Aufruf: Am 22. August 2020 nach Hanau! Und eine Aufruf an Zusammenhängen

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Ein Aufruf zu einer Demonstration in Hanau und ein Aufruf von Zusammenhängen

In der Nacht zum 20. Februar 2020 hatte ein 43-jähriger Deutscher in Hanau neun Menschen in und vor Shisha-Bars ermordet. Wenig später erschießt er sich und seine Mutter. Die Polizei hält Tobias Rathjen für den Mörder. Im Rahmen der Ermittlungen wurden ein Pamphlet und ein Video gefunden, die seine rassistischen und faschistischen Gedanken und Weltbilder dokumentieren. Dazu gehört auch folgender Umstand, den Çetin Gültekin, der Bruder eines Ermordeten in einem Interview mit der taz schildert:

In den letzten Tagen vor der Tat hat Tobias Rathjen, der Mörder meines Bruders, ein Bekennerschreiben und ein Hassvideo im Internet hochgeladen. Der Generalbundesanwalt (GBA) Peter Frank hat bei einer Befragung im Hessischen Landtag bestätigt, dass die Hanauer Staatsanwaltschaft und der GBA im November 2019 Post von Rathjen bekommen haben. Darin hat er seine rechtsextremen Ansichten offengelegt. Ohne Folgen. Wenn ich zwei Seiten mit der Ankündigung vollschreibe, dass ich Deutsche umbringen will und das der Staatsanwaltschaft schicke, dann klopft zwei Stunden später die Polizei bei mir.“ (taz.de vom 27.7.2020)

Sechs Monate später haben die Angehörigen der Opfer, die Überlebenden und Betroffenen von Ferhat, Fatih, Gökhan, Kaloyan, Mercedes, Vili, Nesar, Hamza und Sedat ihre Erfahrungen und Gedanken zusammengefasst:

 

“Wir erfahren nach und nach, was vor dem 19. Februar passierte, welche Warnungen nicht ernst genommen wurden und dass viele Polizisten – vor allem in Kesselstadt – seit Jahren lieber unsere Kinder und Freunde schikanieren, statt ihrer Pflicht nachzukommen, Nazis die Waffen wegzunehmen und für die Sicherheit für jeden zu sorgen. Ja, wir erfahren, dass sich hier niemand um den Schutz von jungen Menschen sorgt, die eine Migrationsgeschichte haben.

Wir recherchieren und ermitteln selbst. Jeden Tag. Wir rekonstruieren nicht nur die Tatnacht, sondern auch die Jahre davor und finden immer mehr behördliches Versagen. Offene Fragen werden nicht beantwortet und wir erleben die blinden Flecken im sogenannten sozialen Rechtsstaat.

Wir kämpfen seit jenem Tag. Und wir werden nicht aufhören. Denn in den letzten 5 Monaten wurde viel versprochen und wenig geliefert. Wir lassen uns nicht stumm stellen und wir geben uns mit Beileidsbekundungen und warmen Worten nicht zufrieden. Der Rassismus ist nicht verschwunden, nur weil Politiker dieses Mal das Problem nicht mit Schweigen, sondern mit Reden unter den Teppich gekehrt haben.

Unsere Frage an die Politik und die Behörden: Worauf wartet ihr eigentlich, wenn nicht auf den nächsten Anschlag?

Heutzutage ist es bereits ein Erfolg, dass die Tat als das anerkannt wird, was sie war: Purer Rassismus. Kein verwirrter Einzeltäter. Wie viele Hinterbliebene mussten selbst Jahrzehnte um diese Benennung kämpfen! Doch das reicht uns nicht. Wir wollen Taten sehen. Wir wollen, dass Hanau keine Station von vielen ist, sondern die Endstation. Wir sagen ein halbes Jahr danach: Es muss sich endlich nicht nur etwas, sondern vieles in diesem Land ändern.

