Länderprofil Spanien
Im Januar 2012 erreichen die spanischen Arbeitslosenstatistiken den geschichtlichen Höhepunkt. Die Umfrage La Encuesta de Población Activa INE (Instituto Nacional de Estadística), Nationales Statistikinstitut von Spanien, schließt das vergangene Jahr mit der Rate von 22,85%, also 5.273.600 Personen ohne Arbeit ab. Im Vergleich dazu gab es 1,7 Millionen Arbeitslose in Spanien, als der Bauboom Anfang 2007 sein Ende fand. Seit Beginn der Krise gingen in Spanien insgesamt 2,7 Millionen Arbeitsplätze verloren, 55 Prozent davon in der Bauwirtschaft. Mehr als die Hälfte der spanischen Arbeitslosen suchen seit mehr als einem Jahr einen Job.
Mit 48,5 Prozent ist bei den Spanier_innen unter 25 Jahren fast jede/r zweite/r ohne Arbeit. Damit sind in Spanien dreimal so viele Jugendliche ohne Arbeit wie im Rest der Welt, deren Erwerbslosenquote die Vereinten Nationen mit 13% junge Erwachsener betreffend, ermittelt haben, doppelt so viele wie in der gesamten EU (24,4%).
Der in den letzten Jahren populär gewordene Begriff der generación Ni-Ni (›die Weder-Noch-Generation‹ - die Abkürzung steht für ›ni estudian, ni trabajan‹ – sie studieren nicht, noch arbeiten sie) bezieht sich auf eine Generation von jungen Leuten zwischen 14 und 30 Jahren, die weder zur Schule gehen, noch eine Ausbildung anfangen. Sie wohnen oft noch im elterlichen Zuhause und haben eine absolut pessimistische Sicht auf ihre Zukunft, die ihnen keine beruflichen Aussichten bietet. Nach einer Studie zur Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, die die Gewerkschaft UGT in der nordostspanischen Region Katalonien durchgeführt hat, arbeiten dort fast ein Viertel der Jugendlichen nicht. Ihre Zahl habe sich seit 2005 auf heute rund 155.000 fast verdreifacht. (http://www.taz.de/Trauriger-Rekord-in-Spanien/!86539/)
In mehr als 1,5 Millionen spanischen Haushalten arbeitet kein einziges Mitglied. Infolge der Krise ist inzwischen jeder fünfte Einwohner Spaniens unter die ›relative‹ Armutsgrenze gerutscht – das bedeutet ein Jahreseinkommen von weniger als 7.950 Euro bei einem Single-Haushalt oder von höchstens 16.684 Euro bei einer vierköpfigen Familie.
Vicenç Navarro, Professor an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona beschreibt treffend die Krise in Spani: »Das Hauptproblem von Spanien ist nicht die Verschuldung, sondern die extrem hohe Arbeitslosigkeit.«
Als einer der Gründe der Misere werden die Reformen Mitte der achtziger Jahre angeführt, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen für zeitlich befristete Verträge schufen, um den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren. Zuvor war es für Arbeitgeber schwierig , Arbeiternehmer_innen zu entlassen, ohne eine recht hohe Abfindung zu zahlen. So gesehen war die massive Ausweitung der Zeitarbeit eine politische Strategie, um den vielen Arbeitslosen, die im Vergleich zu den Festangestellten bisher keine Chance hatten, ein - wenngleich auch prekäres - Arbeitsangebot zukommen zu lassen.
Als Folge der temporären Arbeit durch Zeitarbeitsverträgen sehen sich die ArbeitnehmerInnen einer hohen und permanenten Arbeitsrotation unterworfen, da die Verträge von nur sehr kurzer Dauer sind (die meisten sind weniger als drei Monate), da es gesetzlicher Betrug ist, wenn ein Unternehmen ein und denselben/dieselbe Arbeitnehmer_in für verschiedene Aktivitäten in mehrere befristete Verträgen unterzubringen versucht, um ihn/sie zu behalten.
Jede/r Vierte arbeitete im vergangenen Jahr unter diesen Bedingungen. Im Vergleich dazu arbeitet nur jede/r Zehnte in Deutschland unter ähnlichen Voraussetzungen. Die verstärkte Präsenz der Jugend in den Schichten der Zeitarbeit (65% der Zeitarbeitsbeschäftigten sind unter 30 Jahre) bedeutet, dass junge Menschen als ›ideale Kandidaten‹ für diese Art von Missbrauch und prekärer Beschäftigung eingesetzt werden.
