Weit über den 1. Mai hinaus.
„Wir werden uns keinen Zentimeter in Richtung eures Armageddons bewegen.“ (Roger Waters)
Dieses Geschenk haben wir dem Magazin Manova zu verdanken. Sie haben es entdeckt, ausgepackt und uns allen mit auf den Weg gegeben, weit über den 1. Mai hinaus.
Es handelt sich um eine Rede von Roger Waters, die er zum 80. Jahrestag der Konferenz von Jalta hielt. Roger Waters war für mich in den 1970er und 1980er Jahren einer von Pink Floyd, eine Rockband, die man so anhört. Besonders gerne hörte ich dennoch „Money“ und „Teacher, let the kids alone“.
Wenn man jetzt seine Rede als 81-Jähriger liest, dann kann man nur staunen, was ihm in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, neben der Musik und den bombastischen Shows. Er hat ein Verständnis von Geschichte, die so vielen meiner ehemaligen Weggefährten verloren gegangen ist oder vielleicht auch nur im Kulturbeutel Platz hatte.
Was mich jedoch sofort berührt hat, mit welcher Klarheit und mit welchem offenen Schmerz er den live übertragenden Genozid in Gaza in Worte fasst:
„Warum sehen wir tatenlos zu, während das Unaussprechliche geschieht? Warum akzeptieren wir einen Völkermord, wenn wir doch geschworen haben ‚Nie wieder‘?“
Genau diesen beiden Gedanken wälze ich seit Monaten hin- und her. Nie hätte ich gedacht, dass auch wir mit diesen Fragen konfrontiert sein werden! Denn die Fragen, die manche von uns auch an unsere Eltern oder Erziehungsberechtigten stellten, fallen heute auf uns zurück.
Auch Roger Waters geht seine Geschichte zurück und macht Menschen und Gedanken von Martin Luther King bis Malcom X wieder sichtbar.
Es ist ein Genuss, diese Rede zu lesen und dieses Geschenk bekommen zu haben. Vieles wird auf unbeabsichtigte Weise jene beschämen, die am 1. Mai auf großen Bühnen, von oben herab viel reden und dabei ganz besonders darüber schweigen, was Roger Waters in seiner Rede zusammengetragen hat und zur Grundlage macht, sich dem vorbereitenden Armageddon zu widersetzen.
Auszüge daraus:
„Jeden Morgen, wenn mir beim Aufwachen die Brust eng wird und die Tränen kommen, reiße ich mich zusammen und wappne mich für den Kampf: Was kann ich heute tun? Warum bereite ich mich jeden Tag auf den Kampf vor? Weil wir jeden Tag den existenziellen Kampf um die Seele der Menschheit führen.
Leben wir im Westen, so leistet unsere Regierung beim live übertragenen und vor unseren Augen begangenen Völkermord an der einheimischen Bevölkerung Palästinas durch den Schurkenstaat Israel Beihilfe. Es fühlt sich wie ein Albtraum an — es ist jedoch kein Albtraum, es ist real.
Ungläubig kneifen wir uns: Das kann nicht wahr sein. Wenn wir Kinder haben, stupsen sie uns: „Mama, Papa, macht, dass sie aufhören! Mama, Papa, warum hält sie niemand auf? Papa! Papa! Was ist mit den Vereinten Nationen, Papa? Was mit dem Völkerrecht? Papa! Was ist mit den Genfer Konventionen? Papa, Papa, sie bringen die Kinder um, Papa! Papa, sie begraben sie unter dem Schutt. Mach, dass sie aufhören.“
Und dann atme ich tief durch. Warum, glauben Sie, bin ich in Jalta? Das ist eine gute Frage, oder? Was ist mit dem Völkerrecht, was ist mit den Vereinten Nationen?
Wir sind heute hier, um den 80. Jahrestag eines Treffens dreier Männer zu begehen: Joseph Stalin, Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt. Sie trafen sich im März 1945 hier, um das aufzuteilen, was von Europa nach dem Zweiten Weltkrieg übrig geblieben war. Sie taten dies ohne viel Aufhebens, sprachen aber auch davon, den Versuch zu unternehmen, den Völkerbund, dem es nicht gelungen war, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, durch die Schaffung eines neuen internationalen Forums zu ersetzen, das dort Erfolg haben würde, wo der Völkerbund gescheitert war. Gute Idee — man verschärfe die Regeln ein wenig, nenne es die Vereinten Nationen — klingt gut. (…)
Mit der Hand auf dem Herzen haben unsere Führer ein feierliches Versprechen gegeben: „Nie wieder.“ Aber — so sehr ich es auch hasse, derjenige zu sein, der Ihnen das sagen muss — einige von ihnen hatten dabei ihre Finger auf dem Rücken gekreuzt, manche von ihnen haben gelogen. Manche von ihnen haben geschworen, die universellen Menschenrechte zu unterstützen und zu wahren, dies aber nicht wirklich ernst gemeint. Einige von ihnen waren tatsächlich Anhänger der Ethno-Suprematie, wie auch die Nazis es gewesen waren — Menschen, die davon überzeugt sind, dass manche Menschen mehr Menschenrechte als andere haben sollten.
Sie glauben an die Menschenrechte, aber nur für ein paar wenige Auserwählte — die wenigen, die sie auswählen.