(…) Wir fordern eine Entnazifizierung des Bundestags, der Behörden und Institutionen und die Entwaffnung aller Rassisten in diesem Land.

Wir fordern den Rücktritt des Hessischen Innenministers Beuth, dem das Versagen der Behörden vor, während und nach dem 19. Februar 2020 bewusst und bekannt war, und der es bis heute immer noch schön redet.

Wir fordern den Rücktritt aller Verantwortlichen, die lebensbedrohliche Informationen und Warnsignale für jede Form von terroristischen Anschlägen ignorieren oder verschweigen.

(…) Wir haben uns ein Versprechen gegeben: Nie zu vergessen und nie zu vergeben. Solange nicht lückenlos aufgeklärt wird, solange nicht endlich Konsequenzen gezogen werden und es Gerechtigkeit gibt, solange werden wir nicht aufhören zu kämpfen. Denn wer sich mit Hanau angelegt hat, hat sich mit der falschen Stadt angelegt. Wir werden keine Ruhe geben.” (Hanau am 19. Juli 2020. Aufruf der Angehörigen der Opfer; die Überlebenden und Betroffenen)

https://19feb-hanau.org/

Der Mordanschlag in Hanau am 19. Februar 2020 und das Trauerspiel an Verlogenheit – bis heute.

Mely Kiyak hat bereits zum NSU-Komplex ausgezeichnete, bissige Kolumnen in der Frankfurter Rundschau geschrieben. Sie unterscheiden sich auf wohltuenste von all den wohltemperierten „Analysen“ und Stellungnahmen, die man nach solchen schrecklichen Taten zu hören bekommt: Man ist entsetzt, schockiert und bedauert bis zum geht-nicht-mehr, um dann Maßnahmen und Konsequenzen zu fordern, die einer Vertuschungstat gleichkommen:

„Es war irgendwann im Laufe des Vormittags, am Donnerstag, als bereits klar war, dass die neun Opfer, die am Abend zuvor in Hanau erschossen worden waren, das Werk eines Rassisten sind, der sein Volk und Land von „Ausländern“ säubern wollte. Da stand Robert Habeck, Vorsitzender der Partei ‚Die Grünen‘, vor den Kameras und sprach den für diese Situationen üblichen Text, „Heute ist ein Tag der Trauer und des Zorns“, etwas in dieser Art, „Gedanken, Mitgefühl, Angehörige“. Man kennt diese Sätze, er kennt diese Sätze, alle kennen sie. Da verpasste es Phoenix, der Parlaments­kanal des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die Übertragung zu unterbrechen, und sendete noch drei oder vier Sekunden weiter. Habeck beendete sein Statement, fiel zurück in seine normale Körperhaltung, verwandelte sich gewissermassen vom Parteichef Habeck zum Menschen Habeck und fragte gelangweilt routiniert in die Runde der Pressevertreter, in deren Mikrofone er gerade gesprochen hatte: Alle glücklich? Alles drauf? Es waren genau die drei oder vier Sekunden, die alles zur Schau stellten; diese nur noch zum Ritual verkommene öffentliche Beileidsbekundung, die parlamentarische Pietät eines Trauerprotokolls, das sich niemals auch nur einen Hauch von der Beileids­bekundung beim Terrorakt zuvor unterscheidet, das perfekte Ineinander­greifen einer öffentlichen Übung namens „Entsetzen äussern und Massnahmen ankündigen“.

Trauerbekundungen … Heimatminister Seehofer …. hessischer Ministerpräsident Bouffier 2020

Es war nicht nur Habeck, der an diesem Tag den Theatertext „Trauer“ sprach, das gesamte Spitzenpersonal, alle prominenten politischen Stimmen äusserten sich im Chor des immer gleichen weichgespülten rhetorischen Requiemrepertoires, gefällig und mehrheitsfähig. Sogar ein AfD-Abgeordneter, keine Ahnung, wie er heisst, war allen Ernstes schockiert und aufgewühlt, denn der Cousin seines Schwagers hat eine Katze, die lief an der Shisha-Bar, also einem der Tatorte vorbei, oder so ähnlich, mit anderen Worten, er kannte da welche, die welche dort kannten, und deshalb: Fassungslosigkeit.

