Sich wieder jung fühlen und eine ‚Russkaja‘ zu Besten geben. Heraus zum 9. Mai! Von Markus Mohr
Es war in der Nacht vom 8 auf den 9. Mai um 0.50 Uhr als in einem Offizierscasino der Wehrmacht in Berlin-Karlshorst die Sitzung, in der die vier Alliierten die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht entgegengenommen hatten, beendet wurde. Der Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte Georgi K. Shukow schreibt hier in seinen Erinnerungen: „Dann fand ein Empfang satt, auf dem große Begeisterung herrschte. Das Bankett eröffnend, brachte ich einen Trinkspruch auf den Sieg der anti-hitlerischen Koalition über Nazi-Deutschland aus. (…) Das Festessen endete am Morgen mit Liedern und Tänzen.“ Shukow erinnerte sich in seinen 1969 in Ost-Berlin auf Deutsch erschienenen Memoiren sicher noch einmal gerne daran, dass „die sowjetischen Generale“ beim Tanzen „einfach nicht zu schlagen“ waren. (Ich) „fühlte mich wieder jung und gab eine `Russkaja´ zu besten.“ (1)
Kurz darauf, etwa um 1.00 Uhr, vermeldete Juri Borissowitsch Lewitan mit seiner unverwechselbaren Stimme auf Radio Moskau den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Angefangen vom Angriff Nazideutschlands am 22. Juni 1941 folgende, war er es, der die Sowjetbevölkerung kontinuierlich über das Kriegsgeschehen informiert hatte. Der Schauspieler Vladimir Yakhontov benannte Lewitan als die „Stimme, die `Moskau spricht´ sprach“. Für die Sowjetbürger sei es unmöglich gewesen, so Yakhontov in seinen Memoiren, „zu leben, ohne Radio zu hören. Es signalisierte, führte, alarmierte, verband uns. Die Stimme, die „Moskau spricht“ sprach, beruhigte, begeisterte die Aufmerksamkeit und erweckte die Hoffnung. Er wurde im ganzen Land gehört. Die Soldaten lauschten an der Front, die Partisanen lauschten in den Wäldern, die Verwundeten in den Krankenhäusern lauschten, sie lauschten im belagerten Leningrad. “ Während des Krieges soll in der Bevölkerung die Anekdote kursiert sein, dass jemand einmal Joseph Stalin gefragt haben soll: „Wann wird der Sieg kommen?“ und der habe gescherzt: „Wenn Lewitan es erklärt.“ (2)
Nun war es soweit. In einer etwas zweiminütigen Ansprache erklärte Lewitan den Sieg über Nazi-Deutschland, und dankte allen Soldaten und Stalin. (3) Nach einem Bericht der New York Times verbreitete sich diese Nachricht von diesem großartigen Sieg in der Stadt „wie ein Lauffeuer“ und löste in der Bevölkerung „einen stürmischen und noch nie dagewesenen Freudentaumel“ aus. Nachbarn weckten einander und ließen jede Vorsicht außer Acht, die normalerweise das Zusammenleben in Moskau prägte. (4) Die Historikerin Cathrine Merridale schreibt:
„Ganze Familien eilten auf die Straßen hinaus, die Männer griffen nach ihren Flaschen, die sie genau für diesen Anlass aufbewahrt hatten und es begann ein großes Fest, das bis zum nächsten Abend ging. Mit der Morgen Dämmerung strömten weitere Menschen in die Stadt und bis zum Nachmittag feierten mehr als drei Millionen auf den offenen Plätzen rings um den Kreml. (…) Gegen 22 Uhr fluteten Hunderte von Scheinwerfern auf und strahlten das berühmte Ensemble an: die Art-deco-Fassaden der Hotels und die Zinnen der Türme und Mauern. Sie überzogen das Ganze mit Wellen aus Purpur, Rot und Gold.“ (5)
Überall her erschallte Musik, von den Feiernden waren portable Grammophone mitgebracht worden, und bekannte Künstlerinnen wie die Pianistin Nina Yemelyanova traten auf größeren Plätzen auf, um Klavierstücke zu spielen. (6)
Nach den Worten des amerikanischen Journalisten Cyros Leo Sulzberger erlagen „selbst die Unglücklichen – und man darf nie vergessen, dass fast jede sowjetische Familie ihre Angehörigen verloren hat – (…) entspannten Gefühlen der Dankbarkeit und des Stolzes.“ Auch Jurij Lewitan, habe „seine traditionelle Ruhe verloren“, und verkündete, dass heute ein Feiertag sei und dass niemand arbeiten würde.
