Die Kriegsunterbrechung im Krieg gegen Palästina
Seit dem 19. Januar 2025 sollen die Waffen im Vernichtungskrieg in Gaza schweigen. Man kann darüber spekulieren, wer den Waffenstillstand zuerst bricht. Völlig klar hingegen ist, dass alles, was zu diesem Genozid geführt hat, von diesem Waffenstillstand unberührt bleibt. Das ist kein Versehen.
Monatelang wurden wir damit versorgt, dass man im Wertewesten alles täte, um den Vernichtungskrieg in Gaza zu stoppen, doch alle Bemühungen seien vergeblich gewesen. Die Erzählung will es, dass die Hamas den Krieg am 7. Oktober 2023 mit dem Ausbruch aus dem Gaza-Gefängnis begonnen habe und seitdem am Krieg festhält.
Ein bisschen wurde in den Laufstallmedien auch Netanjahu und sein Kriegskabinett dafür verantwortlich gemacht. Ihm gehe es ums eigenen Überleben, denn nur der Kriegszustand halte den Ministerpräsidenten trotz Strafverfahren im Amt.
Nun wissen wir, was man auch vorher wissen konnte: Diese Erzählung ist so erlogen und verbogen wie die Begründung für die US-Intervention in Vietnam oder die Kriegsbegründungen, um den „eigenen Hundesohn“ Saddam Hussein im Irak aus dem Weg zu räumen. Denn es lag ganz definitiv nicht an der Hamas, dass ein Waffenstillstand zustande kommt. Seit Mai 2024 lag ein „Deal“ auf dem Tisch, der vom Kriegskabinett Netanjahu abgelehnt wurde. Nun kommt derselbe Vorschlag doch zustande. Oder ganz vorsichtig gesagt: Das Kriegskabinett hat nun dem zugestimmt, was im Mai 2024 noch inakzeptabel war.
An den Kriegserfolgen kann es nicht liegen:
Über 80 Prozent von Gaza liegt in Schutt und Asche.
Man ist der angekündigten „Auslöschung“ Zug um Zug nahegekommen. Daran konnte auch kein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in den Haag wegen Begehen eines Genozids etwas ändern.
Was war also auschlaggebend? Die Antwort ist eindeutig: Der Krieg in Gaza kann ohne die umfassende Zustimmung der US-Regierung nicht fortgesetzt werden. Ohne die USA als größten Waffenlieferanten, als Mit-Kriegspartei gegen Jemen und den Iran, als Helfershelfer bei militärischen, strategischen Drohungen und Operationen (Satellitenüberwachung, Erfassung von „Kriegszielen“, Militärspionage gegen Hamas, Hisbollah und den Iran) könnte Israel diesen Krieg nicht führen.
Selbstverständlich hätte die US-Regierung diesen Vernichtungskrieg stoppen können, militärisch, politischen und diplomatisch. Aber der scheidende US-Präsident Biden hat es in seiner Abschiedsrede doch sehr deutlich erklärt: Man habe die selbst gesteckten Kriegsziele erreicht: Man habe die Hamas militärisch geschlagen, man habe die Hisbollah im Libanon stark geschwächt und en passant eine neue Regierung installiert. Man hat im Windschatten des Gaza-Krieges ein Regime-Change in Syrien mit eingefädelt. Man hat Menschen, die noch vor ein paar Tagen als Terroristen gesucht wurden, in „moderate“ Führer umgestylt. Man habe es geschafft, dass kein Land der Hamas zur Hilfe gekommen ist – mit Ausnahme Jemens. Kurzum: Die USA haben ihre Kriegsziele erreicht. Nun müsse man den Sieg in einen „Waffenstillstand“ verwandeln.
Darin unterscheiden sich Biden und Trump nicht um ein Jota. Folglich haben sie das, was ganz lange unmöglich war, innerhalb von ein paar Wochen durchgeboxt.
