Der Feind steht rechts! Vierter Teil von Emil Goldmann

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Auf dem Weg zum Karfeit?*

„Das italienische Proletariat erlag ohne Kampf. Der Marsch auf Rom verlief, ohne den geringsten Widerstand der Arbeiterschaft zu provozieren. Die Reformisten, die Maximalisten, die Kommunisten waren auf den Marsch auf Rom nicht gefasst. Ihre Überraschung würde in Ermangelung andern Beweismaterials genügen, um zu dokumentieren, wie wenig sie vom Fascismus und von der Nachkriegskrise verstanden hatten. Das italienische Proletariat erschien wie eine Armee, die sich vier Jahre heroisch im Nebel illusorischer Schlachten geschlagen hatte: dort, wo die sozialistischen Pläne Berge anzeigten, waren in Wirklichkeit Seen, und dort, wo es Verbündete gab, zeigten die Pläne Feinde.“ (I. Silone, Der Fascismus, 9.Kapitel, Einheitsfront der Bourgeoisie“, Über die Situation in Italien 1922)

Eigentlich sollte hier der vierte Teil der Artikelserie folgen, die ich unter dem Titel „Der Feind steht rechts!“ nach dem Mord an Walter Lübcke begonnen habe. Allerdings kam ich nicht so weit, ihn zu veröffentlichen, da ich beim Versuch das Jahr 2015 und die sogenannte „Flüchtlingskrise“ zu verstehen und zu erklären in einer Sackgasse gelandet war. Insbesondere wollte ich verstehen, wie sehr diese Ereignisgeschichte ab 2015 die Partei „Die Linke“ paralysiert hat, eine Paralyse, aus der sie sich bisher nur mit kleinen Schritten und schwerem Gang herausarbeitet.

Nun holt auch mich die politische Entwicklung ein, und offensichtlich wird die Wichtigkeit der Fragestellung im letzten (dritten) Teil der Artikelserie Der Feind steht rechts: wer sind unsere Gegner, wer sind Bündnispartner im antifaschistischen Kampf? Die CDU? Die SPD? Die Grünen?

Das parlamentarische Spiel der AfD und die nicht vorhandene Brandmauer

Es ist wie eine Blaupause, wenn man liest, was Mussolini 1921/1922 im italienischen Parlament gemacht hat: sein Ziel war keine Regierung gegen und ohne seine Faschisten zuzulassen, und keine Regierung, die nicht von seiner Partei unterstützt wurde. Angelo Tasca beschreibt ausführlich, wie es Mussolini gelungen ist, die anderen Parteien zu spalten, ihre Flügel gegeneinander auszuspielen, und trickreich jede Regierung, in der die Sozialisten beteiligt wären, zu verhindern. Die Finte der AfD bei der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen ist nur ein kleiner Vorgeschmack von dieser historisch erprobten manipulativen Strategie.

Überraschend ist die „Überraschung“ der antifaschistischen Kräfte – warum glauben sie ihrem eigenen Wissen nicht? Dass es Absprachen gegeben hat, Gedankenspiele, einen CDU-Ministerpräsidenten auch von der AfD wählen zu lassen (ND vom 8./9.2.2020), war bekannt. Bodo Ramelow spricht bei Maischberger von einem Geheimtreffen zwischen AfD und CDU in Erfurt (12.2.2020). Trotzdem hat niemand den Coup geahnt? Oder nicht für möglich gehalten? Was sind die Ursachen dafür? Liegt das ungläubige Staunen Ramelows über Thomas Kemmerich (FDP), der ihn als linksradikalen Extremisten bezeichnet, daran, dass er sich als Landesvater weit in „der Mitte“ sieht? Er gehört doch nicht dazu, obwohl er bei Kemmerichs Karnevalsverein eine Büttenrede gehalten hat, also quasi in der bürgerlichen Wohlfühlatmosphäre mitschunkeln durfte (Spiegel-Interview vom 6.2.2020)?! Beispielhaft auch der Artikel des Geschäftsführers der RL-Stiftung in Thüringen, Paul Wellsow, der alle Hinweise auf den Coup aufzählt, und trotzdem schreibt, „fast alle dachten, die Brandmauer würde halten“ (ak 657, 2.2020) Warum eigentlich? Hatte Die Linke die CDU Thüringen tatsächlich als Teil der Brandmauer gegen die AfD empfunden, oder ist dort, wo die Linke eine Brandmauer vermutet, überhaupt keine? Ist das ein illusorischer Nebel, wie ihn Silone für die italienische Linke beschreibt: wo eine Firewall erhofft wird, ist vielleicht ein weit offen stehendes Tor? Landeschef Mike Mohring hat schon 2014 offen darüber gesprochen, mit der damals noch neuen AfD koalieren zu wollen. Sein Vize in der Fraktion, Michael Heym, sprang ihm schon damals wie 2019 bei. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-12/thueringen-afd-cdu-zusammenarbeit  Drei Tage vor der Abstimmung im Thüringer Landtag veröffentlichte der Leiter des wissenschaftlichen Dienstes der CDU-Landtagsfraktion seine Überlegungen zur bevorstehenden Wahl (Tagespiegel, 8.2.2020). Er versucht genau dem Szenario der Zustimmung der AfD zu einem Kandidaten der „bürgerlichen Mitte“ demokratische Legitimation zu verleihen. https://www.theeuropean.de/karl-eckhard-hahn/steht-die-wahl-von-bodo-ramelowauf-verfassungsrechtlich-schwankendem-grund/

