Das „freie Wort“ im Gaza-Berlin-Streifen
Wie wird doch gerne das „freie Wort“ gefeiert, wenn es der Gefängnisverwaltung passt. Damit meine ich nicht den Gaza und die israelische Besatzungsmacht drum herum. Ich meine die Sympathisanten in Deutschland, die etwas für „Staatsraison“ ausgeben, was nichts weiter als Unterstützungsleistungen für Kriegsverbrechen und Straftaten im Sinne des Völkerrechts sind.
Eigentlich will man sich locker, offen, divers, diskursiv, bunt und aufgeschlossen geben. Damit meine ich die deutsche Bundesregierung mit ihrem kulturellen Escortservice.
Voraussetzung ist jedoch, dass es „Nebensache“ sein und bleiben muss. In der Stadtpolitik nennt man das „weiche Standortfaktoren“, wenn das zugrundeliegende Kapitalverhältnis nicht angetastet wird.
„Die Nebensache“ nennt auch die Schriftstellerin Autorin Adania Shibli ihren Roman.
Er wurde auch in Deutschland vom Feuilleton und den Kulturgraden gewürdigt und gelobt. Er erschien bereit 2022 und löste – wie gesagt – „ein überwiegend positives Echo …aus. Die englische Übersetzung war in den USA für den National Book Award und in England für den International Booker Prize nominiert.“ (Hessenschau vom 13.10.2023)
Das war auch der Grund dafür, dass „Die Nebensache“ auf der Buchmesse in Frankfurt für ihr Buch geehrt werden soll.
Von der Schriftstellerin zur Palästinenserin
Das geht nun aber ganz und gar nicht. Sicherlich unbestritten ist, dass in dem Buch nichts anders drinsteht als im Jahr 2022.
Die Jury des LiBeraturpreises lobte Shibli für “ihren gleichsam sensiblen wie schonungslosen Blick”, den sie auf Menschen richte, die Gewalt ausführen und ihr ausgesetzt seien:
„Sie zeigt, wie erbarmungslos sich das ständige Gefühl von Ausweglosigkeit auf Menschen auswirkt und führt uns deutlich die Sinnlosigkeit anhaltender kriegerischer Konflikte und deren zerstörerisches Potenzial vor Augen.“ Die Autorin bediene sich dabei „keines anklagenden Tonfalls und stellte „das Grässliche nicht aus“.
Doch nun stört der „schonungslose“ Blick auf die Verhältnisse in Gaza und Israel gewaltig. Denn seit dem offenen Krieg in und um Gaza ab dem 17.10.2023 darf es diesen schonungslosen Blick nicht mehr geben. Das hat einen einfachen Grund: Man will mit aller Gewalt den zugrundeliegenden Konflikt, die Anamnese dieses Krieges ausblenden. Denn er würde ja automatische zu der Frage führen, ob sich Menschen, die im Gaza gefangen gehalten werden, deren Leben vonseiten Israels knapp am Überleben gehalten wird, ein Grund, ein legitimer Grund sein könnten, all das nicht länger hinzunehmen.
Dieser „schonungslose Blick“ würde die Augen dafür öffnen, wer die Besatzungsmacht Israel deckt, schützt und gewähren lässt.
Dieser „schonungslose Blick“ würde die Frage aufwerfen, wer dafür mitverantwortlich ist, dass der Staat Israel seit Jahrzehnten Völkerrecht verletzen kann und dafür nicht sanktioniert wird, sondern mit Waffen, Wirtschaftshilfe und vorgetäuschter historischer Verpflichtung“ unterstützt wird.
Mit dem offenen Krieg in und um Gaza bekommt dieser literarisch gefeierte „schonungslose Blick“ etwas Bedrohliches. Er stellt Zusammenhänge her, er bringt etwas zusammen, was in Deutschland nur zusammenhangslos erwähnt und bedacht werden kann. Man verdrückt gerne eine Träne, wenn man über unmenschliche Lebensbedingungen in Gaza berichtet. Aber man wird steinhart, wenn man diese mit dem Widerstand in Gaza zusammenbringt. Und man dreht durch, wenn man erwähnt, dass Menschen, die unter Besatzungsbedingungen leben, ein international verbrieftes Recht auf (bewaffneten) Widerstand haben.
Dass der Roman von Adania Shibli nicht eine Seite, nicht einen zusammenhängenden Satz für die Absetzung der Preisverleihung auf der Frankfurter Buchmesse hergibt, ist offensichtlich.
Sie ist jetzt eben nicht mehr eine gute Schriftstellerin, sondern eine Palästinenserin. Und ab da dürfen verkleidete Antisemitismus-Jäger sie mit allen nicht-letalen Mitteln „abschießen“.
