Das geknebelte Gedenken zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald
Der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm sollte anlässlich des 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 2025 eine Rede halten. So hatte es die Gedenkstätte Buchenwald geplant. Dann knickte der Leiter der Gedenkstätte Jens-Christian Wagner ein, der uns eigentlich den „aufrechten Gang“ beibringen sollte.
Es intervenierte das israelische Kriegskabinett, u.a. in Gestalt des israelischen Botschafters:
„Die Entscheidung, mit Omri Boehm einen Mann einzuladen, der Yad Vashem als Instrument politischer Manipulation bezeichnet, den Holocaust relativiert und sogar mit der Nakba verglichen hat, ist nicht nur empörend, sondern eine eklatante Beleidigung des Gedenkens an die Opfer“. (spiegel.de vom 2.4.2025)
Auf Nachfrage ergänzte sein Sprecher:
„Wenn das Andenken an die Ermordeten entstellt und beschmutzt werden soll, werden wir nicht wegschauen. Diese Position hat die Botschaft auch der Gedenkstätte Buchenwald übermittelt.“ (s.o.)
Der israelische Botschafter und seine Sprecher müssen weder Boehm, noch seine Idee vom Universalismus mögen. Es würde volkkommen reichen, wenn sie darauf eine Antwort hätten:
Es stellte sich die Frage, wie eine Kritik an der Regierung Netanjahu dazu führen kann, das Andenken an die Ermordeten zu „entstellen“ und zu „beschmutzen“? Geschieht nicht das, was man hier verhindern will, täglich durch die Kriegsverbrechen, die Vernichtungsrhetorik der Regierung Netanjahu und der IDF?
Die Okkupation des Gedenkens
Dass es als Erinnerung, als Mahnung, als Aufruf an die Zukunft verschiedene Meinungen gibt, geben muss, hat ganz sachlich etwas damit zu tun, dass das eine Grundregel der Meinungsfreiheit darstellt – auch und gerade dann, wenn es einem nicht passt.
Es gibt aber einen noch tieferen Grund für diesen notwendigen Dissens: Die Opfer des Holocaust hatten nicht die eine Meinung, hatten ganz und gar nicht dasselbe Verständnis vom Judentum. Es gab nicht wenige, die weder im Judentum ihr Selbstverständnis hatten, noch im Zionismus eine (zweite) Heimat gefunden hatten und haben.
Viele Juden, die aus Deutschland fliehen mussten, waren Sozialisten und Weltbürger. Was haben sie mit der reaktionären und rassistischen Siedlerbewegung gemein? Nichts.
Viele Juden, die in KZs umgebracht wurden, waren Kommunisten. Was haben sie mit dem Finanzminister und Faschisten Smotrich gemein? Nichts.
Wie anmaßend ist es also, wenn diese zutiefst reaktionäre Regierungskoalition im Namen der Opfer zu sprechen wagt.
Deren staatstragende Behauptung, es gäbe ein Gedenken ist die eigentliche Verhöhnung der Opfer.
Zudem gibt es überhaupt keine Linearität von den Opfern zu den Überlebenden und denen, die heute vorgeben, im Namen der Opfer zu reden.
Wenn es also eine Instrumentalisierung der Opfer gibt, dann in dieser Form der Okkupation und der selektiven Form des Erinnerns bzw. Vergessens.
Das belegt auch die vorsätzliche und absichtsvolle Reduzierung des Gedenkens auf jüdische Opfer.
Die von der Gedenkstätte selbst veröffentlichten Zahlen („Buchenwald Concentration Camp 1937 – 1945“, Göttingen 2004) lauten beispielsweise für den 31.7.1941 (die Kategorien stammen nicht von mir):
39% Politische, 20% Polen (nichtjüdisch), 17% „Arbeitsscheu Reich“, 17% Juden, 0,6% Homosexuelle und 6,4% Sonstige („Bibelforscher“, „Berufsverbrecher“ usw.)
Was bei den deutschen Faschisten unter „Politische“ verstanden wurde und wird, ist ebenfalls sehre eindeutig und eigentlich nicht zu übersehen und zu übergehen:
Der Leipziger Historiker Dr. Grasshoff hat jüngst in einem Interview dazu bemerkenswerte Zahlen genannt. Ihm zufolge ist jedes zweite Mitglied der Ende 1932 etwa 300.000 Mitglieder zählenden KPD „im KZ gewesen“.