Dieser Karl Eckehard Hahn ist kein unbeschriebenes Blatt in der Thüringer CDU, er entstammt der neurechten Strategie der 90er Jahre, die CDU von innen zu beeinflussen. Während seines Geschichtsstudiums war Hahn in die völkisch geprägte Hochschulgilde Trutzburg Jena zu Göttingen eingetreten. Manche Gildenbrüder und -schwestern machten damals bei den Republikanern oder der NPD-Jugend mit. Zuvor hatte Hahn bereits in der nationalistischen Jugendzeitschrift Phönix in Goslar publiziert. Auch in den stramm rechten Blättern Criticón und Ostpreußenblatt veröffentlichte Hahn; Chefredakteur von Letzterem war der 1912 geborene NS-Publizist Hugo Wellems. Bis mindestens 2003 war er, längst Staatsdiener, im Dachverband seiner Göttinger Studentenverbindung aktiv, der Deutschen Gildenschaft (DG), deren Vorstandsmitglied er auch heute noch ist. Diese Organisation ist fast nur Eingeweihten bekannt, unter den Korporationsverbänden gehört sie zu den kleinsten. “Die Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum”, heißt es in den Statuten, sei “der naturgegebene und innerlich bejahte Ausgangspunkt” von Politik. Burschenschaftler, Autor und Gründer der Etappe, einem Theorieorgan der neuen Rechten, Zutaten wie aus dem Lehrbuch antifaschistischer Recherche über die politischen Soldaten des völkischen Nationalismus. Hahn, der aus Hessen stammt, wurde 2013 Regierungssprecher der CDU/SPD-Regierung unter Christine Lieberknecht in Thüringen. Ein alter DG-Bekannter Hahns tauchte vor Jahren schon in seinem politischen Wirkungsfeld auf: Karlheinz Weißmann, Mitglied der Gildenschaft und Mitgründer des neurechten Instituts für Staatspolitik. In der Vortragsreihe „Ettersburger Gespräche“, die das thüringische Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten organisierte, trat Weißmann 1992 und 1994 als Referent auf. Damals stand Lieberknecht dem Ministerium vor. An ihrer Seite als Referent Hahn, der 1992 selbst an den Gesprächen teilnahm. Der Dokumentation von 1994 ist auch zu entnehmen, dass Hahn das Gespräch mit organisierte. Er ist einer der vielen Hessen im Aufbau-Ost für Thüringen, die dort  Karriere machten. Unter Ministerpräsident Walter Wallmann, CDU (1987 bis 1991) mit seinem Staatssekretär Alexander Gauland (in der Staatskanzlei) und später, 1999, nach Roland Kochs Wahlsieg wurde eine „Rechtsconnection“ zwischen den beiden Bundesländern personell verifizierbar.

Zum Beispiel war da Wolfgang Egerter, von 1990 bis 1992 Thüringer Staatssekretär für Bundes-und Europaangelegenheiten, danach persönlicher Berater des Thüringer Ministerpräsidenten Bernhard Vogel bis 2004, von 1972 bis 1988 Vorsitzender der Deutschen Gildenschaft, stellvertretender Vorsitzender des völkischen Witikobundes bis 1986 (Organisation innerhalb der Sudetendeutschen Landsmannschaft). Oder Karl-Heinz Gasser aus der Gießener Anwaltskanzlei, Partner von Volker Bouffier war unter Walter Wallmann aufgestiegen, 1990 beim Aufbau Ost erst Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten geworden, und 2004 Thüringer Innenminister. Er war Dienstherr eines Polizeibeamten, René Strube, der einen Nordhausener Antifaschisten erschossen hat, René Bastubbe. René Bastubbe machte Zivildienst in der nördlich von Nordhausen gelegenen Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mittelbau-Dora, leitete dort Führungen und lernt den ehemaligen KZ-Häftling Willi Frohwein kennen, der nicht nur Mittelbau-Dora, sondern auch Ausschwitz überlebt hat. René Bastubbe beschäftigt sich intensiv mit der Zeit des Nationalsozialismus. Willi Frohwein hält bei der Beerdigung von Rene Bastubbe eine Rede. Der Todesschütze, René Strube wurde von der Gießener Anwaltskanzlei verteidigt, in der Gasser (gleichzeitig sein Dienstherr als Innenminister), Bouffier und andere zusammenarbeiteten, im Verfahren, bei dem der Polizeibeamte freigesprochen wird  http://www.rolf-goessner.de/FRTodesschusse.htm . Der Höcke-Anhänger René Strube kandidierte 2019für die AfD Thüringen für den Landtag. http://www.wahrschauer.net/42-news-slider-kategorie/837-polizei-todesschuetze-kandidiert-fuer-hoecke-afd