Im Mai 2010 noch attackierte Angelika Merkel die südlichen Länder mit der Feststellung: »Es geht (…) darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen - das ist wichtig.« (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,763247,00.html)
Und schon im Juni wurde in Spanien beschlossen, das gesetzliche Rentenalter von 65 auf 67 Jahre anzugeben, in administrativen Berufen sogar von 65 auf 70 Jahre. Das Gesetz, das ab 2013 in Kraft treten soll, fixiert das Rentenalter auf 67 Jahre, dabei müssen 37 Jahre Arbeit, Steuerzahlungen und Sozialabgaben nachgewiesen werden können.
Die Reformen, die der spanische, sozialistische Regierungschef in seinem vorletzten Amtsjahr durchsetzte, erleichtert Unternehmen Entlassungen, von kurzer Ankündigungsdauer und geringer Entschädigung schnell und unkompliziert abzuwickeln.
Nach Modelo alemán (also nach deutschem Modell) beinhaltet die Reform ebenfalls, dass die Durchsetzung von Kurzarbeit einer Entlassung des Arbeitsnehmers/der Arbeitnehmerin vorgezogen wird.
Vorgesehen wird ebenfalls eine strengere soziale Kontrolle von ArbeitslosengeldempfängerInnen.
Die Minijob Variante, als deutsches Wertprodukt in Spanien hochgejubelt, beginnt als Strategie gegen Langzeitarbeitslosigkeit die Gemüter der spanischen Regierenden zu erfreuen.
Das Angleichen von Reformen gilt natürlich nur für die Länder im Süden - die Länder, die sich rassistische und diskriminierende Kommentare erlauben, schreiben den anderen die Zins- und Darlehnspolitik vor.
Was ist mit dem Angleichen von Sozialhilfezahlungen? In Spanien gibt es das Arbeitslosengeld (Prestación por desempleo), deren Dauer abhängig von der Beschäftigungszeit der letzten sechs Jahre ist. Das Arbeitslosengeld wird in einer Zeit von vier Monaten bis maximal zwei Jahre gezahlt, danach droht den Spanier_innen, die keine Arbeit gefunden haben das große Nichts: NADA! (NICHTS!) Oft muss die Familie einspringen, Personen mit vierzig oder mehr Jahren ziehen zurück zu den Eltern, während die dreißig Jährigen oftmals erst gar nicht ausgezogen sind, denn die Einnahmen oder das Arbeitslosengeld reichen nicht aus, um alleine oder in einem WG-Zimmer zu wohnen.
Soziales Unbehagen
In dem Kapitel ”La autonomía conquistada y la privatización del yo” ( www.traficantes.net/index.php/…/luchas%20autonomas-web.pdf – Die eroberte Autonomie und die Privatisierung des Ichs) der beiden Autoren Marina Garcés und Santiago López Petit wird die momentane Misere als La vida como campo de batalla (Das Leben als Schlachtfeld) beschrieben.
% der Arztbesuche in Spanien beziehen sich auf Fälle von Depression und Angstzustände der Patient_innen. Nach der spanischen Pharmazeutenkammer, der Agencia Española del Medicamento, werden 50 % mehr Anxiolytika und Hypnotika als vor zehn Jahren verschrieben, sie befinden sich auf Platz 20 der Liste für pharmakologische Produkte.
In Katalonien sind die Ausgaben eines normalen Haushalts um das Doppeltes angestiegen, da sich im Warenkorb Pharmazeutische Mittel befinden. Der Konsum von Antidepressiva ist seit 2001 um 25% angestiegen. Das spanische Gesundheitssystem, das bisher noch für jede/n kostenfrei zugänglich ist, trägt auch die Kosten der verbilligten Rezepte der verschriebenen Pharmazeutika. Die katalonische Länderregion hat 2005 mit 124 Millionen Euro pharmazeutische Rezepte subventioniert.
Sogar noch vor der Zahl der Verkehrstoten ist Selbstmord bei Personen zwischen 15 und 44 Jahren in Barcelona die erste Todesursache, was mehr Männer als Frauen betrifft. Auch wenn die Studien der Forschungsgruppe aus dem Hospital San Pau zu der Zahl der Selbstmorde keinen direkten Bezug zu der momentanen sozialen Lage herstellt, ist das Ansteigen der Zahl der Selbstmorde bedenkenswert.