Etwa 10% bis 20%, also 30.000 bis 50.000 Kommunisten, seien 1933, also nach der Machtübergabe an die Nazis in den Widerstand gegangen.
Immanuel Kant säße in israelischer Administrativhaft – wenn er noch leben würde
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“.
Der Leiter der Gedenkstätte Jens-Christian Wagner wurde in der 3sat-Sendung gefragt, wie er sich diese Absage erkläre. Zuerst hatte er für den unerwünschten Philosophen ausgesprochen warme und herzliche Worte. Omri Boehm beziehe sich in seiner Arbeit ausdrücklich auf Immanuel Kant, der die universalistischen Werte wie die Gleichheit aller Menschen ins Zentrum seines Denkens gesetzt habe, was auch Omri Boehm an- und umtreibe. Zum anderen könne er bestätigen, dass es diesen Druck auf eine Gedenkveranstaltung noch nicht gegeben habe. Aber, so Herr Wagner im Gespräch, er hätte sich diesem Druck nicht gebeugt. Vielmehr habe er die letzten Überlebenden des Holocausts im Blick gehabt, die er vor den erwartbaren Turbulenzen schützen wollte.
Das klingt auf den ersten Blick sympathisch und selbstlos. Doch bei genauerem Hinsehen geht es doch um etwas sehr Eigennütziges, was in zahlreichen Fällen zuvor und danach zum Tragen kommt. Die Betroffenen haben Angst um ihren Job, haben Angst vor den politischen und beruflichen Konsequenzen, wenn sie nicht diesem vorbürgerlichen Diktat der „Staatsraison“ gehorchen.
Tatsächlich benutzt das israelische Kriegskabinett in Gestalt des israelischen Botschafters die Opfer des Holocaust, um angeblich in ihrem Namen zu sprechen. Und der Gedenkstättenleiter schiebt die Überlebenden des Holocausts vor, um sein eigenes Verhalten zu kaschieren.
Wenn es in diesem Konflikt tatsächlich um jene ginge, die nicht mehr reden können oder gar nicht gefragt werden, wäre doch folgender Vorschlag um einiges redlicher:
Man teilt die Gedenkveranstaltung in zwei Teile. Im ersten stehen die Überlebenden des Holocausts im Mittelpunkt. Danach würde sich eine Veranstaltung mit dem israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm anschließen. Den Überlebenden des Holocaust stände es dann frei, daran teilzunehmen.
Wenn man Zusammenhänge ausradieren will
Als wollte die Leitung der Gedenkstätte beweisen, dass man auch in Eigenregie das Gedenken formatieren und diktieren kann, hat sie für dieses Jahr eine neue Hausordnung erlassen. Diese kam jetzt zum Zuge, als Menschen mit Kufiyas die Gedenkstätte besuchten:
„Direkt nach unserer Ankunft wurden wir von zwei Mitarbeitern gebeten, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers die Kufiyas abzunehmen. Als Begründung nannten sie einen Absatz in der neuen Hausordnung, laut derer ‚das Tragen von Kleidungsstücken und Symbolen, deren Herstellung oder Vertrieb im rechtsextremen Feld anzusiedeln sind, ebenso das Tragen von Kleidungsstücken oder Symbolen, die nach objektiver Betrachtung den Grundwerten und dem Zweck der Stiftung widersprechen‘ nicht gestattet ist.“
Wenn also Mitarbeiter der Gedenkstätte, die die Israel-Fahne am Revers tragen, sofort wissen, dass eine Kufiya ein Kleidungstück oder Symbol ist, das „nach objektiven Betrachtungen den Grundwerten und dem Zweck der Stiftung“ widerspricht, fragt man sich doch: Wie feige muss eine Gedenkstätten-Leitung sein, das nicht explizit hineinzuschreiben?! Warum diese Verdruckstheit, wo doch ganz offensichtlich die Fahne Israels die „Grundwerte“ der Gedenkstätte repräsentiert, die heute „nach objektiver Betrachtung“ (des IGH in Den Haag) für Kriegsverbrechen und Genozid steht, was nach „objektiver Betrachtung“ das Gegenteil von Völkerverständigung ist.