Bouffier ist 2006 verantwortlich für die Vertuschung der Verwicklung des hessischen Verfassungsschutzes (Temme) in die NSU-Morde, während in Thüringen unter Gassers Aufsicht der Verfassungsschutz den Escortservice des NSU betrieben hat; der V-Mannführer von Tino Brandt (GdNF, NB, Nation Europa, NPD, Thüringer Heimatschutz, NSU), Norbert Wießner, kam vom hessischen Verfassungsschutz nach Thüringen. Der ehemalige Verfassungsschutzchef von Thüringen (1994 bis 2000) Helmut Roewer (vor 1994 im Bundesinnenministerium (Abt. VS unter Manfred Kanther, der damals gleichzeitig Landesvorsitzender der hessischen CDU war) arbeitet heute mit Compact, der Jungen Freiheit und der AfD zusammen, referiert bei Burschenschaften und im Studienzentrum Weikersheim. Aber auch ohne zugewanderte Westdeutsche hat die CDU Thüringen auffällig viele Scharniere zwischen Konservativismus und völkischem Nationalismus: Christian Sitter, Landesvorsitzender der Werteunion in Thüringen, soll nach „Spiegel“-Information schon früh Verbindungen in die rechte Szene gehabt haben. Demnach war er von 2010 bis 2015 Fördermitglied des Vereins, der das neurechte Magazin „Blaue Narzisse“ finanziert. Auf Anfrage teilte Sitter dem „Spiegel“ über den Pressesprecher der Werteunion mit, dass er 2015 sofort ausgetreten sei, nachdem er gelesen habe, „dass der Vereinsvorsitzende sich bei Pegida Dresden engagiert“. Oder Peter Krause, 2002 Redakteur der Jungen Freiheit, der 2008 thüringischer Kultusminister werden sollte, schrieb Artikel für das Ostpreußenblatt und welche Überraschung, für Die Etappe. Zwischen 1998 und 2004 war er wissenschaftlicher Referent von Vera Lengsfeld (CDU) im deutschen Bundestag, 2004 kam er Landtagsabgeordneter der CDU in den Thüringer Landtag. Ist das die antifaschistische Brandmauer gegen die AfD?

Die Sicherheit, in der sich DIE LINKE anscheinend gewogen hat, kann ich mir nur erklären, wenn der Einfluss der Bundespartei auf die CDU Thüringen überschätzt wurde.

Ich habe mich nur sehr kurz mit der CDU in Thüringen befasst, nur diese kurzen Informationen, die eine vertiefte Analyse und Recherche nicht ersetzen, machen eine gewisse Systematik im „Aufbau Ost“ von rechts deutlich. Dies betrifft nicht nur Thüringen: ein Beispiel aus Sachsen kann ich nicht unterschlagen, da es so bilderbuchhaft eine „Karriere“  eines rechtsradikalen Spitzenfunktionärs bis zur CDU erzählt: es ist die des Notars Alfons Hueber, Migrant aus Hessen in Chemnitz, dort als Notar ansässig und Vorsitzender des Chemnitzer FC bis 2003. Heute CDU-Mitglied in Sachsen, nach einer Station bei den Republikanern, der Burschenschaft Danubia, Bundesvorsitzender der Jungen Nationaldemokraten 1971 bis 1973, hessischer Vorsitzender des Witikobundes, im Beirat der Gesellschaft für freie Publizistik, einer faschistischen Kulturvereinigung und Hintergrundorganisation, Vorsitzender des antikommunistischen Bundes freier Juristen. Und er ist heute in der Chemnitzer Wirtschafts– und Mittelstandsvereinigung aktiv. Unter seiner Ägide als Aufsichtsratsvorsitzender des Chemnitzer FC arbeitete die Securityfirma des militanten Nationalsozialisten Thomas Haller für den Verein, ein Gründer der berüchtigten HooNaRa (Hooligans, Nazis, Rassisten). Haller hatte 2006 die Gründung der Chemnitzer Fangruppen „NS Boys“ und „Kaotic“ mit­angestoßen. Die Gruppen waren im Sommer 2018 an den Ausschreitungen in der sächsischen Stadt beteiligt gewesen. In den Ermittlungen zum NSU taucht Haller mehrmals namentlich auf. In Chemnitz stellte die Szene dem NSU-Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe die erste Wohnung zum Untertauchen. Die Wohnung vermittelte Thomas Starke, Hallers Name findet sich in dessen Adressbuch. Hallers Name fand sich zudem in weiteren Handyspeichern von anderen NSU-Unterstützern. Es ist der Thomas Haller, der nach seinem Tod im März 2019 im Stadion des Chemnitzer FC geehrt wurde. Witikobund, Landsmannschaften und Vertriebenenverbände, Burschenschaften, neurechte Zeitschriften wie die Junge Freiheit, Blaue Narzisse, Criticon, die Etappe, Ostpreußenblatt, es fallen immer die gleichen Namen von Organisationen: Auf dem Weg zur Habsburger Front?

