„Hast du Angst, das zu hören, Deutschland?“
Nan Goldin’s Rede in der Neuen Nationalgalerie in Berlin am 22. November 2024
Wenn die Kulturstaatsministerin Claudia Roth deshalb empört ist, dann hat Nan Goldin alles richtig gemacht.
Nan Goldin ist u.a. Fotografin, lebt in den USA und stammt aus einer jüdischen Familie. Die jetzt 71-jährige Frau kam aufgrund der Retrospektive mit dem Titel „This Will Not End Well“ nach Berlin. Was dann geschah, wurden dem Titel mehr als gerecht.
Sie hielt aus diesem Anlass eine Rede, die berührt, mit ihrer Zerbrechlichkeit und dem Willen, bei all der Aufregung, nicht zu schweigen. Sie ist bewegt, wenn sie Applaus bekommt von den mehreren Hundert ZuschauerInnen, die der Rede folgen. Denn sie weiß, dass es damit mit der berühmten, großartigen, renommierten und geschätzten US-Fotografin vorbei ist – in Deutschland.
Wenn sie am Ende ihrer Rede sagt:
„Never again means never again for everyone,“
dann weiß sie, dass das ganz und gar nicht für „everyone“ gilt. Auch und gerade für sie nicht.
Über das was sie über die Geschichte ihrer Eltern weiß und wie das in das heute Erlebte hineinwirkt sagt sie:
„Hast du Angst, das zu hören, Deutschland? Dies ist ein Krieg gegen Kinder. Meine Großeltern entkamen den Pogromen in Russland. Ich bin mit dem Wissen über den Naziholocaust aufgewachsen. Was ich in Gaza sehe, erinnert mich an die Pogrome, denen meine Großeltern entkommen sind.“
Die in der Neuen Nationalgalerie zu sehende Foto-Ausstellung hatte sie genutzt, um den wohlbehüteten Kunstraum zu verlassen, um über das zu sprechen, was hier in Deutschland in den öffentlich-rechtlich-privaten Anstalten weitgehend ausgeblendet wird:
„Warum kannst du das nicht sehen, Deutschland?“
Ein paar Passagen aus ihrer etwa 15-minütigen Rede:
„Ich habe beschlossen, diese Ausstellung als Plattform zu nutzen, um meiner moralischen Empörung über den Völkermord in Gaza und im Libanon Ausdruck zu verleihen“, sagte sie zu Beginn. Deutschland sei Heimat der größten palästinensischen Diaspora Europas:
„Dennoch werden Proteste mit Polizeihunden bekämpft.“
Dann geht sie auf die Blindheit der Sehenden in den deutschen Laufstallmedien ein – mit Blick auf den Vernichtungskrieg in Gaza:
„Die gesamte Infrastruktur Palästinas ist zerstört worden. Die Krankenhäuser, die Schulen, die Universitäten, die Bibliotheken. Es ist auch ein kultureller Völkermord. Warum kannst du das nicht sehen, Deutschland?“
Kann eine Jüdin, die uns nicht passt, antisemisch sein?
Aber ja doch. Man bezeichnet sie dann als „Vorzeigejuden“, also Juden, die nicht ganz richtig sind oder sagen wir doch einfach als Verhexte. Manch deutscher Psychiater, der auch an der Heimatfront dienen möchte, attestiert diesen Juden einen „Selbsthass“.
Die Juden, die man nun in Deutschland zu lieben gelernt hat, sind eigentlich keine Juden mehr. Es sind Kolonialisten, Kriegstüchtige, Rassisten und Krieger, die sich nehmen, was ihnen zusteht – also fast so wie „wir“ … sein wollen.
Dennoch ist man im „Fall Goldin“ großzügig und verbreitet nicht den Löschschaum des Antisemitismusvorwurfes.
„Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der die Nationalgalerie gehört, verurteilte die Äußerungen von Goldin. Sie seien ‚unerträglich und durch ihre Einseitigkeit gefährlich verharmlosend‘. Er zeigte sich zudem entsetzt, dass Biesenbach während seiner Gegenrede niedergebrüllt wurde. ‚Das ist nicht unser Verständnis von Meinungsfreiheit‘. (zeit.de vom 23.11.2024)
Man muss diesem Präsidenten auf eine bestimmte Art zustimmen: Niederbrüllen gehört nicht zu seinem Repertoire. Man lässt vielmehr nur die zu Wort kommen, die das Siegel „Staatsraison“ vorweisen können. So pflegt man das Silencing, ganz ohne Lärm.