Wirtschaft
Seit dem letzten Quartal 2011 steckt die spanische Wirtschaft in der Rezession und es ist keine Besserung in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt wird dieses Jahr um mehr als einen Prozentpunkt sinken. Auch die Sparmaßnahmen, mit denen das Defizit von 8,1 Prozent bis Ende 2012 auf 4,4 Prozent gedrückt werden sollte, ändern nichts an der Situation. Die Kürzungen betreffen vor allem Angestellte im öffentlichen Dienst, die um ihre Arbeitsplätze fürchten. Mehr als ein Viertel der im letzten Quartal Entlassenen kommt aus Verwaltung, öffentlichen Betrieben, Schulen und dem Gesundheitssystem.
In Madrid wurden in der Oberstufe staatlicher Schulen 3.000 Lehrerstellen gestrichen und in Katalonien sind überwiegend Krankenhäuser und soziale Einrichtungen von den Kürzungen betroffen. (http://www.taz.de/Trauriger-Rekord-in-Spanien/!86539/)
Die nächste sozialpolitische Garotte wurde im Februar 2012 von der nun konservativen Regierung auf den Weg gebracht: »Die alte Regel, die Abfindungen von 45 Tageslöhnen pro gearbeitetes Jahr vorsah, wird abgeschafft; in Zukunft gilt für alle unbefristeten Verträge eine maximale Abfindung von 33 Tageslöhnen pro Jahr. Zudem wird die Liste der zulässigen Kündigungsgründe erweitert. Zu den besonderen Schärfen der neuen Regelung zählt, dass nun auch wegen anhaltender oder erwarteter Verluste und Umsatzeinbußen gekündigt werden darf. Massenentlassungen müssen nicht mehr vorab von den Behörden autorisiert werden; weil eine solche Regelung damit nur noch in Griechenland existiert, sagte die Arbeitsministerin Fátima Báez, dass Spanien nun auch in dieser Hinsicht ›europäischer geworden‹ sei.« (SZ vom 11.2.2012)
Mit welcher Freude dies unter den unkündbaren Exekuteuren aufgenommen wurde, macht die Veröffentlichung eines Gespräches deutlich, das an Offenheit und Zynismus nichts zu wünschen übrig lässt: »Am Donnerstagabend wurde Wirtschaftsminister Luis de Guindos dabei ertappt, wie er dem europäischen Währungskommissar Olli Rehn auf Englisch in einem vertraulichen Gespräch ins Ohr säuselte, dass ebendiese Arbeitsmarktreform ›extremely aggressive‹ sein werde: ›extrem agressiv‹. Kündigungen würden billiger werden, die Tarifbindung ›sehr flexibel‹. Rehn nickte anerkennend. Und antwortete: ›Das wäre vorzüglich. Sehr gut.‹« (SZ vom 11.2.2012)
Am 24.4.2012 meldete die Zeitung ‚El Pais’, dass die Polizei in einer öffentlichen Fahndung über 200 Personen sucht, die während des Generalstreikes am 29. März 2012 der „Straßengewalt” bezichtigt werden. Auf dieser Seite werden BürgerInnen aufgefordert (unter Wahrung ihrer Anonymität) Vornamen, Nachnamen, Telefonnummer oder Mailadresse mitzuteilen…
Im Internet werden die Portraits von Personen eingestellt…
„La Generalitat de Cataluña puso en marcha este martes un espacio alojado en www.gencat.cat/mossos para que los ciudadanos puedan delatar a las personas que la policía catalana considera que protagonizaron episodios de violencia callejera en la pasada huelga general del 29-M en Barcelona. La página recoge fotografías explícitas de 68 personas. En algunas se ve claramente cómo causan graves altercados; en otras, las imágenes no son tan definitivas. Los Mossos d’Esquadra aseguran que tienen más pruebas, aparte de las instantáneas, contra las personas que buscan identificar.“ (http://ccaa.elpais.com/ccaa/2012/04/24/catalunya/1335287580_335515.html)
Wie das aussieht, wenn Proteste in ein Panoptikum verwandelt werden, seht ihr hier:
Fahndungsgalerie: http://www20.gencat.cat/docs/mossos_colaboracio/index4601.html
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