Eine reaktionäre Einheitsfront
Von „taz“ bis FAZ stehen sie zusammen, wenn es jetzt darum geht, diese Absetzung der Verleihung zu begründen. Hier zeigt sich sehr eindrucksvoll, wer hier alles „Hand in Hand“ geht:
„In der taz heißt es nun, ‚Eine Nebensache‘ diffamiere den Staat Israel als Mordmaschine. Die Israelis seien hier ‚anonyme Vergewaltiger und Killer‘, die Palästinenser Opfer von ‚schießwütigen Besatzern‘. Das sei die ‚ideologische und menschenverachtende Basis‘ eines Buchs voller Stereotype.“ (Hessenschau)
Die „taz“ hat ein Näschen dafür, was sie selbst zwischen die Zeilen reinschreibt und dann entdeckt. Den Subtext, den die „taz“ plötzlich durchbuchstabiert, hat nichts mit dem Roman zu tun, sondern mit dem sehr sichtbaren Grund, den Zusammenhang von Besatzung und Recht auf Widerstand in den Boden zu stampfen.
Immerhin macht es sich die Reporterin Sonja Fouraté von der Hessenschau nicht ganz so leicht. Sie geht den Anfeindungen nach, sie gibt sich zumindest Mühe, Vorwürfe zu prüfen, anstatt sie wie Platzpatronen zu verwenden.
Der BDS-Test hat die Validität eines Corona-Testes.
Sonja Fouraté sucht erst gar nicht im Buch nach Stellen, die man für seine eigenen miesen Absichten benutzen kann. Sie weiß aber auch, dass ein Verdacht, die BDS-Boykott-Kampagne zu unterstützen, so gut wie ein Corona-Test funktioniert: Wenn man jemanden mit dem BDS-Boykott-Kampagne in Verbindung bringen kann, ist diese Person positiv auf Antisemitismus getestet und muss in Quarantäne. Sonja Fouraté kommt zu dem Schluss:
„Dass die 1974 in Obergaliläa geborene Shibli eine engagierte Aktivistin der zumindest in Teilen antisemitischen BDS-Bewegung ist, sei eine in der taz verbreitete Fehlinformation, betonte Litprom außerdem. Dasselbe war von Shiblis deutschem Verlag zu hören. In der Tat findet sich kaum ein Indiz dafür. Am ehesten ist dies vielleicht in ihrer Unterschrift unter einem BDS-Protest gegen die Aberkennung des Nelly-Sachs-Preises an die britisch-pakistanische Autorin Kamila Shamsie im Jahr 2019 zu sehen.“
Aber selbst bei dieser „Entlastung“ spürt man den Willen der Redakteurin, sie doch auf großen Umwegen in Kontaktschuld zu bringen. Dass genau diese Methode nicht nur widerlich, sondern ein Grundelement diktatorischer und faschistischer Regime ist, fällt ihr nicht auf.
Nicht alleine lassen
Immerhin haben Hunderte von SchriftstellerInnen gegen dieses Vorgehen protestiert. Das reicht aber nicht.
Es geht darum, Adania Shibli nicht alleine zu lassen. Auch vom Beklagen ändert sich nichts. Aber es wäre eine kleine und wichtige Geste, Adania Shibli überall einzuladen, damit sie über ihr Buch und ihre Erfahrungen mit den Philistern des „freien Wortes“ sprechen kann.
Noch wichtiger ist es, ihr und uns die Kraft zu geben, das nicht (länger) hinzunehmen.
Wolf Wetzel
Publiziert im Magazin Overton am 20.10.2023: https://overton-magazin.de/kommentar/kultur-kommentar/das-freie-wort-im-gaza-berlin-streifen/
Quellen und Hinweise:
Ist Adania Shiblis Roman “Eine Nebensache” antisemitisch? Hessenschau vom 13.10.2023: https://www.hessenschau.de/kultur/debatte-um-liberaturpreis-2023-ist-adania-shiblis-roman-eine-nebensache-antisemitisch-v3,buchmesse-debatte-liberaturpreis-100.html
„Zum Schweigen gebracht”. Frankfurter Buchmesse gerät mit Absage von Literaturpreisverleihung an palästinensische Autorin international unter Druck und in Isolation: Nobelpreisträger protestieren, Autoren und Verlage reisen ab: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9377
Wer hat zum x-ten Mal angefangen? Gaza – ein Gefängnis ohne Wärter, Wolf Wetzel: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/10/16/wer-hat-zum-x-ten-mal-angefangen-gaza-ein-gefaengnis-ohne-waerter/
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OT: Habe mir eben bei Phoenix die Kundgebung am Brandenburger Tor zu Israel/Palästina angesehen. Plötzlich stieg in mir die Wut empor über soviel Heuchelei. Denn nationalsozialistische Untergründe aufklären, das wollen sie sie alle nicht, die da stehen und Reden schwingen. Musste ich mal loswerden…