100 Jahre Maulwurf Johannes Agnoli
„Der Emanzipation stehen harte Bedingungen und schwere Zeiten bevor. Und die mühselige Arbeit des Maulwurfs.“ (Johannes Agnoli, Mitte Februar 2000)
Am 22. Februar 1925 um 22.00 Uhr erblickte in der Gemeinde Valle di Cadore in der Via Venti Settembre Nr. 183 Giovanni Agnoli das Licht der Welt. So stand es in seiner Geburtsurkunde. Mit den Namen von Agnoli geht es dann ein wenig hin und her: Nachdem er im Mai 1945 als Gefreiter einer mit allen Konsequenzen in der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien tätigen Gebirgsjägereinheit der Wehrmacht in die britische Kriegsgefangenschaft geraten war, unterschreibt er im September 1948 seinen Entlassungsschein mit „Johannes Aknoli“. Erst am 23. September 1955 nannte sich Aknoli per veränderter Einbürgerungsurkunde in der BRD „von Rechts wegen“ Johannes Agnoli. Seine Staatsbürgerschaft galt bis zu diesem Zeitpunkt als „vorläufig ungeklärt“. Ab Dezember 1949 nahm Agnoli an der Universität Tübingen ein Studium der Philosophie auf belegte Vorlesungen bei Eduard Spranger und wurde Assistent bei Theodor Eschenburg. Bevor er bei diesem über Giambattista Vicos Philosophie des Rechts promovierte, schrieb er für Eschenburg einen Forschungsbericht zu Alexis Tocqueville „Einwirkung auf das politische Denken in Deutschland“ den dieser dann unter seinen Namen in einem diesbezüglichen Band 1959 „Über die Demokratie in Amerika“ veröffentlichte.
Nachdem Agnoli auf einer Tagung von 150 Burschenschaftler in Witzenhausen in einem Vortrag zum Thema „Tatsachen einer Wiedervereinigungspolitik“ die Überlegung zur Diskussion stellt, ob eine Anerkennung der DDR zu einer Liberalisierung des Systems beitragen könnte (FAZ vom 13.4.1962) beschließt sein Chef an der Universität Köln Professor Ferdinand Aloysius Hermens die Nichtverlängerung seines Arbeitsvertrages im Herbst 1962. Auf Vermittlung von Wolfgang Abendroth wird Agnoli dann als Assistent bei Ossip Flechtheim an dem Fachbereich Politische Wissenschaften an die FU Berlin eingestellt. Zehn Jahre später wird er dort zum Professor für politische Wissenschaften berufen und arbeitet bis zu seiner Emeritierung im Sommersemester 1990.
Transformation der Demokratie
Im Herbst 1967 veröffentlicht Agnoli zusammen mit Peter Brückner im Verlag Voltaire ein Buch unter dem Titel „Die Transformation der Demokratie“. (TdA) Der von Agnoli zu diesem Buch beigesteuerte Aufsatz unter dem Titel bündelt Überlegungen, die er schon zuvor als Thesen in einer studentischen Zeitschrift dargelegt hat:
„Grundrechte emanzipieren aber die Massen nicht, solange wir eine bürgerliche Gesellschaft und eine kapitalistische Produktionsweise haben, deren Staat genau für den nicht emanzipatorischen Gebrauch der Grundrechte sorgt.“ (Konturen Nr. 31 / 1967)
Sein Aufsatz fokussiert zentral auf die Beschreibung der Mechanismen, in der die parlamentarische Demokratie in einer Klassengesellschaft gesellschaftliche Konflikte befriedet und mit dem Ziel beiseiteschiebt, die kapitalistische Herrschaft aufrecht zu erhalten. Zwar dürfe der Widerspruch zwischen den Forderungen der Beherrschten zu den Herrschenden im Parlament zum Ausdruck gebracht werden. Zugleich transformiert sich an diesem Ort der Klassenkampf zum Herrschaftskonflikt zwischen den jeweils regierenden Führungsgruppen. Zutreffend benennt Agnoli das Institut des Repräsentationsprinzips als eine „Verfassungsnorm“ die mit „einer genauen repressiven Aufgabe“ dazu diene, „wirksam die Mehrheit der Bevölkerung von den Machtzentren des Staates fernzuhalten.“ Von hier enthülle sich auch die mutmaßliche Macht der Parlamentarier im Deutschen Bundestag als eine „Fiktion“. Sie dürften lediglich den hier getätigten Veröffentlichungen von Beschlüssen, die im Zusammenwirken von Staatsapparat und gesellschaftlichen Machtgruppen zustande kommen, bewohnen:
„Dem demos gegenüber ist das Parlament ein Transmissionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien.“
Agnoli bezeichnete die Funktionsmechanismen einer parlamentarischen Demokratie gemessen an Vorstellungen von Demokratie in der Assoziation der Freien und Gleichen im Gegensatz zur Evolution als eine Involution, sprich: Als eine Rückbildung zu vor- oder antidemokratische Formen des Aushandelns von Angelegenheiten politischen Interesses.
