Wenn der Geduldsfaden reißt …

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Wenn der Geduldsfaden reißt …

Nach den „Ausschreitungen“ in Berlin bei Demonstrationen gegen den Vernichtungskrieg in Gaza verlangt Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel ein härteres Vorgehen der Polizei. „Nach diesem Abend mit brennenden Barrikaden und Angriffen auf die Polizei reißt mir der Geduldsfaden“.

Mir auch.

 

„Am Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel kam es in Berlin zu Ausschreitungen. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister fordert Konsequenzen.“ (merkur.de vom 8.10.2024)

Plötzlich, mit einem Mal, reißt dem SPD-Politiker der Geduldsfaden.

 

  • Es ist nicht die jahrzehntelange Besatzung palästinensischer Gebiete.
  • Es ist nicht die Annektion von
  • palästinensischen Gebieten.
  • Es sind nicht die Plünderungen und Morde israelischer Siedler im Westjordanland.
  • Es ist nicht der laufende und eskalierende Genozid in Gaza.
  • Es sind nicht die Ermordung von über 100 JournalistInnen in Gaza.
  • Es sind nicht die die gezielten Angriffe auf UN-Nahrungsmittelkonvois.
  • Es ist nicht die Ermordung von sieben Hilfskräften der US-Hilfsorganisation World Central Kitchen (WCK)
  • Es sind nicht die Liquidierungen von über 100 UNRWA-Mitarbeiter (UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge).
  • Es sind nicht die Zerstörungen von Krankenhäusern und Schulen.
  • Es sind nicht die israelischen Hinrichtungen in Syrien und Libanon.
  • Es sind die Terroranschläge mithilfe manipulierter Pagers (Sprengfallen), die in Israel als Husarenstück gefeiert wurden.
  • Es sind nicht die Waffenlieferungen Deutschlands an Israel.

  • Es sind nicht die zahlreichen Polizeiübergriffe gegen Menschen in Deutschland, die den Genozid nicht für staatsraisonabel halten.

 

  • Es sind nicht die Verbotsorgien, die irrwitzigen Auflagen für Demonstrationen, die verhängt werden, um Kundgebungen und Demonstrationen zu verbieten, indem man sie „erlaubt“.
  • Es sind nicht Einreiseverbote für Menschen, die Kriegsverbrechen anklagen und damit die Staatsraison stören.
  • Es sind nicht die kontinuierlichen Hausdurchsuchungen, Anzeigen, Festnahmen, Strafbefehle und Verfahren, die die Palästina-Solidarität zermürben sollen.

 

All das zehrt nicht am Geduldsfaden des Neuköllner Bezirksbürgermeister. Denn all das stört nicht im Geringsten die „Ruhe und Ordnung“, die Beihilfe zum Völkermord blendend aushält.

Er könnte sich, in seinem Alter, Gedanken darüber machen, warum die Menschen die Schnauze voll haben, schikaniert, geschlagen und demütigt zu werden. Er könnte sich fragen, wie lange sie das hingenommen haben.

Der SPD-Politiker macht sich ganz andere Gedanken: Wie kann man das mit noch mehr Polizei beseitigen? Wie kann man die bereits restriktive Auslegung des Demonstrationsrechts auf Null bekommen, damit die Befürworter von Genozid, Besatzung und Postkolonialismus nicht gestört werden:

„Ich erwarte, dass der Senat konsequent gegen diesen Missbrauch des Demonstrationsrechts vorgeht. Die Polizei hat dazu die Mittel, sie muss sie auch einsetzen dürfen.“

Der lange, dünne Geduldsfaden

Auch in den 1980er Jahren hatte man genug Gründe, gegen vieles zu demonstrieren: Gegen die Privatisierung und Luxussanierung von Lebensräumen, gegen die Gefahr eines Atomkrieges (Pershing I und II), gegen die Remilitarisierung, gegen Atomstrom u.v.m. Zehn- Hunderttausende gingen auf die Straße. Das störte die Regierung nicht und schon gar nicht jene, die nicht gewählt werden, um die Macht auszuüben, über das Leben anderer zu bestimmen. Herbert Marcuse brachte diese Ignoranz zurecht auf den Punkt und nannte dies „repressive Toleranz“. Erst als es zu „Ausschreitungen“ kam, waren die Zeitungen und Schlagzeilen voller Empörung. Ein recht eiskaltes kontrolliertes Empörungsmanagement.