Andere, wie Bundesministerin Julia Klöckner oder der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier, in dessen Bundesland das Attentat geschah, versuchten die dramatische Dimension des Ereignisses zu betonen, indem sie daran erinnerten, dass das blutige Massaker „ausgerechnet an Weiberfastnacht“ stattfand. AUSGERECHNET AN WEIBERFASTNACHT!!

(…) An diesem Donnerstag direkt nach der Tat, als der Täter bereits bekannt war, nicht aber die richtige Zuordnung der Opfer (Ausländer, Kurden, Türken, Fremde, Shishas – im Magazin ‚Focus‘ war nämlich die Rede von „Shisha-Morden“), an diesem Tag der permanenten quälenden Vermutung, dass unter den Opfern „unter Umständen sogar ausländische Staatsbürger“ sind (dabei ist die Sache sehr einfach, die Toten waren ausnahmslos alle Hanauer Bürger), an diesem Tag also beschloss das hessische Parlament, seine Sitzung ausfallen zu lassen. Denn für diesen Tag, so die lange zuvor festgelegte Tagesordnung, waren „harte Auseinandersetzungen“ geplant gewesen, wie die Parlamentskorrespondentin auf Phoenix erklärte. Es sollte nämlich auch um Fragen der „Abgrenzungen nach rechts gehen“ und das wäre vielleicht alles „etwas hart“ und unpassend, so bemerkte die Sprecherin, und man begriff, dass die Abgrenzung nach rechts angesichts eines Attentats von stramm­rechts an einem solchen Tag doch nur dann als unangemessen gelten kann, wenn sie, wie an anderen Tagen und in anderen Jahren auch, von bestimmten Parteien nicht formulierbar und also nicht vorhanden ist.

Da war man als Zuschauerin doch etwas betrübt. Weil man natürlich etwas naiv davon ausging, dass, wenn ein deutscher Rechtsextremist Bürger aufgrund ihrer Haar- und Hautfarben tötet, die Frage nach Abgrenzungen gegen rechts eigentlich ziemlich einfach und dringend zu beantworten ist. Wenn nicht an diesem Tag, wann dann?

Am Abend schliesslich, in der politischen Talkshow des ZDF, sass ausnahmsweise mal nicht das übliche Personal, woraufhin sich Parlaments­präsidentin Claudia Roth freudig dafür bedankte, „dankenswerter­weise mal nicht im Schützen­graben zu sein“. Normalerweise sind stets die ganzen Rechtsaussen-Showelemente aus dem bürgerlich-extremistischen Lager dabei, wenn über Türken, Muslime, Araber, Islam, Flüchtlinge, Integration, Shisha-Bars diskutiert wird. Und wieder schaute man, dachte man vor sich hin und lernte: Merke, der Moslem muss erst tot sein, damit auf Thilo Sarrazin, Hans-Georg Maassen, Wolfram Weimer, Wolfgang Bosbach, Philipp Amthor, Rainer Wendt und dieses ganze Personal verzichtet wird, dessen Kompetenz darin besteht, erstens gegen den Moslem und zweitens gegen Merkel zu sein.

Und das versteht man doch irgendwie gar nicht. Niemals gibt es im deutschen Fernsehen eine Diskussion über „Araber und Migranten“, ohne dass nicht einer von denen dabei ist und von Koranexegese bis Altarabistik das ganze Feld beherrscht – und da verzichtet man ausgerechnet an einem solchen Tag auf deren Expertisen? Schreiben sie nicht seit Jahren Kolumnen und Gastbeiträge für Springers ‚Die Welt‘, treten in deren Fernsehkanal auf und wissen immer zu berichten, dass sich in Shisha-Bars kriminelle Muslime aufhalten? Wir wissen so wenig über die Opfer. Warum lässt man jetzt nicht Rainer Wendt sprechen, vielleicht weiss der was! Waren das Kriminelle? Haben die das vielleicht verdient?