„Als die Sonne zwischen den Türmen und Zinnen des alten Kremls aufging, dröhnten die Flugzeuge der Roten Luftwaffe tief über der Stadt, und ein Gebäude nach dem anderen wurde mit roten Fahnen, Bändern und Vorhängen verhüllt. Das Radio ließ die sowjetische Hymne, „Das Sternenbanner“ und „Gott schütze den König“ durch die auf jedem Platz aufgestellten Lautsprecher erklingen.“ (4)
„Die spontane Freude“ vermerkt der Journalist Alexander Werth, war so tief wie man es vorher in Moskau noch nie erlebt hatte. „Man tanzte und sang auf den Straßen. Soldaten und Offiziere wurden geküsst. Die Menschen seien so freudetrunken gewesen, dass sie gar keinen Alkohol mehr brauchten. Der Sieg schien allen zu gehören. Einen Moment lang gab es keine echten Unterschiede mehr zwischen Fabrikarbeitern und Büroangestellten, Schriftsetzern, Ingenieuren, Kolchosbauern und Panzerplanern. Sie alle hatten, jeder an seinem Platz, ihren Beitrag zur Bezwingung des Faschismus geleistet.“ (7)
An dieser Freudenfeier in Moskau zum Sieg über den Faschismus haben sich wohl drei Millionen Menschen beteiligt. Sie fand einfach so, d.h. ohne Ansage, Regie oder Planung durch Staat und Partei statt. Es muss eine der schönsten Feiern in der Geschichte des 20. Jahrhunderts gewesen sein.
Ein Grund mehr für die sowjetische Staats- und Parteiführung nunmehr sofort die Planung für eine Siegesparade aufzunehmen. Die Ausarbeitung des Plans dauerte mehrere Wochen und in dem geplanten Zeremoniell wurde allen Handverlesenen eine feste Rolle zugewiesen. Soldaten erhielten Unterricht für fortgeschrittenes Exerzieren. Fast alles wurde einstudiert. Statt fröhliches Chaos standen nun geometrische Präzision auf dem Plan. Nicht Menschen, sondern Figuren sollten den Roten Platz füllen. Nun ging es nicht mehr um still Musik hören, zu saufen, zu tanzen, zu singen sich zu umarmen oder zu küssen, sondern um Triumph und Autorität. Am 24. Juni war es dann soweit: Stalin stand auf dem Lenin-Mausoleum und nahm die große Siegesparade der Roten Armee ab. (8) An seiner Seite stand Marschall Shukow, sein Stellvertreter, der Sieger von Moskau, Stalingrad und Berlin. Die vorbeimarschierenden Truppen wurden von Marschall Konstatin Rokossowski angeführt. Während die Infanterieregimenter, die Kavallerie und die Tanks über den Roten Platz defilierten, spritzte der Straßenschmutz – es regnete in Strömen – an den unzähligen Bannern und Standarten der Hitlerarmee hoch. Am Mausoleum warf man die Trophäen vor Stalins Füße. Für Isaac Deutscher war diese allegorische Szene zwar „wunderbar erdacht und doch seltsam vertraut.“ Das seien „Stunden nie erträumten Triumphs und Ruhmes“ gewesen:
„Aber selten waren Siegestaumel und Enttäuschung so nahe beieinander gewesen, wie im Rußland von 1945; und vielleicht gab es niemals zuvor so viel Größe und Elend in einem Sieg.“ (9)
Zusammengeschrieben (und auch ein bisschen komponiert) aus:
- Georgi K. Schukov Erinnerungen Gedanken, Ost-Berlin 1969
- N., Stimme der Ära. Yuri Borisovich Levitan, auf: Military Review v. 3.10.2014, URL: https://de.topwar.ru/59457-golos-epohi-yuriy-borisovich-levitan.html
(3) Juri Borissowitsch Lewitan, 8 May 1945 Yuri Levitan announces Soviet victory over Nazi Germany, URL: https://www.youtube.com/watch?v=gPt2WSxqFcg
(4) C. L. Sulzberger, Moscow goes wild over joyful news, in: New York Times vom 10. Mai 1945
(5) Cathrine Merridale, Iwans Krieg Die Rote Armee 1939 – 1945, München 2006
(6) Nina Yemelyanova plays Lyadov Mazurka in F minor, op. 57 no. 3, auf: Youtube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=C-3Hqj96Vss
(7) Alexander Werth, Russland im Krieg, München 1965
(8) O.N., (Film) First Victory Parade in Moscow on June 24, 1945 auf: Youtube
URL: https://www.youtube.com/watch?v=ZopuQP3Bc5I
(9) Isaac Deutscher, Stalin/Eine politische Biographie, Ost-Berlin 1990
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