Eine alte antikommunistische Koalition in neuen Gewändern

Einigendes Moment des Rechtspaktes im Thüringer Parlament war, eine linke Regierung zu verhindern. Es ist nötig weit zurückzugehen, um Beispiele zu finden, wie die CDU eine Zusammenarbeit mit einer faschistischen Partei praktizierte. Da ist einmal die Integrationsstrategie, die die CDU gegenüber rechten Parteien betrieb, bekanntestes Beispiel ist Theodor Oberländer vom BHE, der in Adenauers Kabinett Bundesminister für Vertriebene wurde (1953-1960). Er war Teilnehmer am Hitlerputsch 1923, Mitglied im Bund Oberland und im Deutsch-Völkischen Trutz-und Schutzbund (siehe auch Teil 1, Der Feind steht rechts). Als Offizier der Einheit Nachtigall wird eine Beteiligung Oberländers am Massaker in Lemberg vermutet. 1958 trat er wieder bei der Deutschen Gildenschaft ein, in den 1970er Jahren engagierte sich Oberländer in der Gesellschaft für freie Publizistik und im Verein für das Deutschtum im Ausland. 1981 trat er als Mitunterzeichner des Heidelberger Manifestes in Erscheinung, das sich gegen eine weitere Zuwanderung nach Deutschland aussprach.

Die andere Strategie der CDU im Umgang mit konkurrierenden antikommunistischen Parteien war die punktuelle Zusammenarbeit selbst mit der NPD, die 1969 den Kandidaten der CDU für das Amt des Bundespräsidenten Schröder in der Bundesversammlung mit wählte. Oder wie 1972, der Kandidatur-Rückzug der NPD in Baden-Württemberg zugunsten der CDU, den die Parteien in geheimen Verhandlungen ausgehandelt hatten.