Wie irritierend! Da haben sie sich in den Medien seit Jahren einen Expertenpool aufgebaut, dessen Mitglieder über alle Aspekte eines Ausländerlebens Bescheid wissen, und dann will man an so einem Abend deren Expertisen nicht zur Kenntnis nehmen?

Denn andere Frage: Worin besteht der qualitative Unterschied zwischen dem Denken des Attentäters, der Muslime als minderwertige Rasse erachtete und sich vor einer Umvolkung, also der Abschaffung Deutschlands, fürchtete, und einem Thilo Sarrazin, der in seinem durch ‚Spiegel‘ und ‚Bild‘-Zeitung mit Vorabdrucken gewürdigten Standardwerk findet, dass sich Deutschland abschaffe, also umvolke, indem es tatenlos zusehe, wie minderwertige Muslime ihre minderwertige DNA vermehren? Wo ist der Unterschied?, frage ich.

Wo? Hätte Sarrazin an diesem Abend nicht die Position des Attentäters etwas herausarbeiten und erklären können? Ja, sogar müssen? Warum sollte an diesem Tag keinen Bestand haben, was sonst Gültigkeit hat? Müsste nicht gerade jetzt zwingend einer von den Neofaschisten, Rassisten und anderen Bescheidwissern mitdiskutieren? Ansonsten gern diskutierte und gesendete Aspekte sind nun fehl am Platz, weil die, über die man seit Jahrzehnten „Islamkritik“ betreibt, jetzt tot sind?

Wohltemperierte Grausamkeit“, paraphrasiert Björn Höcke in seinem Buch, es bedürfe im Umgang mit muslimischen Minderheiten einer „wohl­temperierten Grausamkeit“. Warum dürfen er und seine Kollegen an diesem Tag nicht bei Maybrit Illner über temperierte Grausamkeit diskutieren?

Die Sicherheitsbehörden sprechen von 30.000 Rechtsextremisten, die Hälfte gewaltbereit, viele in organisierten, bewaffneten Strukturen. Sie sind überall. In der Armee, in der Polizei, im Verfassungs­schutz, in den Sicherheits­behörden. Gerade letzte Woche wurde die „Gruppe S.“ verhaftet. Ein ehemaliger Polizist – oder wie die ‚Bild‘-Zeitung ihn nannte: „der Terrornazi mit dem Sepplhut“, als handle es sich um einen Neonazi-Comic –, der ehemalige Polizist also plante mit anderen zusammen Anschläge auf Moscheen mit Betenden darin. Davor wurde ein anderer Polizist verhaftet. Und davor ein anderer. Und davor ein anderer. Und so ist das immer. Man verliert sogar als politischer Beobachter langsam den Überblick.

Aber das Theater, das muss man bewundernd anerkennen, funktioniert. Sparsamer Trauermodus. Sie haben es einfach drauf, die Medien und die Parteien, das muss man ihnen lassen. Innerhalb von Minuten schalten sie auf den Drama-Modus. Das funktioniert alles vorzüglich. Und mehr gibt es im Moment nicht zu sagen.

Selam. Ihre Kiyak“

„Das Schweigen der Vielen darf nicht zur Ermutigung weniger werden“ (Volker Bouffier)

Am 5. März 2020 fand eine Trauerfeier in Hanau statt. Dort hatte ein Neonazi neun Menschen ermordet, die für ihn nicht zu Deutschland gehören, Ausländer, also das, was er zu „Ausländern“ macht. Zu dieser Trauerfeier waren 650 Menschen geladen, unter anderem der hessische Ministerpräsidenten Volker Bouffier.