Jetzt, mit Annahme dieses „Waffenstillstand“ fällt aber der nächste Schleier der Kriegspropaganda. Das Problem ist nicht Hamas, sondern die profaschistischen Kräfte im israelischen (Kriegs-)Kabinett. Sie halten an dem Ziel „Auslöschung“ fest. Sie wollen an dem festhalten, was lange vor dem „7. Oktober“ 2024 erklärtes, religiös verbrämtes Ziel ist. Ein Groß-Israel (Eretz Israel), das Gaza und Westjordanland miteinschließt. Sie kündigten also an, aus dem Kriegskabinett auszusteigen, wenn der Waffenstillstand am Sonntag, den 19.1.2025 um 8 Uhr in Kraft tritt.
Es sind also nicht die etwa 50.000 erfassten Ermordeten in Gaza, der Genozid, der den Kriegsherren Sorge bereitet, sondern der politische Selbstmord der gegenwärtigen israelischen Regierung. Denn der Kriegszustand hat lange dafür gesorgt, dass die Reste der Demokratie, die es noch in Israel gibt, nicht auseinanderfliegen, implodieren. Das ist nun eine immanent große Gefahr, viel größer als eine abgefeuerte Rakete. Denn der Waffenstillstand könnte das hörbar und sichtbar machen, was lange vor dem Ausbruch aus dem Gaza am 7. Oktober 2023 als Kriegszustand existiert:
Die dauerhafte Besetzung von palästinensischen Gebieten. Die dauerhafte Weigerung, eine Staat Palästina zu ermöglichen, also UN-Beschlüsse umzusetzen, anstatt sie zu torpedieren.
Der „Waffenstillstand“ wird an dieser Paradoxie nicht ändern. Man will den Krieg beenden, aber an den Ursachen bis zum bitteren Ende festhalten.
Darin sind sich Biden/Trump und Netanjahu/Smotrich einig.
Gefangene und Geisel
Die erste Phase dieses Waffenstillstandes sieht den Austausch von Gefangenen vor. Selbst dies wird in Israel, in den USA und Deutschland mit verbalen Verrenkungen begleitet. Dass die Hamas am 7. Oktober Geisel genommen hat, ist unzweifelhaft und wurde mit großer Verve im Wertewesten verurteilt. Dass die israelische Armee genau dies seit Jahren tut, also nicht nur an einem Tag, ist keine Rede wert.
In Israel nennt man das „Administrativhaft“ und bedeutet, dass man inhaftiert werden kann, ohne eine Anklage, ohne ein Gerichtsverfahren, ohne juristischen Schutz. Diese Administrativhaft trifft ausschließlich PalästinenserInnen, was ein Merkmal für ein Apartheidsystem ist.
Diese Art von Entführung führt zur Geiselhaft. Denn sehr oft dienen diese Verschleppten der Erpressung und als Tauschmittel für gefangene Israelis.
Diese Geiselpolitik hat die israelische Armee seit dem 7. Oktober 2023 massiv verstärkt. Jetzt gibt es etwa 10.000 Geisel in israelischen Gefängnissen, die sehr oft menschenunwürdigen Bedingungen und Folter ausgesetzt sind. Dieses Apartheid-System hat also viele Freunde und Unterstützer:
Wenn israelische Zivilisten verschleppt werden, nennt man sie Geisel und verurteilt diese Kriegsverbrechen (zurecht).
Wenn in besetzten Gebieten Palästinenser in israelische Gefängnisse verschleppt werden, dann nennt man sie „Gefangene“ und verliert über diese Kriegsverbrechen kein Wort.
Aushungern – ein Teil des Genozid-Plans
Ab und an haben deutsche Laufstallmedien ganz kurz darüber berichtet, dass lebensnotwendige Hilfslieferungen nach Gaza von israelischer Seite seit über 14 Monaten blockiert wurden. Das war und ist keinem Zufall geschuldet, sondern folgte der offen angekündigten Strategie des Ex-Verteidigungs‘minister Joaw Galant, der am 9. Oktober 2023, also zu Beginn des Krieges in Gaza, sagte, was passieren wird:
„Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“
Ganz selten sah man in deutschen Laufstallmedien, was diese Aushungerungsstrategie in Gaza anrichtet. Dieses systematische Verbrechen hat man vielmehr mit „Meldungen“ verdünnt, die davon berichteten, dass die Menschen in Gaza selbst UN-Hilfskonvois überfallen und so die Sicherheit dieser Hilfstransporte gefährden hätten. In der Summe wollte man damit suggerieren: Sie sind doch – letztendlich – selbst daran schuld.