Meinen Sie wirklich Herr Jens-Christian Wagner, dass eine Hausordnung den notwendigen Konflikt zwischen der Bedeutung der israelischen Staatsflagge und der Bedeutung einer Kufiya die „Lösung“ ist?
Und noch etwas umtreibt mich, Herr Wagner: „Solidarität mit Palästina“ wird gerne als versteckte Form des Antisemitismus „entlarvt“. Sie sind ja ein belesener Mann und kennen die dazu entsprechenden Fachbegriffe, die wie Drohnen über den Debattenraum kreisen: „Israel bezogener Antisemitismus“ oder noch schwammiger die „3-D-Regel“. Wenn also Menschen mit einer Kufiya die Gedenkstätte betreten, dann wäre es doch das Erste, was Sie machen sollten: Sie begrüßen! Denn ganz offensichtlich ist diesen Menschen das Gedenken an die Shoa sehr wichtig, vielleicht auch deshalb, weil „Nie wieder“ einer universellen Idee folgt. Verstehen Sie?
Bei der Gedenkfeier sprach eine Schülerin u.a. vom Genozid in Gaza. Darauf antwortete der Leiter der Gedenkstätte prompt und erkennbar gequält:
„Ja, ich glaube, wir müssen um die Menschen, die unschuldig im Gazastreifen getötet wurden, trauern.
Aber von einem Genozid zu sprechen, wie wir es gehört haben, das gehört sich meines Erachtens nach nicht an einem Ort wie hier.“
Die Plattform „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ kommentierte diese Zurechtweisung wie folgt:
„Es passt nicht an diesen Ort. Warum passt es nicht?
Weil es nicht zu dem „Wir“ passt, das darauf aufgebaut ist, dass Juden immer gut sind und keinen Völkermord begehen können – nur die Deutschen konnten das einmalig, einzigartig, singulär und super-spektakulär und das war es. So sagen sogar die Lieblingsjuden Deutschlands, solche, die Deutschland – also „uns“ – vergeben. Und die Schülerin soll sich vorsichtig äußern. Und wenn nicht, wird „wir“ es ihr erklären.“
Gedenkvorschrift
In Anerkennung der Tatsache, dass es hier nicht um eine offene Diskussion geht, sondern um ihre kategorische Verhinderung, schlage ich zur Vermeidung unnötiger Skandale folgende Gedenkvorschrift vor, die sich ohne Wenn und Aber der deutschen Staatsraison verpflichtet fühlt:
- Nur das israelische Kriegskabinett entscheidet, wer und wie der Opfer des Holocaust gedacht wird.
- Nur das israelische Kriegskabinett hat das Recht, zu relativieren: Wenn der Ex-PLO-Chef Arafat als Hitler des Nahen Osten bezeichnet wird, dann ist das in Ordnung.
- Nur das israelische Kriegskabinett hat das ultimative Recht, den Holocaust zu instrumentalisieren, wenn es einen zweiten Holocaust zu verhindern vorgibt und damit den Widerstand gegen die israelische Besatzung meint.
- Nur das israelische Kriegskabinett darf Faschisten in der Regierung beheimaten und überall in der Welt „Nie wieder“ als Lehre ausgeben.
- Nur das israelische Kriegskabinett darf von Untermenschen, Abschaum und Ungeziefer reden, wenn damit Palästinenser gemeint sind und nicht Juden.
- Nur das israelische Kriegskabinett darf unentwegt von einem „Groß-Israel“ (Erez Israel) sprechen und dieses in die Tat umsetzen, ohne den Wahnideen eines Großdeutschlands nahe zu kommen.
- Wenn jemand vom Abholzen, verbrennen, zermalmen und auslöschen redet und damit Gaza meint, dann ist das kein Faschist, sondern ein geschätztes Mitglied des israelischen Kriegskabinetts, Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit.
- Nur das israelische Kriegskabinett hat das exklusive Recht, das Andenken an die Ermordeten so zu entstellen und zu beschmutzen, bis es auch für Vernichtungskriege taugt.