Dort wollte er Folgendes loswerden:

„Das Schweigen der Vielen darf nicht zur Ermutigung weniger werden.“

„Die Angst darf nicht obsiegen.“ (faz.net vom 4.3.2020)

„Bouffier suchte in seiner Rede nach dem Warum. “Darauf gibt es keine befriedigende Antwort”, so Bouffier. “Und ich weiß, dass nun auch die Angst zu diesem Gefühl hinzugetreten ist. Die Angst davor, ein weiteres Opfer rassistischer Taten zu werden. Es müsse früher und schneller erkannt werden, wann sich ein Täter radikalisiert und wie er in den Besitz von Waffen kommt. Zudem brauche es Entschlossenheit und dauerhaftes Handeln, um in Zukunft Taten wie diese frühzeitig verhindern zu können.“ (rtl-hessen.de vom 4.3.2020)

Volker Bouffier war hessischer Innenminister, als der Mord in Kassel 2006 passierte. Er war also Dienstvorgesetzter des Verfassungsschutzes und wusste ganz genau, warum er die polizeilichen Ermittlungen sabotierte. Wenn jemand die Frage: Warum? beantworten kann, dann er.

Wieviel Kassel 2006 steckt in  Kassel 2019, wieviel Kassel 2019 in Hanau 2020?

Kann er sich wirklich nicht daran erinnern, als der neonazistische Mord in Kassel 2006 an Halit Yozgat als Mordtat unter kriminellen Ausländern gehandelt wurde? Hat sich damals der Innenminister gegen diese doppelte „Hinrichtung“ gestellt? Oder hat er alles dafür getan, dass ein neonazistischer Hintergrund nicht aufgeklärt werden konnte?

Wie kann sich der heutige Ministerpräsident in Hanau hinstellen und „Entschlossenheit“ und „dauerhaftes Handeln“ einfordern, ohne rot zu werden? Die einzige Entschlossenheit, die er und seine Regierung an den Tag legen, ist die Tatsache, die Aufklärung der Mordumstände in Kassel 2006 jahrzehntelang für geheim zu erklären! Das ist das „dauerhafte Handeln“, das diese Regierung auszeichnet!

Wenn Trauer, Worte und Handeln wirklich etwas miteinander zu tun haben würden, dann wäre die erste und überfälligste Antwort, die geheim gehaltenen Akten und Berichte öffentlich zugänglich zu machen.

Und was könnte er noch veranlassen bzw. die schwarzgrüne Regierung, die er anführt? Ganz einfach:

Er könnte veranlassen, dass die „verschwundenen“ Akten zum Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner, die von Andreas Temme angefertigten Treffberichte aus dem Jahr 2006 wiederauftauchen!

Und er könnte dafür sorgen, dass man Janine Wisslers Äußerungen auf den Grund geht, die sie in einem FR-Interview gemacht hat:

„Der mutmaßliche Mörder, Stephan E., war ein bekannter Neonazi, der mehrfach mit schweren Straftaten in Erscheinung getreten ist, über den es auch Akten gab im Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz. Wir haben explizit nach Stephan E. gefragt im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss, weil wir schon damals vermuteten, er könnte zum Unterstützerumfeld des NSU in Kassel gehört haben. Man muss fragen: Warum hat man Stephan E. nicht mehr auf dem Schirm gehabt? Warum ist die Akte verschwunden? Warum ist die Akte nicht an den Untersuchungsausschuss gegeben worden?“ (FR vom 09.03.2020)

Anstatt sich kurz unter die Opfer zu mischen, könnte dieser Ministerpräsident dafür sorgen, dass auch diese Akten „wiederauftauchen“.