Nun bringt ein weiteres Detail des Waffenstillstandsabkommens ungewollt Licht in dieses Kriegsverbrechenkapitel. Das Abkommen sieht in der ersten Phase vor, dass die Hilfslieferungen von 60 auf 600 LKW-Ladungen erhöht werden sollen. Bekanntermaßen wurde Gaza vor dem Vernichtungskrieg 2023 mit circa 600 LKW-Ladungen versorgt. Das heißt im Klartext: Israel hat vorsätzlich und bewusst 90 Prozent der lebensnotwendigen Mittel zurückgehalten, um die Bevölkerung in Gaza zur Geisel dieses Krieges zu machen. Die Strategie für dieses Kriegsverbrechen wurde auch offen kommuniziert: Man hoffe und setze darauf, dass sich die Hungernden selbst gegen die Hamas und bewaffnete Gruppen erheben. Genau das passierte jedoch nicht. Im Gegenteil: Ein US-Militärexperte stellte mit Bedauern fest, dass die Hamas bereits jetzt genauso viele Kämpfer habe wie vor dem Vernichtungskrieg. Auch dieser Punkt spielt möglicherweise eine Rolle dabei, dass die US-Regierung Biden/Trump Zweifel an einem „totalen Sieg“ hat.
Jeder Krieg ist ein Verbrechen
Man sollte mit einem Krieg nicht spielen – auch nicht mit einem „guten“. Denn es gibt keinen Krieg, der gegen den Hunger, gegen Kinderarmut, gegen Ausbeutung, gegen Rechtlosigkeit geführt wird.
Von daher ist jeder Krieg ein Menschheitsverbrechen.
Aber man muss mehr stellen, als die Frage: Wer hat den ersten Schuss abgegeben? Erst wenn wir fragen, wie der Krieg zustande gekommen ist, welche Interessen dabei eine Rolle spielen, wer alles dafür getan hat, damit alles andere aussichtslos geworden ist, erst dann bekommen wir genaue Antworten darauf, dass jeder Krieg ein Verbrechen an der Menschheit ist.
Selbst ein Waffenstillstand ändert nichts an den Vorbedingungen:
Vertreibung,
israelische Besatzung,
Enteignung,
Siedler-Terror
israelische Killerkommandos
Folter in israelischen Gefängnisse
Rechtlose Inhaftierungen (Administrativhaft)
Apartheid
die zum Krieg geführt haben und den nächsten Krieg herbeiführen werden.
Im Gegenteil. Die unfassbaren Zerstörungen des Krieges verschlimmern die Vorbedingungen. Denn der Waffenstillstand nimmt einzig und allein auf den Kriegsverlauf Rücksicht, nicht auf die Lebensbedingungen der Menschen. Und diese waren schon vor dem Vernichtungskrieg 2023 menschenunwürdig.
Ein zweites Vietnam?
Der Waffenstillstand ändert nichts am Krieg gegen Palästina. Und das ist nicht metaphorisch gemeint. Der Krieg im Westjordanland geht weiter. Die Siedler haben mit der Armee zusammen bereits Dutzende Palästinenser ermordet. Die Pläne zur Kolonialisierung gehen weiter. Und es ist zu befürchten, dass der profaschistische Flügel des Kriegskabinetts mit dieser Methode auch den Waffenstillstand unterlaufen wird.