In einer Rezension bezeichnete der preußisch-antideutsche Publizist Sebastian Haffner den Aufsatz von Agnoli als ein „kleines Meisterwerk“ und lachte mehrfach – „bei aller Bedrücktheit und Erbitterung“ auf:
„Nominell leben wir in einer Demokratie, das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuer und Fahrpreiserhöhungen.“ Und: „Wer heute noch etwas für die Demokratie auszurichten versucht, indem er in eine der etablierten Parteien geht, läuft in eine Falle.“
Die Wiederherstellung eines demokratischen Lebens müsse, so Haffner bereits „heute (…) einen Weg am Parlament vorbei suchen und außerparlamentarische Organe finden.“ Agnoli decke auf, so Haffner, dass die parlamentarische Demokratie „im Rückwärtsgang“ funktioniere: „Die Demokratie ist nicht abgeschafft, sie ist transformiert worden.“ (konkret Nr. 3 vom März 1968)
Lange Rede, kurzer Sinn: Mit der Transformation der Demokratie hat Genosse Johannes Agnoli der APO, an der er sich auch als Aktivist beteiligte, einen Wegweiser im Kampf für eine bessere Gesellschaft geschenkt. 31 Jahre später, aus Anlass eines Vortrages zu „Markt, der Staat und das Ende der Geschichte“ auf einem Symposium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg kam Genosse Agnoli in der Diskussion noch einmal auf den Begriff der Involution zurück. Er reagierte damit auf die Frage, ob es denn einen „Unterschied zwischen seinen früheren Schriften und seinen aktuellen Thesen“ gäbe. Es handele sich um „eine einfache Korrektur“ schlug Agnoli hier eine Volte: „Ich habe damals von der Involution der Demokratie gesprochen. Inzwischen habe ich festgestellt, daß die Involution vollendet ist. Das heißt, daß das, was ich damals als Gefahr gesehen habe, die allerdings schon im Gange war, sich inzwischen vollzogen hat.“ (TdA, 2004)
Ein Maulwurf sein
Anfang 2000 erhielt Agnoli die Offerte sich mit einer ganzen Seite in der Wochenzeitung DIE ZEIT an eine größere Öffentlichkeit zu wenden. Er nutzte die Gelegenheit zu einigen Überlegungen, diesmal nicht zur einer Transformation der Demokratie, sondern zu der „Transformation der Linken“ und ihrem langen Marsch von der Kritik des Politischen zum Glauben an den Staat. Und auch zu der Verfassung des Weltmarktes und zur Utopie hinterließ er uns noch einige Bemerkungen, die heute von Bedeutung sind.
Der Beitrag erschien d.h. mitten in dem wie sich nachträglich herausstellen sollte, besten Regierungsjahr einer rot-grünen Regierung unter der Führung eines Kanzlers mit den Namen Gerhard Schröder. Zu dieser Zeit ploppten im rot-grünen Milieu, auch unter Berufung auf die Politik von US-Präsident Bill Clinton und dem britischen Premierminister Tony Blair, gegenüber den offenkundig verheerenden Folgen eines entfesselten Kapitalismus immer mal wieder Überlegungen eines sogenannten „Dritten Wegs“ auf.
