„Wie leisten wir Widerstand?“ (Jonathan Glazer)
Die staatliche Medienanstaltslandschaft hat die Meinungsbreite einer Dachrinne. Diese Diagnose ist mehr als ein veritabler Befund. Sie entlastet auch. Denn es gibt dieses Wissen trotzdem – in geradezu unerträglicher Hülle und Fülle. Die Angst, die heute viele Menschen in Deutschland haben, erklärt sich nicht mit den Zweifeln und der Unwissenheit, sondern mit dem Wissen, das sie nicht haben wollen.
Eigentlich ist die deutsche Medienanstaltslandschaft so gut wie embedded. Das ist bei Corona so gewesen, das ist beim Krieg auf ukrainischem Boden so und erst recht beim Gaza-Krieg, der in die „bedingungslose Solidarität mit Israel“ eingepreist ist und in die deutsche Staatsraison einbetoniert wurde.
Folglich muss das, was noch in vielen Ländern in der öffentlichen Debatte eine Rolle spielt und zu Wort kommt, im deutschen Laufstallkonsortium ein „Skandal“ werden.
So geschehen auf der Berlinale 2024, als Jurymitglieder und Schauspieler den Frevel begangen hatten, einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg zu fordern. Eigentlich gehört das schon zu einem Orwell „2024“-Film:
Cease fire now is a bloody crime
Einen Waffenstillstand fordern! Wie kann man das nur machen! Dass das einen „Skandal“ auslöst mit ganz vielen geforderten Konsequenzen für die nächste Festivalleitung ist bereits absurd genug.
Aber nun sind die medialen Tatortreiniger an der Reihe: Sie wollen unter anderen, also vor allem verhindern, dass so etwas noch einmal passieren kann.
Jetzt müssen alle an der Strafexpedition mitmachen, die noch dabei sein wollen. So auch der Berlinale-Aufsichtsrat. Er erklärte am 11. März 2024, dass die Berlinale ein „Ort bleiben müsse, „der frei ist von Hass, Hetze, Antisemitismus, Rassismus, Muslimfeindlichkeit und jeder Form von Menschenfeindlichkeit.“
Kommt sich der Berliner Aussichtsrat bei dieser Rundum-Schleuder nicht selbst für außerordentlich blöd vor?
Wer also einen Waffenstillstand fordert, säht Hass!? Wer kein „guter“ Jude ist, ist Antisemit? Und wer „Russland ruinieren“ will wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock oder den „Krieg nach Russland“ tragen, wie der CDU-Kanonier Kiesewetter, die verkünden den ewigen Frieden.
Merken die Scharfrichter nicht, dass ihre Aus- und Abschlusskriterien in aller höchsten Maße jene treffen müssten, die dieses Festival finanziell und politisch tragen?
Ein Waffenstillstand lässt die Kriegsfollower aus allen Rohren schießen.
Man könnte ja noch halbwegs verstehen, dass man ein wenig irritiert gewesen wäre, wenn Jurymitglieder und Schauspieler das Recht auf bewaffneten Widerstand in einem besetzten Land gefordert hätten oder das „Selbstverteidigungsrecht“ für alle im Gazastreifen Lebenden. Damit wäre man zwar auch noch gut auf dem Boden internationalen Rechts (UN-Charta). Aber das spielt ja schon lange nur eine sehr vage Schein-Existenz.
Dass die USA gerade auch nicht mit Debatten und offene Auseinandersetzungen glänzen, und auch von großen Medienkonzernen dominiert werden, macht noch einmal mehr deutlich, wie elend flach die deutsche Medienlandschaft planiert worden ist.