Dennoch hat dieser Krieg gegen Palästina im politischen Sinne längst alle Grenzen gesprengt. Die Anti-Vietnam-Protesten in den 1960er und 1970er Jahre waren die letzte weltweite Bewegung, die so stark wurde, dass sie die US-Regierung im eigenen Land ins Wanken gebracht hatte. Seitdem sprechen die Kriegseliten in den USA vom „Vietnam-Syndrom“. Die Bewegungen gegen den Vernichtungskrieg in Gaza haben einen globalen Charakter angenommen und haben sich zum ersten Mal auf allen fünf Kontinenten artikuliert. Das ist eine Sternstunde im weltweiten Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus. Heute bringen die Erfahrungen und der Widerstand mit allen Formen des Neokolonialismus Millionen von Menschen zusammen: All die, die den Neo-Kolonialismus als Sklaven dieser Weltordnung erleben und jene, die in den Ländern leben, die sich als Herrenländer verstehen. Auch wenn die Herrenländer darüber Stillschweigen bewahren: Die sehr vielen und unterschiedlichen Formen des Widerstands dagegen haben Wirkung:
Der Kultur- und KünstlerInnnenboykott gegen israelische Institutionen, die den Genozid unterstützen oder mittragen, hinterlässt Spuren. Der BDS-Boykottaufruf, also der Boykott von israelischen Waren zusammen mit dem Aufruf zu Deinvestment in Israel hat sich deutlich ausgeweitet
und schließt auch Boykottmaßnahmen gegen US-Institutionen und Konzerne (Enjoying Geno Cide/in Coca-Cola-eigener Schrift) mit ein. Und nicht zuletzt ist die Kampagne von Hind Rajab Foundation (HRF) von großer Bedeutung.
Wenn israelische Militärs im Urlaub, am Strand von Rio de Janeiro mehr Angst haben müssen, als Kriegsverbrecher verhaftet zu werden, als bei ihren Einsätzen in Gaza, dann zielen die weltweiten Bewegungen auf ein zentrales Ziel: Die Entwaffnung der militärischen Logik durch das Politische, das Zusammenhänge herstellt, anstatt zu pulverisieren, das das Zusammen-Leben greifbar macht, anstatt das Können beim Morden.
Der Umstand, die Tatsache, dass zwei Millionen Menschen in einer Trümmerwelt zusammenhalten, dass sie unheimliche Geduld dabei haben, das Wenige zu teilen, übertrifft alles, was die israelische Armee an widerwärtiger Erniedrigung, Verwüstung und Morden „kann“.
Dieser große Respekt schließt auch die bewaffneten Gruppen ein, die eigentlich schon zehn Mal tot sein müssten und mit der Verkündigung des Waffenstillstands gefeiert werden. Zu recht.
Wolf Wetzel | 20.1.2025
Wolf Wetzel | 21.1.2025
Quellen und Hinweise:
Strike Germany – Ein Gespenst geht um die Welt, Wolf Wetzel, 2024: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/03/26/strike-germany-2/
Wenn für Israels Militär das eigene Land zum Gefängnis wird, dann haben sie Gaza nicht ausgelöscht, sondern in sich nachgebaut, Wolf Wetzel, 2025: https://wolfwetzel.de/index.php/2025/01/14/wenn-fuer-israels-militaer-das-eigene-land-zum-gefaengnis-wird/
Ein Waffenstillstand wird Israels Völkermordagenda nicht aufhalten, Tariq Kenney-Shawa/+972 Magazin vom 16. Januar 2025: https://www.972mag.com/ceasefire-trump-biden-israel-genocide/
Die Waffenruhe – so brüchig der Deal auch sein mag – ist seit einigen Minuten tatsächlich in Kraft getreten, Rana Issazadeh, Rechtsanwältin für internationales Recht, 19.1.2025: https://www.facebook.com/rana.issazadeh
PFLP Leader, Khalida Jarrar, among First Detainees to be Freed in Ceasefire Deal, The palestine Chronicle vom 18.1.2025: https://www.palestinechronicle.com/pflp-leader-khalida-jarrar-among-first-detainees-to-be-freed-in-ceasefire-deal/
Bericht über die Administrativhaft von Khalida Jarrar, addameer.org vom 24.12.2024: https://www.addameer.org/news/5456
Ein berührender Bericht über Khalida Jarrar von Al Jazeera vom 19.1.2025: Palestinian MP and activist Khalida Jarrar freed after months in Israeli solitary confinement: https://www.youtube.com/watch?v=3H8HXYcYqYM
Freilassung von drei Frauen am 19.1.2025 durch Izz ad-Din al-Qassam Brigades: https://x.com/i/status/1881078151356538990
Kriegsmaschinerie stoppen – Was tun? vom 3.12.2024, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/12/03/kriegsmaschinerie-stoppen-was-tun-teil-iv/
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