Agnoli klärte hier zunächst mit einer „Erinnerung, ohne finstere Hintergedanken“ darüber auf, dass es doch kein Geringerer als die „nicht sehr erfreuliche historische Persönlichkeit“ Benito Mussolini gewesen sei, der diesen „innovativ“ klingenden „Wortfetisch“ in den frühen 1930er Jahren deshalb ins Spiel der Politik gebracht habe, um die „nicht gerade kapitalfreundliche Industriearbeiterschaft und eine ebenso latifundienunfreundliche Landarbeiterschaft in die `neu´ genannte Ordnung zu integrieren.“ Mussolini sei es damals „durchaus im hegelschen Verstande des Wortes“ darum gegangen „den Bolschewismus `aufzuheben´“ Doch heute, so Agnoli weiter, „da die traditionelle Entgegensetzung Kapitalismus-Kommunismus hinfällig geworden“ sei, erhalte der Dritte Weg „einen ganz anderen Sinn“: Und hier warf Agnoli die Frage auf, „was als das Entgegengesetzte des losgelassenen Kapitals und der liberaldemokratischen Euphorie in der Gegenwart stehen soll.“ Womöglich eine Politik der, wie es damals hier und dort hieß, der „Zähmung des wilden Kapitalismus, in einer gesetzlichen oder sonst wie verwirklichten Milderung des entgrenzten, alles beherrschenden Marktes?“ Wohl an: Trocken notierte Agnoli dazu, dass insoweit man einer „Humanisierung“ des Kapitalismus das Wort rede, „ungewollt seine Barbarei festgestellt“ werde.
Agnoli machte dann auf etwas aufmerksam, „vor der die politische Reflexion sich fürchtet – und die jede Emanzipationsbewegung in eine arge Bedrängnis führt.“ Dabei sprach er eine Frage an, die von Hegel mit dem Begriff „Pöbel“ benannt wurde, „die damals schon marginalisierten Massen.“ Und die von David Ricardo mit der Erkenntnis angesprochen worden sei, dass der Kapitalismus zwar Reichtum schaffe, aber auch redundant population. (Überflüssige Bevölkerung). Marx habe zwar Ricardo in seinem ersten Band des Kapitals ein „gebührliches Lob“ gezollt, sei jedoch zu der Auffassung gelangt, es handele sich hier um eine zyklische Erscheinung. Bei dem „Wiederaufschwung der Kapitalakkumulation würde die überflüssige Bevölkerung vom Produktionsprozess wieder absorbiert werden.“ Dies sei aber nun, so Agnoli im Februar 2000 nicht mehr der Fall, die überflüssige Bevölkerung sei zu einer Dauererscheinung geworden. Nun habe man „nicht nur mit globaler Ökonomie, mit den Schwierigkeiten der sich so nennenden Industrienationen zu tun, sondern auch mit dem Rest der Welt, mit der redundant population.“ Hier flechtet Agnoli erneut Hegel in seine Argumentation ein. Dieser habe in zwei Thesen seiner Rechtsphilosophie etwas vermerkt, was in Bezug auf den vom Kapitalismus geschaffenen Reichtum der Nationen weder von Adam Smith noch David Ricardo so gesehen worden war: Und zwar „dass sich die Anhäufung der Reichtümer vermehrt, dies zugleich aber zur `Vereinzelung und Beschränktheit der besondern Arbeit und damit die Abhängigkeit und Noth der an dieser Arbeit gebundenen Klasse´ (§ 243) führt.“ Von Hegel, so Agnoli, sei das Problem weiterentwickelt worden, und er „kam zu dem Schluss, dass die bürgerliche Gesellschaft bei dem Übermaß des Reichtums nicht in der Lage ist, `dem Übermaß der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern´ (§ 245).“
Agnoli prophezeit, dass „die Wirklichkeit des globalen Marktes neuen organisatorischen Formen entgegen“ geht und dass „sich – wieder einmal – eine ‚Neue Ordnung‘ etablieren (wird), ausgestattet mit noch ordentlicheren Machtstrukturen. Eine Verhärtung des objektiven Zwangscharakters der Gesellschaft steht somit in Aussicht.“
Voilà! Hier verdanken wir dem Genossen Agnoli erneut einen entscheidenden Hinweis! Er war es, der schon lange vor uns in der Zeit der „liberaldemokratischen Euphorie“ eine Situation vorausgesehen hat, in der wir uns heute alle mittendrin zu bewegen haben. Wohl wahr: Dem Genossen Agnoli ist vorbehaltlos zuzustimmen, dass der Emanzipation „harte Bedingungen und schwere Zeiten“ bevorstehen. Aber eben auch, „die mühselige Arbeit des Maulwurfs.“ Deren Aufgabe damals wie heute darin besteht in der Errichtung eines entgegengesetzten Orientierungspunktes, um „die Utopie, die viel Geschmähte, von der Assoziation der Freien und Gleichen aus der Verbotszone zu befreien.“ Und allemal kann Maulwurfsarbeit nach Agnoli „auf die Überflüssigen im Lande hoffen, bei denen durchaus Klarheit zu erreichen ist über die Verbindung von Freiheit und Gleichheit mit ihren unmittelbaren Interessen.“ (ZEIT Nr. 8 vom 17.2.2000)
So weist uns Genosse Agnoli auch heute noch die guten Gründe dafür, mit dem „Geist der Verweigerung“ in die gesellschaftliche Wirklichkeit einzutreten, um darin mit einem bewussten, aber allemal wirksamen Nein gegen die falsche Entwicklung zu handeln.