„The Zone of Interest“ – Der Oscar in den USA
Nach der Berlinale in Berlin fand in Hollywood die Preisverleihung der „Oscars“ in den USA statt. Dort hatte der Film „The Zone of Interest“ über die Familie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß den Oscar für den besten internationalen Film bekommen. Der britische Regisseur Jonathan Glazer nutzt die Gelegenheit, seinen Film in Vergangenheit und Gegenwart einzuordnen:
„Unser Film zeigt, wohin Entmenschlichung im schlimmsten Fall führen kann. Sie hat unsere gesamte Vergangenheit und die Gegenwart geprägt. Genau jetzt stehen wir hier als Menschen, die sich dagegen wehren, dass ihr Jüdischsein und der Holocaust von einer Besatzung ausgenutzt werden, die so viele unschuldige Menschen in einen Konflikt geführt hat. Ob es die Opfer des 7. Oktober in Israel sind, der fortdauernde Angriff auf Gaza, all die Opfer dieser Entmenschlichung. Wie leisten wir Widerstand?“
Alleine diese mit Bedacht gewählten Sätze sind bemerkenswert und ermutigend. Zum einem ordnet er die mörderischen Ereignisse am 7. Oktober 2023 nicht dem „Tiermensch“-Sein der Palästinenser zu, sondern der israelischen Besatzung. Diese wird in fast alle deutschen Kommentaren ausgeblendet und durch Superlative wie „ein zweiter Holocaust“ ausradiert.
Zweitens, und das ist enorm wichtig, verwahrt er sich entschieden dagegen, dass „ihr Jüdischsein und der Holocaust von einer Besatzung ausgenutzt werden“. Auch diese vorsätzliche Instrumentalisierung der erklärten Einzigartigkeit zur Sprache zu bringen, entwaffnet die Kriegsbefürworter – auf lange Sicht – mehr als ein „Waffenstillstand“.
Und drittens überlässt er den Krieg, das Ende, nicht den Kriegsparteien. Er fragt vielmehr:
„Wie leisten wir Widerstand?“
Das ist eine wirklich bemerkenswerte Äußerung. Denn er deutet damit an, dass es in Gaza, in den besetzten Gebieten, aber eben auch in Israel eine Notwendigkeit gibt, Widerstand zu leisten.
Man muss sich für diesen ungewöhnlichen Gedankengang Zeit zu nehmen, denn er nimmt die gängige Kriegsfront nicht an: Hier der Staat Israel, dort der „Staat“ Palästina, den es im israelischen Staatsverständnis nur im Kriegsfall gibt. Ansonsten hat der Staat Israel bis heute alles unternommen, um einen Staat Palästina zu sabotieren. Es handelt sich also um keinen staatlichen Konflikt, geschweige denn Krieg „zwischen“ Israel und Palästina/Gaza. Es geht also auch nicht um irgendwelche Hardliner auf „beiden“ Seiten, die der Kriegszustand angeblich zusammenschweißt und die Friedliebende (ganz besonders in den USA und im Wertewesten) nicht zum Zuge kommen lässt.
Was seit 1967, seit der Besetzung von Gaza passiert, ist kein Krieg zwischen zwei Staaten, sondern ein Krieg Israels zur Aufrechterhaltung der Besatzung.
In besetzten Gebieten (wie in Gaza, im Westjordanland, auf den Golanhöhen und Ost-Jerusalem) geht es darum, die israelische Besatzung zu beenden. Und in Israel geht es darum, eine Netanjahu-Regierung zu Fall zu bringen, die wahrscheinlich die „Hamas“ mehr braucht, als die Menschen in Gaza. Zum zweiten deutet er damit auch an, dass viele Menschen in Israel die besetzten Gebiete nicht als „gelobtes Land“ begreifen, sondern als eine politische und militärische Belastung.
Und drittens führt die Netanyahu-Regierung einen Krieg im eigenen Land – gegen die eigene Verfassung. Seine sogenannte Justizreform würde auch institutionell das Land aus der Bahn schießen.
Und etwas Viertes liegt – noch schlummernd – in seinen glänzenden Überlegungen:
Wenn mit dem „wir“ nicht nur Palästinenser, sondern auch Israelis gemeint sind, dann beginnt genau hier eine Vision, die kein Bombardement zerstören könnte:
Die Erfahrung, das Wissen, die Gewissheit, dass das sehr unterschiedliche Leid auf allen Seiten eine gemeinsame Ursache hat.
Wie waren die Reaktionen auf die knappe Rede, die Jonathan Glazer sichtlich aufgeregt von einem Blatt Papier abgelesen hatte?