1972 sollte der SPD-Kanzler Willi Brandt gestürzt werden, der CDU waren dabei „alle Hilfstruppen“ recht („Mit Hilfstruppen darf man nicht zimperlich sein“ Franz Josef Strauß, CSU). Besonders interessant ist dabei die Zusammenarbeit mit einer erprobten Riege aus dem Propagandaministerium Joseph Goebbels, dem ehemaligen Naumann-Kreis innerhalb der FDP. Für das Misstrauensvotum gegen Brandt hatte die CDU/CSU vier Abgeordnete aus der FDP/SPD-Koalition herausgelöst. Die damalige heimliche Koalition zur Beseitigung der SPD/FDP-Koalition verglich Bernt Engelmann mit der Harzburger Front (Das schwarze Kassenbuch – die heimlichen Wahlhelfer der CDU/CSU), sie ist deswegen interessant kurz zu streifen, weil ähnliche Organisationen auftauchen, die bei der jetzigen völkischen Vernetzung mitwirken – der Unterschied zu heute, die „nationalsozialistische Erlebnisgeneration“ saß zusammen am Tisch. Nicht nur die Finanziers selbst waren in der SS und NSDAP Mitglied: z.B. Daimler Benz mit Vorstandmitglied Hanns-Martin Schleyer, ehemaliger SS-Hauptsturmführer, 1944 SS-Führer beim Reichssicherheitshauptamt (der mit einem Naumann-Kreis-Mitglied, dem ehemaligen SS-Obergruppenführer und Reichsstudentenführer Gustav Adolf Scheel befreundet war) – oder Horst Bentz (Melitta-Werke, SS-Obersturmführer, im SD Himmlers) – oder im Fördererkreis der NSDAP waren wie Friedrich Flick (Flick AG, Großaktionär bei Daimler-Benz, im Freundeskreis Reichsführer SS) oder August Finck Senior (Münchner Rück, Privatbank Finck, Allianz AG – Finanzier Hitlers seit 1931). Schleyer wurde von Dr. Burneleit protegiert, dem langjährigem Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung von Daimler-Benz, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands in der Landsmannschaft Ostpreußen (und Vorstandsmitglied der Deutschland-Stiftung z.B. mit Karl Friedrich Grau, CDU, der wegen Kontakten zur NPD 1974 ausgeschlossen wurde). Burneleit arbeitete mit Hugo Willems in der Landsmannschaft zusammen, der 1936 Referent im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und 1944 Leiter des Reichspropagandaamtes in Kowno gewesen ist. Hugo Wellems war nicht nur Leiter des Ostpreußenblattes, sondern mit seiner Wochenzeitschrift Das deutsche Wort seit 1970 zu einer Kopfblatt des CSU-Organs Bayernkurier geworden, eng vertraut mit Siegfried Zoglmann, einer der Überläufer aus dem rechten Flügel der FDP, ehemals HJ- Amtsleiter der Reichsführung und später Abteilungsleiter des Reichsprotektors Böhmen, Mitglied der Leibstandarte Adolf Hitler der SS, Untersturmführer, später führender Funktionär der Sudetendeutschen Landsmannschaft und des Witikobundes. Einer der Beteiligten aus der Landsmannschaft Ostpreußen, der Immobilienmakler Horst Frischmuth gehört laut konkret 26/1972 „zu einem Kreis von alten Nazis, der Verbindungen zu anderen Altnazis hat. Dazu zählen Mussolini-Befreier (SS-Standartenführer) Otto Skorzeny, der belgischen SS-Division Flandern Leon Degrelle, und dem Antwerpener Kaufmann Geerts. Frischmuth kennt auch die alte Truppe aus dem Reichspropagandaministerium, für das…auch Hugo Wellems, Dr. Eberhardt Taubert … und Springer-Autor Paul Schmidt alias Carrell (SS-Obersturmbannführer, Leitung der Presseabteilung des Außenministeriums; Schmidt war sowohl 1979 Gründungsmitglied des rechtskonservativen Studienzentrums Weikersheim (SWZ) als auch der 1993 geschaffenen Hans-Filbinger-Stiftung, die das SWZ maßgeblich finanziell unterstützte) gearbeitet haben, um nur einige aufzuzählen, die sich heute um die Demokratie in der Bundesrepublik sorgen.“ Zu den Förderern der antikommunistischen Kampagne gegen die SPD/FDP-Koalition zählte auch Dr. Fritz Ries, Arisierungsgewinner und Auschwitzprofiteur, Besitzer der Pegulanwerke, befreundet mit Franz-Josef Strauß, Richard Stücklen, Alfred Dregger, mit Hanns Martin Schleyer aus Studienzeiten in Heidelberg vom Corps Suevia bekannt, dessen persönlicher Berater oben erwähnter Eberhardt Taubert war: ehemals Ministerialrat im Propagandaministerium, Chefideologe gegen das „bolschewistische Untermenschentum“, Mitverantwortlicher für den Hetzfilm „Der ewige Jude“, als Richter am Volksgerichtshof beteiligt an Todesurteilen gegen in – und ausländische Widerstandskämpfer. Unterstützt wurde die Kampagne vom who is who des deutschen Kapitals und