Eine sehr oft gerufene Parole in dieser Zeit brachte dies knapp und treffend auf den Punkt:

„Menschen sterben und ihr schweigt. Scheiben klirren und ihr schreit.“

 

Dringend mehr Urteile und Inhaftierungen

Man könnte dem schnell zustimmen, wenn man an die Kriegsverbrechen im Vernichtungskrieg in Gaza denkt, in diesem Fall gegenüber jenen in Deutschland Wohnhaften, die diese Kriegsverbrechen politisch und ideologisch rechtfertigen. Man könnte sofort zustimmen, wenn man an die Waffenlieferungen denkt, die die deutsche Bundesregierung an Israel liefert und der Bundeskanzler Olaf Scholz – wie in einem Bekennerschreiben – offen erklärt, dass die Waffenlieferungen weitergehen werden und dass man sich an das selbst gesteckte Ziel, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiet zu schicken, nicht hält.

Man könnte dem zustimmen, wenn man an den im Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelten Vorwurf des Genozids denkt, den die israelische Armee in Gaza begeht. In diesem Fall an jene in Deutschland, die als Bundesregierung diesen begründeten und evidenten Verdacht leugnen.

Wer also an eine solche Strafverfolgungen denkt, wer diese überhaupt laut in Erwägung zieht, der irrt nicht nur gewaltig, sondern muss als Minimum mit dem Vorwurf des Antisemitismus rechnen.

Nein, der Ruf nach mehr Repressionen, nach mehr Verhaftungen, nach mehr „präventiven“ Maßnahmen gilt nicht jenen, die Kriegsverbrechen ermöglichen und begünstigen, sondern jenen, die diese für ein Menschheitsverbrechen halten.

Wenn man die endlos vielen polizeilichen Maßnahmen im Auge hat, die die Polizei gegen Palästina-Solidaritätsbekundungen anwendet, dann fragt man sich, was der Polizei noch alles erlaubt sein soll?

Es gibt schon Veranstaltungsverbote. Es gibt schon polizeiliche „Auflagen“, die das verbieten, was eigentlich Anlass und Sinn einer Kundgebung, eines Protestes sein soll.

Es gibt bereits mehrseitige Vorgaben, die Satz für Satz festhalten, was man nicht sagen darf, was man eigentlich sagen will.

Es gibt bereits über 3.000 Verfahren innerhalb eines Jahres, die in Berlin gegen Menschen geführt wurden/werden, die die Staatsraison mit dem Staat Israel stören.

Also: Was meint der SPD-Politiker, wenn er dazu auffordert, dass die Polizei auch die Mittel anwenden darf und muss, die ihr bereits zur Verfügung stehen?

Man spürt bereits in der Formulierung, dass er bei aller geforderten Härte butterweich um das herumredet, was er damit meint und im Sinn hat.

 

Vorbeuge-, Unterbindungs- bzw. Präventivhaft als reaktivierte Schutzhaft

In Sachen Kriegsertüchtigung ist die SPD doch schon sensibel, wenn es um sprachliche Verschleierungen geht. Als sie 2022 die ersehnte Kriegstauglichkeit mit 100 Milliarden Euro beschleunigt hatte, nannte sie dies –nicht wie 1914 – „Kriegskredite“, sondern “Sondervermögen“. Und so sensibel ist auch der Innenstaatssekretär Christian Hochgrebe (SPD) in Berlin. Er hatte im Innenausschuss „den Wunsch“ geäußert, „Richter sollten die rechtlichen Möglichkeiten etwa zur Ingewahrsamnahme von Straftätern bei pro-palästinensischen Demonstrationen ‚öfter ausschöpfen‘. (Rbb vom 16.10.2024)

Man fragt sich selbstverständlich, wofür Menschen, die gegen den Genozid in Gaza demonstrieren, inhaftiert werden sollen: Für eine indizierte Parole? Für die Erwähnung von Hamas oder PFLP? Für einen brennenden Mülleimer?