Wenn die Vielfalt der Einseitigkeit gestört wird
Dazu gehören auch die Kulturstaatsministerin Roth und der Berliner Kultursenator Chialo, die sich wie Erstklässler sofort zu Wort melden und selbstverständlich drankommen.
Immer, wenn etwas dennoch zur Sprache kommt, was auch die Beiden mit großer Energie und Aufwand zum Schweigen bringen wollen, kommen sie auf die großartige Idee, dass das jetzt aber einseitig wäre.
Jahre- und monatelang werden wir mit Talkshows und Experten überschwemmt, die unisono eines sagen sollen und dürfen: Der Krieg der israelischen Armee in Gaza und im Libanon, in Syrien, Iran und sonst wo ist gut, gerechtfertigt und pure Selbstverteidigung. Die Meinungsvielfalt, die dabei zum Tragen kommt, bezieht sich dann auf die Zahl der Kinder, die dabei umgebracht werden dürfen/müssen.
Und genau in diesem Tonus melden sich die beiden „Kulturexperten“ zu Wort:
„So ein Verhalten ist absolut inakzeptabel und es ist ein Angriff auf das Museum und die kulturelle Arbeit, den ich auf das Schärfste verurteile“, betonte Roth. Ähnlich äußerte sich Berlins Kultursenator Chialo. Beide Politiker kritisierten auch die Äußerungen Goldins in ihrer Rede als einseitig.“ (deutschlandfunk.de vom 25.11.2024)
So so, ein Angriff auf das Museum!
Es finden täglich Angriffe auf Krankenhäuser, Hilfsdienste, Journalisten, Wohngebäude, Schulen und Flüchtlingslager in Gaza statt, nicht mit Worten, sondern mit Waffen, die Gaza in eine apokalyptische Landschaft verwandeln.
Das passiert nicht Ausversehen, sondern mit militärischer Präzision und Systematik.
Haben diese „Kulturexperten“ diese Kriegsverbrechen öffentlich verurteilt? Haben sie all das, was seit über 400 Tagen passiert „aufs Schärfste“ verurteilt? Haben Sie die Waffenlieferungen aus Deutschland, die all das mit ermöglichen, „aufs Schärfste“ verurteilt?
Im Gegenteil: Sie tragen genau das mit, was Nan Goldin in ihrer Rede zur Sprache gebracht hatte. Wenn man diese Kriegsverbrechen und die Komplizenschaft der deutschen Bundesregierung zur Sprache bringt, dann findet man nur das Gehör deutscher Polizeihunde. Was für das israelische Kriegskabinett die „Tiermenschen“ (Ex-„Verteidigungs“minister Yoav Gallant) sind, sind in Deutschland die „Hamas-Sympathisanten“.