Adels, Flick, Daimler, Quelle, Asbach, Eckes, Quandt, Thurn und Taxis, zu Guttenberg, Fürst zu Leiningen, Steigenberger, Farbwerke Höchst, Commerzbank, DEGUSSA, Kalle-AG, Bentz (Melitta, Granini), August von Finck und viele andere mehr, die geschätzt nur für zentral geschaltete Anzeigen 34 Millionen, insgesamt jedoch bis zu 165 Millionen DM aufbrachten. Dieses politische Bündnis gegen die sozialliberale Koalition kann nur schlecht mit Weimar („Harzburger Front“) verglichen werden, auch wenn Erinnerungen an die Rolle der besitzenden Klasse bei der Faschisierung 1929 bis 1933 wachgerufen wurden, und obwohl mit Privatbankier August von Finck ein früher Hitler-Bewunderer und Finanzier der NSDAP und dann Arisierungsgewinner in diesem Rechtskartell dabei war. Sein Sohn, der Milliardär August Finck Junior, gehört heute zu den Finanziers der AfD. Die „alten Kameraden“ waren 1972 nur in der zweiten Reihe tätig, vermieden jeden Eindruck antidemokratisch oder republikfeindlich zu sein, und traten anders als die Harzburger Front nicht öffentlich gemeinsam auf. Ziel war nur, Rainer Barzel von der CDU/CSU „mit allen Mitteln“ zum Kanzler zu machen, und keinen politischen Umsturz herbeizuführen. Aber auch die Harzburger Front hatte als erstes Ziel die Regierung Brüning zu stürzen, genau wie gegen Brandt 1972 gab es 1931 einen Misstrauensantrag gegen den Kanzler der Zentrumspartei, den dieser jedoch überstand. Der Geheimkomplott 1972  ist auch dank der umfassenden Gegenaufklärung einiger Medien (Spiegel, konkret, FR) und Journalisten wie Bernt Engelmann misslungen, Willy Brandt blieb Kanzler. Der Vergleich zu heute ist statthaft, da es heute wieder darum ging, mit Bodo Ramelow einen populären Linken zu stürzen. Aus heutiger Sicht mag diese Schilderung des geheimen Rechtskartells zu Beginn der 1970er Jahre eine lange zurückliegende Episode bundesdeutscher Geschichte zu sein: dass diese geheimen Verbindungen nicht mit 1972 endeten, dafür stehen zwei Namen exemplarisch: Karl Friedrich Grau, Mitglied des „Deutschen Priorat des Tempelherren-Ordens e. V.“, Gründer der Studiengesellschaft für staatspolitische Öffentlichkeitsarbeit e. V.“ und der  Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft (SWG), eine bis heute aktive Scharnierorganisation der neuen Rechten, Mitbegründer der Deutschlandstiftung und Generalsekretär der Paneuropa-Union. Grau hat bis in die frühen 80er Jahre für die CDU insbesondere für die CDU Hessen illegale Spenden  zum Beispiel der Flick AG oder  Axel Springer über seine Vereine gesammelt. Diese Tätigkeiten Graus spielten 1999/2000 eine Rolle in der Schwarzgeldaffäre der CDU Hessen. Ein anderer Name, der für die Fortführung einer Art geheimer Hintergrundorganisation steht, war Wolfgang Diewerge, ein Spezialist des Propagandaministeriums für antisemitische Agitation, SS-Standartenführer, war 1951 persönlicher Sekretär des Landesvorsitzenden der FDP von Nordrheinwestfalen geworden, und war Mitglied des Naumannkreises (Werner Naumann, Staatsekretär von Goebbels, Gründer eines Netzwerks ehemaliger Nationalsozialisten). 1953 wurde er im Zuge der Ermittlungen der Behörden und des britischen Hohen Kommissars der Allierten von der FDP entlassen – Diewerges Verbindungen zur FDP waren nicht abgerissen. Er übernahm 1968 die Geschäftsführung zweier neu gegründeter Vereine: der Gesellschaft für Europäische Wirtschaftspolitik e.V. (GfEW), der Satzung nach ein steuerbefreiter Berufsverband, und des Internationalen Wirtschaftsclubs e.V. (IWC), der als gemeinnützig anerkannt und daher ebenfalls steuerbefreit war. Otto Graf Lambsdorff war stellvertretender Vorsitzender der GfEW, ein weiterer hochrangiger FDP-Politiker, Wolfram Dorn, stellvertretender Vorsitzender des IWC. Wie das Landgericht Bonn 1987, Jahre nach Diewerges Tod, im Urteil gegen Eberhard von Brauchitsch (Geschäftsführer Flick KG, ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender Axel-Springer-Verlag), Hans Friderichs (FDP. Wirtschaftsminister, Dresdener Bank-Vorstand) und Lambsdorff (FDP, Wirtschaftsminister) in der so genannten Flick-Affäre festhielt, verfolgten diese Vereine ihre satzungsgemäßen Ziele nur zum Schein: In Wahrheit dienten sie dazu, steuerbefreite Industriespenden entgegenzunehmen und diese auf Umwegen der FDP zuzuleiten, das heißt, sie betrieben Beihilfe zur Steuerhinterziehung.