Soweit ist man noch nicht. Was könnte also eine Verhaftung, eine „Ingewahrsamnahme“ rechtfertigen?

Die Absicht, die mutmaßliche Intension zu einer „pro-palästinensischen“ Demonstration zu gehen.

Das geht wieder, seitdem es nach Polizeirecht erlaubt ist, Menschen aufgrund ihrer mutmaßlichen Absicht in Haft zu nehmen, wenn es passt, auch für mehrere Tage:

 

„Durch Anschlussgewahrsam können Wiederholungstäter vorsorglich für einige Tage eingesperrt werden, um etwa ihre Teilnahme an zukünftigen Demonstrationen zu verhindern.“ (rbb, s.o.)

 

Dieses Instrumentarium hat – das muss man jetzt sagen – einen etwas unguten Geruch: Es handelt sich dabei um ein klassisches Mittel des „Willensstrafrechts“, das eine Absicht, eine Meinung, einen Gedanken strafbar machen soll. Dieses Instrument der staatlichen Verfolgung hat auch einen Namen:

Schutzhaft

Welchem Rechtsverständnis ist eine polizeiliche Praxis zuzuordnen, die nicht eine als strafbar definierte Handlung verfolgt, sondern eine von ihr unterstellte Absicht?

Das eher unverdächtige Lexikon des Biographischen Instituts Brockhaus A.G. lässt daran keinen Zweifel:

„Politische Schutzhaft ist die polizeiliche Ingewahrsamnahme einer Person aus Gründen der Staatssicherheit, also mit einer präventiven Zielsetzung. Sie gehört zur geläufigen Praxis totalitärer Regierungssysteme (…) Äußere Grundlage (…) im nationalsozialistischen Deutschland bildete die ‚Verordnung zum Schutz von Volk und Staat‘ (28.3.1933), anlässlich des Reichstagsbrandes erlassen. Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ist eine politische Schutzhaft unzulässig. Dem geltenden deutschen Recht (Artikel 104 GG) würde die politische Schutzhaft ebenso widersprechen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 5).“

 

Wenn der Geduldsfaden reißt …

Wolf Wetzel | 22.10.2024

Quellen und Hinweise:

Gewalt bei Demos – Bezirkspolitiker verlangt hartes Vorgehen, merkur.de vom 8.10.2024: https://www.merkur.de/deutschland/berlin/gewalt-bei-demos-bezirkspolitiker-verlangt-hartes-vorgehen-zr-93344681.html

Berliner Justiz ‚irritiert‘ über Polizei-Aussagen zu ihrer Arbeit, Rbb vom 16.10.2024: https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/10/berlin-reaktion-justiz-kritik-polizei-nahost-demonstrationen.html

Auf den Hund gekommen, Berliner Polizei gegen Palästina-Solidarität am 19.10.2024:

https://www.facebook.com/61565108910342/videos/925737106280637

Polizei-Hooligans, Berlin 2024: https://www.facebook.com/reel/1674718659978054

„Menschen sterben und ihr schweigt. Scheiben klirren und ihr schreit“, Song: https://www.fruechtedeszorns.net/musik/fruechte_des_zorns-scheiben_splittern.mp3

Wie ein polizeiliches Instrumentarium aus dem Dritten Reich demokratietauglich gemacht wird, Wolf Wetzel, 2002: https://wolfwetzel.de/index.php/2002/08/20/vorbeugehaft-ein-nazigesetz-gegen-antifaschistinnen/

Wer hat zum x-ten Mal angefangen? Gaza – ein Gefängnis ohne Wärter, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/10/16/wer-hat-zum-x-ten-mal-angefangen-gaza-ein-gefaengnis-ohne-waerter/

OVG Berlin-Brandenburg bestätigt VG Waffenlieferungen nach Israel nicht gestoppt, LTO.de vom 9.8.2024: https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/ovg-berlin-brandenburg-ovg1s4524-gaza-israel-eilantraege-beschwerde-waffenexporte

In northern Gaza, invading Israeli forces besiege, abduct, and torture Palestinians after storming schools housing the displaced, Oktober 2024: https://x.com/TheCradleMedia/status/1847705177026896221

 

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