Wolf Wetzel
Publiziert im Magazin Overton am 8. April 2025: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/das-geknebelte-gedenken/
Anhang: Eine E-Mail an den Leiter der Gedenkstätte Buchenwald
8.4.2025
„Sehr geehrter Herr Jens-Christian Wagner,
da ich mir Mühe gebe, nicht über Menschen zu schreiben, ohne sie das wissen zu lassen, möchte ich Ihnen meinen Beitrag im Magazin Overton vom 8.4.2025 zukommen zu lassen. Auch wenn man die „Streitkultur“ und das Recht auf unterschiedliche Meinungen als hohes Gut hochhält, wissen Sie wie ich, dass das in den letzten Jahren orwellsche Anwandlungen angenommen hat. Ich möchte wo immer das möglich ist, das zur Sprache bringen – ohne Hausordnungen und begrifflose Grenzzäume wie „Grundwerte“ und Benimmregeln fürs Erinnern (was den Inhalt und sogar den Ort angeht), die dem Universalismus der Menschenrechte, den Sie offensichtlich mit dem ausgeladenen Philosophen Omri Boehm teilen, völlig widerspricht.
Ich würde mich freuen, wenn Sie zu den gemachten Vorwürfen und politischen Einschätzungen Stellung nehmen. Ganz sicher wäre das Magazin Overton bereit, Ihrer Stellungnahme denselben Platz einzuräumen wie mir. Wolf Wetzel“
Esa ist normal und gehört zum Gedenken dieser Art, dass Herr Jens-Christian Wagner bis heute nicht geantwortet hat.
Wolf Wetzel | 11. April 2025
Quelle und Hinweise:
Jahrestag der KZ-Befreiung. Philosoph Omri Boehm darf bei Buchenwald-Gedenkfeier nicht sprechen, spiegel.de vom 2.4.2025: https://www.spiegel.de/kultur/philosoph-omri-boehm-darf-bei-buchenwald-gedenkfeier-nicht-sprechen-a-b764ce35-cfee-488c-a7b2-e478d23c3f21?sfnsn=scwspmo
Buchenwald-Gedenken: Absage an Omri Boehm. Vor der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds hat Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner den Redner, Philosoph Omri Boehm, ausgeladen. Wir sprechen mit Wagner: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/buchenwald-gedenken-absage-an-omri-boehm-100.html
Arbeit am Begriff statt politischer Instrumentalisierung, Gerhard Hanloser, 2020: https://wolfwetzel.de/index.php/2020/09/10/arbeit-am-begriff-statt-politischer-instrumentalisierung-von-gerhard-hanloser/
Zerstören, zerschmettern, abholzen, auslöschen …, Wolf Wetzel, 2025: https://wolfwetzel.de/index.php/2025/03/27/zerstoeren-zerschmettern-abholzen-ausloeschen/
Der eliminatorische Nationalismus. Zwischen Krieg und Krieg in Gaza um Palästina, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/11/29/der-eliminatorische-nationalismus-zwischen-krieg-und-krieg-in-gaza-um-palaestina/
Die verschiedenen Formen des Krieges und der Okkupation, Wolf Wetzel, 2024: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/02/04/die-verschiedenen-formen-des-krieges-und-der-okkupation/
Kufiya hat in Buchenwald Hausverbot! 4. April 2025: https://kommunistische-organisation.de/stellungnahme/kufiya-hat-in-buchenwald-hausverbot/
Zur kommenden Osterzeit haben wir einen ganz besonderen Angsthasen bekommen: Jens-Christian Wagner, Historiker und Direktor der Gedenkstätte Buchenwald Mittelbau-Dora, Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, 7.April 2025: https://www.facebook.com/juedischestimme
Kurzer Videoclip zur Rede der Schülerin und die Antwort des Leiters der Gedenkstätte: https://www.instagram.com/reel/DIJG9nkN7qQ/?utm_source=ig_web_copy_link
Schülerin sorgt mit „Genozid“-Äußerung für Eklat im KZ Buchenwald, stern.de vom 7. April 2025: https://www.stern.de/politik/deutschland/kz-buchenwald–schuelerin-sorgt-mit–genozid–spruch-fuer-einen-eklat-35617704.html
Befreiung des KZ Buchenwald. Das ist die Rede, die Omri Boehm nicht halten durfte: https://www.sueddeutsche.de/kultur/omri-boehm-kz-buchenwald-gedenken-rede-li.3231805?reduced=true
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