Das Museum steht nach dem „Angriff“ noch
Soweit ich das aus der Ferne beurteilen kann, steht das Museum noch. Alle Steine stehen noch übereinander. Nur der Kopf des Museumsdirektors soll rollen. Er hat zwar alles gegeben, um der Staatsraison zu huldigen. Er hat betont, dass das Existenzrecht Israels verteidigt werden muss. Er hat auch erklärt, dass er die Rede von Nan Goldin „einseitig“ findet. Aber er ahnt wohl, dass all diese Ergebenheitsgesten nicht ausreichen. Er hätte so etwas verhindern müssen. Irgendwie, egal wie. So wie die Bundesregierung, die mit dem internationalen Haftbefehl des IStGH gegen den israelischen Kriegspräsidenten Benjamin Netanjahu und den ehemaligen „Verteidigungsminister“ Joaw Gallant konfrontiert ist und durch ihren Pressesprecher die Wertegemeinschaft wissen lässt, dass er sich nicht vorstellen kann, dass sich seine Regierung vom internationalen Recht stören lässt:
„Regierungssprecher Steffen Hebestreit teilte mit, die aus dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) folgenden ‚innerstaatlichen Schritte‘ würden gewissenhaft geprüft. Weiteres stünde erst an, wenn ein Aufenthalt von Netanjahu oder seines ehemaligen Verteidigungsministers Galant in Deutschland absehbar sei. ‚Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass wir auf dieser Grundlage Verhaftungen durchführen‘, sagte Hebestreit weiter. (FR vom 22.11.2024)
Die Guillotinisten der Laufstallmedien lecken Blut
Kaum hatte ich die Mutmaßung ausgesprochen, dass für das gescheitere Silencing jemand den Kopf hinhalten muss, streng hierarchisch der Direktor der Neuen Nationalgalerie Klaus Biesenbach, machten sich die Guillotinisten der Zeitung „Welt“ an die Arbeit. Es war absehbar, dass der „Welt“ und Co. die Demutsbekundungen des Direktors nicht reichen. Cornelius Tittel weiß für die „Welt“, wo es jetzt langgeht:
„Warum Klaus Biesenbach zurücktreten sollte“
Wie so oft, wenn die Heimatkrieger aus den Schützengräben kommen, verraten sie dabei etwas, was ihr „Demokratieverständnis“ ausmacht, das sie angeblich schützen wollen. Sie sind nicht enttäuscht, dass man die Nan Goldin falsch eingeschätzt habe. Sie haben vielmehr erwartet, dass der Direktor Klaus Biesenbach alles unternimmt, Nan Goldin dazu zu bringen, nur das zu sagen, was man hören will. Ein Direktor der freien Kunst, der also unfähig war, aus ihr eine Sprechpuppe zu machen:
„Klaus Biesenbach (…) schien zu glauben, dass er seine Freundin Goldin – die er seit den 90er Jahren als Teil seiner „Wahlfamilie“ bezeichnet – im Griff haben werde. Sie habe ihm versprochen, sich in Berlin zurückzuhalten, so beruhigte er zunehmend nervöse Mitarbeiter. Goldin selbst war es dann, die ihm in den Wochen vor der Ausstellungseröffnung seine Illusion raubte und nun jedem, der es hören wollte, erzählte, was sie in Berlin vorhabe, und wie egal ihr die Befindlichkeiten ihres alten, immer panischer werdenden Weggefährten seien.“
Damit steht das Welt-Urteil – ohne Anhörung des Beschuldigten fest:
„Sollte Biesenbach nicht selbst erkennen, dass er seiner Rolle nicht gewachsen ist, kann man nur hoffen, dass Marion Ackermann, die ab 2025 als seine Vorgesetzte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz leiten wird, ihn von seinem Unglück befreit.“
Wolf Wetzel
Quellen und Hinweise:
Die ganze Rede findet man hier. Sie ist berührend und ergreifend: https://t.me/wolfwetzel/144
Nan Goldin vergleicht israelische Angriffe mit Pogromen gegen Juden, zeit.de vom 23.11.2024: https://www.zeit.de/kultur/kunst/2024-11/nan-goldin-israel-kritik-gaza-nationalgalerie
Roth kritisiert propalästinensische Sprechchöre, deutschlandfunk.de vom 25.11.2024: https://www.deutschlandfunk.de/roth-kritisiert-propalaestinensische-sprechchoere-102.html
Warum Klaus Biesenbach zurücktreten sollte, Cornelius Tittel/Welt vom 24.11.2024: https://www.welt.de/kultur/article254649154/Direktor-der-Neuen-Nationalgalerie-Warum-Klaus-Biesenbach-zuruecktreten-sollte.html
Um auf die israelischen Besatzer wütend zu sein, brauchen PalästinenserInnen keinen Antisemitismus. Warum der Antisemitismus-Vorwurf nicht aufklärt, sondern zudeckt, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/06/08/um-auf-die-israelischen-besatzer-wuetend-zu-sein-brauchen-palaestinenserinnen-keinen-antisemitismus/
Wer hat angefangen? Gaza – ein Gefängnis ohne Wärter, 2014, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2014/07/17/wer-hat-angefangen-die-bombardierung-des-gaza-ein-gefangnis-ohne-warter/
Wer hat zum x-ten Mal angefangen? 2023, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/10/16/wer-hat-zum-x-ten-mal-angefangen-gaza-ein-gefaengnis-ohne-waerter/
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