Die Beziehungen der CDU/CSU nach ganz rechts waren bis Mitte der 2000er Jahre ein durchgehendes Thema antifaschistischer Analyse, Diskussion und Recherche. Ob in der Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung in den 90er Jahren (Mythos der sauberen Wehrmacht), die doppelte Staatsangehörigkeit 1999, um eine „deutsche Leitkultur“. Die CDU mobilisierte rassistische Stimmungen und völkischen Nationalismus, und bemühte sich gleichzeitig den „Makel des Nationalsozialismus“ abzuschütteln. Warum ist die CDU dann langsam aus dem Fokus antifaschistischer Analyse gerutscht?

Samuel Salzborn schrieb in seinem Buch „Angriff der Antidemokraten“ (2017, S.42), „dass die geistig-moralische Vorherrschaft des rechten Konservativismus in den Unionsparteien nicht nur durch den rot-grünen Regierungswechsel gebrochen wurde, sondern dass der offen rassistische Flügel in der CDU/CSU zunehmend von erneut stärker transatlantisch orientierten Kräften dominiert wurde und insofern auch innerparteilich an Einfluss verlor.“  Ich bin verwundert, gelang es doch der CDU/CSU mit ihrer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft 1999 einen virulenten Rassismus und völkischem Nationalismus zu mobilisieren und die rot-grüne Bundesregierung so unter Druck zu setzen, dass diese nach der verlorenen Hessenwahl schnell auf Rückzug war und Verhandlungsbereitschaft signalisierte. (Klärner, Aufstand des Ressentiments, 2000). Die Gegner der Kampagne waren damals innerhalb der CDU/CSU in der Minderheit. Zweitens, wenn der transatlantische Einfluss so bedeutend wäre wie vermutet, kommt mit der Trump-Wahl 2016 ein ganz anderer Ideologiestrom über den Ozean. Mit den zwei Sätzen Samuel Salzborns kann diese gewechselte Diagnose nicht erklärt werden –  sie ersetzen meiner Ansicht nach keine tiefgehende politische Einschätzung der CDU.

Die CDU stand und steht vor massiven Problemen. Der Katholizismus ist keine gesellschaftlich relevante Basis mehr für eine Wählerbindung, und war es im Osten der Republik nie. Aus der alten konservativen Stammwählerschaft verliert, so der Wahlforscher Jung (siehe unten), die CDU/CSU in jeder Legislaturperiode eine Millionen Wähler*innen durch Versterben, die sie kompensieren muss. Gewinne erzielt die CDU bei den säkularen, unbeständigen und „lagerlosen“ „Wechselwähler*innen der sogenannten Mitte (ein arithmetisches Produkt der Wahlforschung selbst, das den Normalitätsdispositiv der parlamentarischen Demokratie definiert). Um diese Wechselwähler der sogenannten Mitte zu gewinnen war und ist die CDU darauf angewiesen, liberaler zu werden, sich von traditioneller Programmatik zu trennen. Dazu eine Einschätzung des Chefs der Forschungsgruppe Wahlen für die CDU / CSU von 2015, abgedruckt in einer CSU nahen Zeitschrift:  https://www.hss.de/download/publications/PS_460_SPORT_07.pdf

Die CDU hat strategisch bis 2017 gedacht, dass der Aufstieg der AfD ihr vor allem nützen würde, indem Mehrheiten für ein Rot-Rot-Grünes-Regierungsprojekt schwinden, insbesondere weil Die Linke in den ostdeutschen Bundesländern an die AfD massiv Wähler*innen verloren hat. Die CDU hat in ihren Einschätzungen das Potential der AfD gründlich unterschätzt, die Dynamik, die ihr ideologischer Kulturkampf in den letzten Jahren gewonnen hat. Die Gründung der Werte-Union 2017 könnte auch ein Versuch eines Strategiewechsels sein. Entgegen der ursprünglichen Prognosen, dass die AfD kein konservatives Wählerpotential bündelt, das für die CDU interessant ist (siehe Studie von Matthias Jung oben), versucht sie jetzt die AfD-Wähler*innen für sich zu gewinnen. Die Werteunion könnte der honey pot für die AfD-Mitglieder und Wähler*innen sein, die durch die Blockadepolitik, Koalitionsabsagen und Verfassungsschutzbeobachtung verunsichert sind, und in eine „konservativere Union“ zurückwandern würden: eine Doppelstrategie von Zuckerbrot und Peitsche. Es ist von vorneherein jedoch nicht klar, in welchem Umfang diese Annäherungsstrategie der CDU/CSU selbst Teil des Problems ist: Affinität zum Faschismus ist innerhalb des deutschen Konservativismus traditionell vorhanden.

