – so wie die meisten Internationalen – eigentlich als Revolutionäre verstanden. Diese Frage provozierte Lachen im Publikum. Das kann ein Hinweis dafür sein, dass es sich um eine gute Frage handelt. Was sagte der mitlachende Detlef Siegfried dazu? Sein O-Ton: „Das ist natürlich ein Kernproblem (…) FDJer in ihrem Alltag? Wie konnte man eigentlich Revolutionär sein in der DDR? Ja nur indem man affirmativ war, indem man sich positiv zum Staat verhalten hat, viel gearbeitet hat, gute Ideen produziert hat, usw. Aber nicht, indem man kritisch dem eigenen Staat gegenüber gestanden hat.“ Zugleich sei eben das zwischen den Internationalen und den FDJlern, so Siegfried, ein „zentraler habitueller Konflikt“ gewesen. So manches, was die Internationalen an den Alltagsweisen einzelner FDJler hätten beobachten können, z.B. die Feier von westlichen Konsumprodukten, habe bei ihnen Kopfschütteln ausgelöst. (5) Es ist immer eine gute Frage, was einen wirklichen Revolutionär genau ausmacht. Hört man allerdings auf, kritisch gegenüber dem eigenen Staat zu sein, der eben immer auch nur ein Zwangsverband sein kann, geht das in der Regel auch auf Kosten aller anderen Bereiche einer humanen Aktivität in der Perspektive einer umfassenden Befreiung. Und auch das ist natürlich ein Kernproblem.
In dem Bogensee-Buch ist eine biografische Note eingeschrieben. Siegfried nahm selbst Anfang der 1980er-Jahre als Aktivist der SDAJ an einem Lehrgang in Bogensee teil. Hier ist es zunächst einmal ein Segen, dass man ein bisschen mehr durch die eigene Anschauung weiß. So etwas kann sich aber schnell mit dem Fluch kombinieren, dass man die Sache, in die man persönlich verwickelt ist, vielleicht zu mild und damit in interessierter Weise verzerrt darstellt. Wie hat sich denn Siegfried nun durch das Sujet seiner Begierde hindurch balanciert? Nach meinem Geschmack ist es ein pfiffig komponiertes und interessant zu lesendes Buch geworden, oder um es mit den Worten des Meisters selbst zu formulieren: „Herausgekommen ist dieses Buch, das ich als Forschung mit autobiografischen Einsprengseln beschreiben würde – ein Blick zurück über Bande, also gefiltert durch die Wahrnehmung anderer.“
Hier hat Joachim Scholtysek Siegfried in einer ansonsten wohlwollenden Besprechung der Frankfurter Allgemeinen untergeschoben, er habe mit dem Buch „Rechenschaft“ über sein eigenes Engagement ablegen wollen. (6) Diese Markierung verschiebt den Siegfried-Text in das antikommunistische Narrativ des zwischen 1949 und 1990 kalt geführten deutsch-deutschen Bürgerkrieges. Und hier haben die Linken heute noch stets in den Staub zu sinken. Die „Rechenschafts“-Markierung ist aus zwei Gründen nicht zutreffend. Erstens: Mit gekonntem Griff auf die in Kopenhagen exzellent überlieferten Akten des Jugendverbandes der Dänischen Kommunistischen Partei meidet Siegfried in seiner quellengesättigten Darstellung so pfiffig wie elegant bornierte deutsch-deutsche Blickverengungen. Zweitens: Siegfried hat das Bogensee-Buch gerade nicht aus der Perspektive eines gefallenen oder noch schlimmer: gar national geläuterten Linken formuliert. Er hat sie ganz im Geist der von Peter Weiss in seinem Monumentalwerk „Ästhetik des Widerstands“ präsentierten linken Selbstkritik verfasst – was in seinem Buch ausgewiesen ist, aber auch an anderer Stelle noch einmal vertiefter nachgelesen werden kann. (7)
Das Buch-Cover zeigt einen Badespaß von jungen Menschen beiderlei Geschlechts. Es ist wohl so, dass der Traum von der Weltrevolution in kommunistischer Absicht nach 1989 baden gegangen zu sein scheint. Richtig aber auch die Einsicht: Wer fröhlich baden geht und nicht absäuft, der oder die muss irgendwann auch mal wieder auftauchen. In diesem Sinne macht die Lektüre des Siegfried-Buches Hoffnung.
Markus Mohr
Detlef Siegfried, Bogensee. Weltrevolution in der DDR 1961-1989, Göttingen 2021. 296 S., 32 Abb., geb., 14 x 22,2 cm ISBN 978-3-8353-5011-3 (2021) URL: https://www.wallstein-verlag.de/9783835350113-bogensee.html
(1) O.N., Begeisterndes Soldaritätsmeeting mit Daniel Ortega am Bogensee/ Kundgebungsteilnehmer bekräftigten feste Verbundenheit zwischen der DDR und Nikaragua, in: Berliner Zeitung vom 19.9.1986, S. 4
(2) Kirsi Marie Liimatainen, Comrade were are you today/ Der Traum der Revolution (Film 2016 Trailer), URL: https://www.wfilm.de/comrade-where-are-you-today//comrade-where-are-you-today/.
(3) Phil Butland Filmtipp: „Comrade, where are you today?“ Was passiert, wenn eine finnische Regisseurin versucht ihre einstigen Genossen aus einer FDJ-Jugendhochschule wiederzufinden. Über einen Dokumentarfilm, der einen wichtigen Beitrag zu vergangenen und neuen Debatten über Sozialismus leistet, auf: marx.21.de vom 10.8.2016, URL: https://www.marx21.de/filmtipp-comrade-where-are-you-today/
(4) Siehe hierzu auch den touristisch inspirierten Reisebericht von Marina Mai, Geschichte am See /Der Bogensee ist landschaftlich schön, mit markanter Geschichte: Hier findet sich eine Goebbels-Villa und die ehemalige FDJ-Jugendhochschule der DDR, in: taz vom 31.8.2020, URL: https://taz.de/taz-Sommerserie-Sommer-vorm-Balkon/!5705316/
(5) Detlef Siegfried, (Gespräch mit Dagmar Enkelmann und Jürgen Danyel in der Rosa Luxemburg Stiftung Berlin) Weltrevolution in der DDR – Die Jugendhochschule «Wilhelm Pieck» am Bogensee, am 13.9.2021, URL: https://www.youtube.com/watch?v=bNNgRkBDuGQ&t=1348s
(6) Joachim Scholtysek, Fatale Instrumentalisierung / Wie die SED im ländlichen Brandenburg junge Revolutionäre ausbildete, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.11.2021, S. 6
(7) Detlef Siegfried, Verratene Hoffnungen und neue Subjektivität / Zur Rezeption der „Ästhetik des Widerstands“ in den 1980er Jahren (Vortrag auf dem Kongress Globale Räume für radikale Solidarität des Münzenberg-Forums und der RLS – 1. Internationaler Willi-Münzenberg-Kongress vom 17. bis 20. September 2015 in Berlin – im Willi-Münzenberg-Saal Berlin) URL: http://peterweiss100.de/2016/10/11-2/
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