Lassen Sie mich Ihnen einen flüchtigen Eindruck (davon) geben — kommen Sie mit mir nach Palästina im Jahr 2007. Ich befand mich mit einer reizenden Frau namens Allegra Pacheco, die für die UN arbeitete, in einem Jeep der UNRWA. Wir fuhren auf einer nagelneuen Autobahn durch das besetzte Gebiet gen Norden Richtung Jenin, als ich anmerkte: „Nun, zumindest haben sie gute Straßen.“ — „Ja“, antwortete Allegra, „sie sind nur für Juden.“ — „Sei nicht albern, das ist lächerlich.“ — „Ja, das ist es, aber es stimmt: Wenn du hier lebst, musst du Jude sein, um die Straße nutzen zu dürfen.“
Worauf ich hinauswill, ist, dass die Israelis dies nicht als Widerspruch sehen. Für sie war Völkermord im Zweiten Weltkrieg in Europa, in Deutschland oder in, sagen wir, Warschau in Polen falsch, aber jetzt, im Nahen Osten in Gaza, ist er in Ordnung, weil der Kampfstiefel an einem anderen Fuß sitzt. Die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte war also in Wirklichkeit eine Scharade, Teil einer Art Maskenballs, um die Aufteilung der Kriegsbeute zu feiern. (…)
Die grundlegende Frage lautet: „Können unsere Stimmen so viel lauter werden, bis wir das Verhalten unserer Regierungen beeinflussen können, weil sich diese im Moment sehr schlecht verhalten — sind sie doch in ihren weißen, suprematistischen rassistischen europäischen Wurzeln verankert — und zwischen uns und dem Fortschritt in Richtung unseres Ziels stehen, in Richtung des Heiligen Grals, der Umsetzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von vor so vielen Jahren?
Ich denke, wir haben festgestellt, dass wir unseren Führern nichts überlassen können. Apropos Führer — ein Großteil unserer Aufmerksamkeit ist auf die neue Regierung in Washington, DC gerichtet. Welchen Weg wird Donald Trump einschlagen? Seine Taten sprechen lauter als Worte, seine Taten sagen uns, dass er sich um die Rechte anderer — im Gegensatz zu seinen eigenen Rechten — keinen Deut schert. Zumindest ist er in dieser Hinsicht offen und ehrlich. Seine Taten sprechen lauter als Worte, und sein Plan ist offenkundig: sich selbst und seine unmittelbare Familie, gefolgt von Elon Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und den Rest der Oligarchen zu bereichern — also die ganzen 0,0001 Prozent von uns. Und der Rest von uns? (Er ahmt das Waschen von Händen nach.) Willkommen bei den 99,9999 Prozent.
Wir stehen an einer Kreuzung.
Wir sind alle eingebunden in den existenziellen Kampf um die Seele der Menschheit.
Welchen Weg sollen wir einschlagen?
Können wir an dem Traum festhalten?
Wie können wir erklären, dass das unaussprechliche Verbrechen des Völkermords unaussprechlich ist — unabhängig davon, an welchem Fuß der Kampfstiefel sitzt?
Gibt es einen Grund dafür, dass das Verbrechen des Völkermords unaussprechlich ist?
Was wäre, wenn das unaussprechliche Verbrechen des Völkermords sich als die Achillesferse des Zionismus entpuppte, weil es uns einlädt, wie Narziss auf unser eigenes Spiegelbild im Wasserbecken zu starren? Was, wenn wir am Grunde des Beckens unser eigenes unaussprechliches Spiegelbild sehen? Was, wenn wir europäischen Kolonisatoren uns mit unserer eigenen Geschichte von Völkermord sowohl in Nord- als auch in Südamerika und Afrika und Australasien auseinandersetzen müssen? Die Kolonien des Imperiums, ob englische oder spanische oder niederländische oder portugiesische oder französische, waren nie etwas, worauf man stolz sein konnte.
Jahrhundertelang haben wir Europäer im Namen Gottes das Unaussprechliche begangen. Der Rest war Theater.
Erinnert Sie das an irgendetwas? All die schönen Worte in Unabhängigkeitserklärungen, all die Verfassungen, groß in fließenden Schriftzügen auf feinem Pergament verfasst. Die Heuchelei von Frieden, Freiheit, Demokratie — alles nur Theater. Schau in das Wasserbecken, Narziss; all das Künstliche Hollywoods kann die Tiefe der Verderbtheit, die unsere gemeinsame Geschichte ausmacht, nicht verbergen.
Was ist es, das US-Amerikaner im Besonderen, aber in Wirklichkeit alle weißen Männer so sehr fürchten? Wir alle haben Angst davor, als das entlarvt zu werden, was wir wirklich sind. Anders ausgedrückt: Wir fürchten das blendende Licht der Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass westliche Regierungen, wenn sie Israels psychotisches Blutbad unterstützen, nicht nur Israels entsetzliche Verbrechen rechtfertigen, sondern auch sich selbst verteidigen, gefährlich kauernd auf sehr wackeligem, sehr instabilem Grund und voller Scham, unentschuldbare imperiale Vergangenheiten verteidigend.
Ok, jetzt kann ich´s gleich auch richtig krachen lassen: das Alte Testament der Bibel. Ohne das Alte Testament mit seinen Geschichten von einem ungerecht behandelten Volk, das von einem rachsüchtigen, blutrünstigen Gott barmherzig gerettet wurde, hätten wir Europäer nichts gehabt, mit dem wir unserer eigenen barbarischen kolonialen Vergangenheit eine falsche, höhere Bedeutung geben konnten. Wenn also genug von uns ins Wasserbecken blicken und durch die Achillesferse hindurchsehen, werden wir die Wahrheit sehen. Es ist nicht Gott, der Israel die Erlaubnis erteilt, seinen mörderischen Amoklauf fortzusetzen — wir sind es. (…)
Quelle und Hinweise:
Abgründe der Gier, Roger Waters, 2025: https://www.manova.news/artikel/abgrunde-der-gier
Roger Waters in der Messehalle in Frankfurt am 28.5.2023 und die Allianz der Niederträchtigen, Wolf Wetzel:
Roger Waters in der Messehalle in Frankfurt am 28.5.2023 und die Allianz der Niederträchtigen.
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