„Das Publikum reagierte in der Nacht zum Montag mit Beifall und Jubel. Auch viele Kommentatoren feierten die Rede am nächsten Tag als mutiges Statement – andere, vor allem auch in Deutschland, verurteilten sie als Verharmlosung des Holocaust.“ (MiGazin)
Es gibt ein erdrückendes Wissen im Schweigen (gerade in Deutschland) zur Beihilfe zum Genozid
Alleine die sehr verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und imperialen Umstände, die in den 1930er Jahren die NSDAP an die Macht führten und die deutlich anderen Konstellationen heute, lassen in der Tat den „Holocaust“ nicht mit dem Genozid in Gaza vergleichen.
Ich möchte hier nur einen Umstand erwähnen, der hoffentlich unerwartet kommt und zum Nachdenken anregt.
In den 1930er Jahren, erst recht nach der Machtübergabe an die NSDAP 1933, hatten die Menschen in Deutschland fast nur staatliche Medien als Quelle, die ausschließlich faschistische Propaganda betrieben. Wer dem nicht folgen wollte, wer dem misstraute, hatte außer berechtigtem Misstrauen wenig in der Hand – im Sinne einer Gegenöffentlichkeit. Viele Menschen konnten sich auf diese Weise damit beruhigen, dass man genaues nicht weiß, dass man sich am besten raushält.
Diese „Entschuldigung“ gibt es heute nicht. Auch wenn die deutschen Medienanstalten fast in Gänze die Fakten, die Bilder, die Berichte und Zeugnisse über einen Genozid in Gaza ausblenden und bewusst unterdrücken, so gibt es diese doch – in einem Maße, dass es kaum auszuhalten ist.
Wer heute wissen will, was an den Vorwürfen dran ist, warum Widerstand berechtigt ist, warum unser Schweigen schwerer wiegt, als nach 1933, der kann heute (noch) auf unzählige Quellen in der Welt (des Internets) zurückgreifen. Denn die stärkste Waffe in Gaza sind nicht die Waffen, sondern die Handys, die die Menschen dort benutzen, um mit dem Erlebten nicht alleine zu sein. Sie filmen ihre zerstörten Häuser, ihre toten Familienangehörigen, ihre zerstörten Krankenhäuser, Schulen und Notunterkünfte, ihren täglichen Hunger und die Babys, die an Hunger sterben.
Die Angst, die heute viele Menschen in Deutschland haben, erklärt sich nicht mit den Zweifeln und der Unwissenheit, sondern mit dem Wissen, das sie nicht haben wollen.
Wolf Wetzel
Wolf Wetzel
Nachtrag
Es gibt ein sehr interessantes Gespräch mit dem Produzenten des Filmes James Wilson:
„Der Film folgt der fiktiven Familie des echten Nazi-Kommandanten Rudolf Höss, der idyllisch neben dem Konzentrationslager Auschwitz lebt. Wilson (der Produzent) sagt, der Film sei eine Metapher für die Okklusion von ‚systemischer Gewalt, Ungerechtigkeit, Unterdrückung in unserem Leben‘ und fordert die Komplizenschaft des Publikums heraus, indem er sie auffordert, sich mit Höss und seiner Frau Hedwig zu identifizieren. ‚Die Idee dieses Films war, nach Ähnlichkeiten und nicht nach Unterschieden zwischen uns und dem Täter zu suchen, sagt Wilson:
Der Film „ist natürlich auch eine Metapher für die Art und Weise, wie wir (…) systematische Gewalt, Ungerechtigkeit, Unterdrückung und alle möglichen Dinge aus unserem Leben heraushalten und ausschalten können, damit wir mit ihnen weitermachen können.“ (democracynow vom 5.3.2024)
Quellen und Hinweise:
Die Berlinale, ein Stofffetzen und ein paar Palästinensertücher, Wolf Wetzel, 2024: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/die-berlinale-ein-stofffetzen-und-ein-paar-palaestinensertuecher/
Warum die Israel-Debatte im Ausland anders als in Deutschland ist, Christoph Driessen, MiGAZIN vom 14.3.2024: https://www.migazin.de/2024/03/13/warum-die-israel-debatte-im-ausland-anders-als-in-deutschland-ist/
Jonathan Glazer, Oscar-Rede: https://youtu.be/3ymiyNmr1WY
Die Zone des Interesses: Oscar-nominierter Filmproduzent über den Holocaust, Gaza und „Mauern, die uns trennen“, democracynow vom 5.3.2024: https://www.democracynow.org/2024/3/5/the_zone_of_interest_gaza
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