Und falls der Ministerpräsident und seine Regierung nicht wissen, wo anfangen, wenn es darum geht, „Entschlossenheit“ zu zeigen, dann könnten sie das „neue“ hessische Verfassungsschutzgesetz umgehend rückgängig machen, das unter dem fadenscheinigen Vorwand „reformiert“ wurde, aus den „Pannen“ zu lernen. Das einzige, was damit erreicht wurde, ist das Kriminalitätspotenzial des Verfassungsschutzes zu erhöhen bzw. zu legalisieren, worauf auch Janine Wisslers, Vizevorsitzende der Partei DIE LINKE, in besagtem Interview eingeht: „Die Zusammenarbeit mit kriminellen V-Männern wurde legalisiert. Die Kontrolle des Verfassungsschutzes wurde nicht verbessert, sondern verschlechtert.“ (s.o.)

Wenn man weiß und sich ganz sicher sein kann, dass all das nicht passieren wird, dann versteht man, wie unerträglich es ist, diesen Satz aus dem Munde dieses Ministerpräsidenten zu hören:

„Das Schweigen der Vielen darf nicht zur Ermutigung weniger werden.“

Gibt es ein größeres Schweigen, als das, das diese hessische Landesregierung unter Bouffier zelebriert, wenn es um die gezielte Unterschlagung von Spuren und Hinweisen geht, die in Kassel 2006 über das NSU-Trio hinausweisen und im Mordfall Lübcke 2019 über den „Einzeltäter“ Stephan Ernst?

Genau dieses Schweigen zielt doch seit Jahren darauf ab, die „Wenigen“ zu entmutigen, auf deren Seite sich der Ministerpräsident in Hanau für ein paar tele-pathetische Momente stellt. Und wenn er nicht in Hanau ist, tut er und seine Regierung alles, um die „Wenigen“ totlaufen zu lassen, wenn diese auf die ideologischen und personellen Kontinuitäten hinweisen, die die Morde in Kassel 2006 und 2019 miteinander verbinden. Zusammenhänge, die einem geradezu ins Gesicht springen, während die hessische Landesregierung alles dafür tut, erneut zu vertuschen, ein weiteres Mal die vorgetäuschte Ahnungslosigkeit des Verfassungsschutzes in Schutz zu nehmen.

Volker Bouffier will „Taten wie diese frühzeitig verhindern“. Dazu will er noch mehr von dem, was die CDU, die Große Koalition seit Jahren fordert: Mehr Polizei, mehr Befugnisse, mehr Geheimdienst, mehr Kontrolle und Zugriff auf „soziale Medien“.

Das sagt ein Ministerpräsident in einem (Bundes-)Land, das quasi verbeamtete Neonazis, V-Leute, rassistisch motivierte Beamte in Polizei und Geheimdienst einstellt, deckt und beschützt. Bevor Bouffier Jagd auf die Unbekannten macht, die sich möglicherweise radikalisieren könnten, würden es als ersten Schritt vollkommen ausreichen, wenn man mit den bekannten rassistischen Gesinnungen nicht länger paktiert. Dazu muss man nicht in die „sozialen Medien“ ausschwärmen, sondern einfach nur mit offenen Ohren durch die Behördenflure laufen.

Das wäre genau das, was seit Jahrzehnten ausgeblieben ist. Exakt das, was der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der in den 1960er Jahren die Auschwitzprozesse in Frankfurt leitete, auf den Punkt brachte: „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland.“

Solange sich daran nichts ändert, solange daran eisern festgehalten wird, selbst dann, wenn dies einem Regierungspräsidenten das Leben kostet, solle man einem Mann wie Bouffier nicht länger schweigend und höflich zuhören … und ihm keinen Platz unter den „Wenigen“ einräumen.

Es gibt viele politische, gesellschafliche und strukturelle Gründe, warum Neonazismus, Antisemitismus und Rassismus stärker und bedrohlicher werden. Die schwarzgrüne Landesregierung gehört dazu.

Wolf Wetzel

August 2020

Eine leicht gekürzte Fassung findet sich auf Telepolis vom 21.8.2020:

Das Massaker in Hanau. Ein Trauerspiel an Verlogenheit – bis heute. Ein Kommentar:

https://heise.de/-4873668

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