Markus Mohr | Februar 2025
Zum Angucken, stöbern und weiterlesen:
Johannes Agnoli, (Bilder auf dem Vietnamkongress West-Berlin, den 18. Februar 1968), auf: www.picture-alliance, URL: https://www.picture-alliance.com/webseries/96720-Politics%20and%20current%20affairs/193975-International%20Vietnam%20Congress,%20Berilin%201968-detail
Johannes-Agnoli-Bibliothek (Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin) URL: https://www.rosalux.de/stiftung/historisches-zentrum/bibliothek/johannes-agnoli-bibliothek
Barbara Görres Agnoli: Johannes Agnoli – Eine Biographische Skizze, Hamburg 2004, URL: https://www.perlentaucher.de/buch/barbara-goerres-agnoli/johannes-agnoli.html
Barbara Görres Agnoli: Johannes Agnoli Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften, Hamburg 2004, URL: https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Angebote/isbn=9783894582326
Agnoli: Thesen zur Transformation der Demokratie – ad usum des RC, in: Konturen Nr. 31 / 1967 URL: http://www.glasnost.de/autoren/agnoli/agnolthes.html
Agnoli: Die Transformation der Linken / Der Lange Marsch von der Kritik des Politischen zum Glauben an den Staat / Ein Versuch über Dritte Wege, den Weltmarkt und die Aktualität der Utopie, in: ZEIT Nr. 8 vom 17. Februar 2000, URL: https://www.zeit.de/2000/08/200008.t-agnoli_.xml
Arne Gniech: Ein Staatsfeind auf dem Lehrstuhl / Subversive Demokratiekritik, bei Johannes Agnoli, Bonn 2022, URL: https://cloud.reso.media/s/yDLg44GFqFCfmym
Michael Hewener (Hrsg.): Johannes Agnoli oder: Subversion als Wissenschaft, Dietz-Verlag Berlin 2025, URL: https://dietzberlin.de/produkt/johannes-agnoli-oder-subversion-als-wissenschaft/
Christoph Jünke: (Besprechung der Bücher von Barbara Görres Agnoli, Biographische Skizzen und TdA) in: SoZ Sozialistische Zeitung, Januar 2005, URL: http://www.vsp-vernetzt.de/soz/0501211.htm
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Was Agnoli – wie die Linken der verscheeidensten Fraktionen – nicht gesehen oder total unterschätzt hat, ist die kriminelle Energie von einer nicht genau zu beziffernden Zahl von Unternern oder den angestellten Unternehmensleitung, die auf den vertragsrechtlich und rahmenpolitisch organisierten Kapitalismus mit dem organisierten Verbrechen antworten, das sich längst als Untergrundkapitalismus weltweit etabliert hat und inzwischen stark genug ist, selbst die Macht zu übernehmen. Berlusconi, Putin und Trump, nur drei der vielen Eisbergspitzen, lassen grüßen. Agnoli war nahe dran, dehalb schätze ich ihn als linken Maulwurf. Dass er die rechten Mauilwürfe übersehen oder unterschätzt hat, sei ihm von den Linken, die sich allmählich auf die Probleme der Gegenwart einzustellen beginnen, vergeben.
Und Kommentare sollten übrigens nicht zensiert werden.
Sorry, das verstehe ich nicht. Ich habe nichts gemacht. Ich schalte sie nur frei.
Johannes ist am 22.2.25 geboren. Das Datum in der Biografischen Skizze ist ein Druckfehler.
Danke! Ich habe die Korrektur eingefügt. Die drei Tage waren vielleicht ganz wichtig….
Was Johannes aber nicht vorhergesehen hat: Der Rückgang der Geburtenrate und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.