No other land
und no chance in Deutsch-land
Im Land der Kolonialisten und Weltkriegsverbrechen kommt der Film „No other land“ gar nicht gut an. Er beschreibt doch tatsächlich das Leben von palästinensischen Menschen unter israelischer Besatzung im Westjordanland.
Die Laufstallmedien reagieren sofort und wissen, wie man damit umgeht: Die schlichte Variante ist die Behauptung, dieser Film sei „einseitig“, weil er nicht das bittere Los der Besatzer, ihre Nöte und Qualen mit einbezieht.
Die Löschschaumvariante ist dreist und haarsträubend: Der Film habe „antisemitische Tendenzen“.
An dieser Denunziation beteiligen sich viele, in den verschiedenen Machtpositionen, mit den je unterschiedlichen Reichweiten. Dazu gehört unter anderem das „Stadtportal Berlin“, das mit städtischen Geldern und Interessen gespeist wird. Dieses hat tatsächlich den Film „No Other Land“ mit antisemitischen Tendenzen infiziert. Damit ist klar, was das bedeuten soll: Wer sich einen solchen Film anschaut, ist Antisemit oder auf dem Sprung dorthin.
Darüber hatte der israelische Regisseur des Films „No Other Land“ auf seinem X-Account informiert:
„Berlins offizielles Stadtportal hat gerade geschrieben, unser Film ‚No Other Land‘ (Kein anderes Land) habe „antisemitische Tendenzen“. Ein Film, der die Berlinale gewann und kürzlich zu einer Sondervorführung in die deutsche Botschaft in Israel eingeladen wurde. Es schmerzt mich zu sehen, wie Sie, nachdem Sie den Großteil meiner Familie im Holocaust ermordet haben, das Wort Antisemitismus seiner Bedeutung berauben, um Kritiker der israelischen Besatzung im Westjordanland (dem Thema unseres Films) zum Schweigen zu bringen und Gewalt gegen Palästinenser zu legitimieren. Ich fühle mich im Berlin des Jahres 2024 als linker Israeli unsicher und unwillkommen und werde rechtliche Schritte einleiten.“
https://x.com/yuval_abraham/status/1856390669880672393
Die Staatsraison und die Yorck-Kinogruppe
Wie weit dieser vorauseilende Gehorsam reicht, belegt ein weiteres Beispiel. Es geht um die „Yorck-Kinogruppe“. Zu diesem Berliner Kinounternehmen gehören 14 Kinos im Stadtgebiet. Die Geschichte dieses Unternehmens geht bis in die 1970er Jahre zurück, als die 68er-Bewegungen auch den trögen Kulturbetrieb aufmischten, was sich eben auch in Filmangeboten ausdrückte, die sich abseits des Hollywood-Mainstream-Formats entwickelten. Was es mit dieser Yorck-Kinogruppe heute auf sich hat, beschreibt Matthias Reichelt wie folgt:
„Der international mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Film ‚No Other Land‘ von Yuval Abraham, Basel Adra, Rachel Szor, Hamdan Ballal, dem israelisch-palästinensischen Filmkollektiv, wird von der in Berlin mächtigen Yorck-Kinogruppe mit dem hier zitierten Vortext gezeigt:
„Der Konflikt im Nahen Osten hat eine lange Geschichte und viele Perspektiven. Der nachfolgende Film zeigt eine davon. Wir zeigen ihn als Beitrag im Rahmen der größeren Debatte und laden dazu ein, sich auch darüber hinaus über die gesamte Geschichte und Komplexität des Konflikts zu informieren.
Gleichzeitig erfüllt uns der wachsende Antisemitismus in unserer Stadt mit großer Sorge. Gemeinsam tragen wir Verantwortung, dass Kritik an der israelischen Regierung und ihren Institutionen niemals zur Feindseligkeit in Wort und Taten gegen Jüdinnen und Juden führt.“
Welche andere Perspektive zu einem seit Jahrzehnten von der UN und vielen anderen internationalen Institutionen als eindeutig völkerrechtswidrig verurteiltes Vorgehen die progredierende Okkupation und Annektion palästinensischer Gebiete, die vorausgehende Gängelung und Vertreibung der Bevölkerung, die Zerstörung ihrer Häuser bis hin zur Ermordung von Protestierenden durch IDF und orthodoxe Siedler eingenommen werden könnte, bleibt das Geheimnis der Yorck-Kinogruppe.
Die mehrfachen Anfragen unseres Autoren, was oder wer die Yorck-Kinogruppe zu der Vorschaltung des Textes bewegt habe, blieben alle unbeantwortet. Über diesen wahrscheinlich einmaligen Vorgang wurde auch der deutsche Verleih „ImmerGuteFilme“ in Wuppertal nicht informiert und erhielt bis heute ebenfalls keine Antwort auf seine schriftliche Anfrage von der Yorck-Kinogruppe.“
Diese Art, einen Film zu denunzieren, indem man ihn mit angeblichen und tatsächlichen antisemitischen Haltungen zusammenbringt, ist besonders infam. Denn man verschweigt damit den Inhalt des Films und verdächtigt ihn stattdessen dem, was er auslösen könnte, wofür er genutzt werden könnte.
Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt. Man behauptet, dass dieser Film einseitig sei und dass ganz viel fehle, die Komplexität, die andere Seite, die berühmten „zwei Seiten einer Medaille“.
Dieser vorgetäuschte Anspruch auf Komplexität und wissenschaftliche Neutralität ist heuchlerisch.

Es gibt keinen einzigen Grund, in einem Film über Besatzung und Unterdrückung das Leid der Besatzer, ihr Innenleben zu zeigen, wenn sie Häuser in die Luft sprengen oder Siedler bei ihren Pogromen unterstützen.
Genau das machen die Laufstallmedien in Permanenz und im Überfluss.
Denn es geht überhaupt nicht – weder im Film, noch als politische Haltung – darum, die „zwei Seiten einer Medaille“ zu zeigen. Es geht um ein Herrschaftsverhältnis, im besetzten Westjordanland, in besetzten Gaza, in den besetzten Golanhöhen (in Syrien).
Wenn man das vor Augen hat und behält, dann ist es infam, zu suggerieren, dass beide Seiten „irgendwie“ daran schuld sind. Nein.
Wer das tut, stellt sich an die Seite der Besatzer und nicht an die Seite „komplexer“ Sachverhalte. Und er bekämpft damit nicht im Geringsten „antisemitische Tendenzen“, sondern benutzt dieses Schutzschild dafür, koloniale, imperiale und staats-terroristische Strukturen aufrechtzuerhalten und legitimieren.
Wolf Wetzel
Quellen und Hinweise:
Der Film: „No Other Land“. Regie: Basel Adra, Yuval Abraham, Rachel Szor, Hamdan Ballal. Norwegen/Palästina 2024, 93 Min.
Um auf die israelischen Besatzer wütend zu sein, brauchen PalästinenserInnen keinen Antisemitismus. Warum der Antisemitismus-Vorwurf nicht aufklärt, sondern zudeckt, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2024/06/08/um-auf-die-israelischen-besatzer-wuetend-zu-sein-brauchen-palaestinenserinnen-keinen-antisemitismus/
Wer hat angefangen? Gaza – ein Gefängnis ohne Wärter, 2014, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2014/07/17/wer-hat-angefangen-die-bombardierung-des-gaza-ein-gefangnis-ohne-warter/
Wer hat zum x-ten Mal angefangen? 2023, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/10/16/wer-hat-zum-x-ten-mal-angefangen-gaza-ein-gefaengnis-ohne-waerter/
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