Mit der Kandidatur von Friedrich Merz hat der konservative Parteiflügel seinen Führungsanspruch in der CDU demonstriert, er ist also nicht einfach 1999 verschwunden, auch wenn sich viele führende Repräsentanten (Kanther (2000), Stoiber (2007), Koch (2010) Karl Theodor zu Guttenberg(2011)) aus unterschiedlichen Gründen aus der ersten Reihe zurückgezogen haben. Die CDU ist weniger konservativ als früher, so die Aussagen der Parteiforscher*innen, und wirklich kann dies an Einstellungsuntersuchungen verifiziert werden. Auch in der CDU-Wähler-und Mitgliedschaft ist die Ablehnung einer Koalition mit der AfD sehr groß (derzeit bei 68 Prozent). Die Schüsse auf Lübcke zielten auch auf diese liberalere CDU/CSU, die die nationale Abwehrfront verrät, auch in diesem Sinn war das Attentat hochpolitisch. Die CDU/CSU ist selbst umkämpftes Terrain, kann weder eindeutig dem antifaschistischen, noch dem völkischen Lager zugeordnet werden. Die internen Netzwerke und Interessengruppen werden nicht alleine entscheidend sein, Partei der Mitte interpretiert die CDU/CSU als Interessensvertretung der besitzenden Klasse. Wohin diese tendiert, wird daher großen Einfluss auf die Ausrichtung der CDU/CSU haben. Eine schwächelnde CDU, die nicht mehr koalitionsfähig wäre, würde zu einer Neuorientierung und Wandlung des politischen Systems führen, für die das heutige Italien das negative Vorbild sein könnte: als sich die Democrazia Cristiana 1994 auflöste, erfolgte der Aufstieg Berlusconis Forza Italia und des „Rechtspopulismus“.

Die antifaschistische Mobilisierung nach dem “Erfurter Tabubruch“

Das Unteilbar-Bündnis rief zusammen mit Gewerkschaften und vielen anderen Organisationen unter dem Motto „Kein Pakt mit Faschist*innen – niemals und nirgendwo“ zu einer Demonstration auf. Sie schreiben: „Der 5. Februar 2020 markiert einen Tabubruch. CDU und FDP haben gemeinsam mit der extrem rechten AfD in Thüringen einen Ministerpräsidenten gewählt – allen vorherigen Versprechen zum Trotz. Auch nach Kemmerichs Zurückrudern ist klar: Die Brandmauer gegen die Faschist*innen hat einen tiefen Riss. Innerhalb von FDP und CDU gibt es die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der AfD. Wir sind zutiefst empört.“ (Aufruf zur Demonstration, https://www.unteilbar.org/nichtmituns/  Das ND vom  8./9.Februar fragt: „Heute ist die Empörung über Kemmerichs Schritt groß. Und beim nächsten Mal?“ Ist die Möglichkeit der Zusammenarbeit eines Rechtskartells vorher kategorisch ausgeschlossen worden – war das antifaschistische Lager wirklich so naiv? Dem ist natürlich nicht so: beim Unteilbar-Ratschlag im Februar 2019 gab es eine Arbeitsgruppe zu genau diesem Thema, eine mögliche blau-schwarze Koalition in Sachsen stand im Mittelpunkt der Diskussion. Auch dort taucht die antifaschistische Firewall schon auf: „Dies muss –bei allen sonstigen Unterschieden in einzelnen politischen Fragen – unter Demokraten Konsens sein. Zwischen konservativen und demokratiefeindlichen Positionen ist eine klare Brandmauer zu ziehen.“ Die Begrifflichkeit benutzt auch der englische Historiker Roger Griffin: er verwendet diesen Strategievorschlag gegen eine faschistische Kontaminierung der Gesellschaft am Beispiel der Niederlande, wo es gelungen wäre Geert Wilders Partei zu isolieren und zu marginalisieren – eine Strategie, die in den 80er und 90er Jahre größtenteils auch gegenüber Republikanern und NPD erfolgreich war.  https://www.youtube.com/watch?v=H7XhAR5SxlE

Vom Staatsekretär Nauheim-Kreis, Siegfried Zoglmann, bis Alexander von Stahl und Heinrich Kappel, von Manfred Brunner bis Jürgen Möllemann, und jetzt Thomas Kemmerich: der Antifaschismus der FDP scheint wasserlöslich zu sein; und die Abgrenzung der CDU/CSU nach rechts brüchig; dies sollte nach Jahrzehnten antifaschistischer Analyse und Engagements nicht mehr überraschen. Ist die gesellschaftliche Dynamik mit der Begrifflichkeit der „Brandmauer“ überhaupt beschreibbar? Die AfD gewinnt heute viele Wähler*innen von der Linken, der CDU oder aus dem Nichtwählerpotential – sie ist kein getrennter Fremdkörper innerhalb der Bundesrepublik. Auch 1992 liefen z.B. Sozialdemokraten zu den Republikanern über, wie der Würzburger Oberbürgermeister Klaus Zeitler, zu einer Partei, die ursprünglich von ehemaligen Christsozialen und Christdemokraten gegründet worden war. Mit einer moralisch aufgeladenen Dichotomisierung verkürzt und verflacht gesellschaftliche Analyse: zählen Wähler*innen, solange sie die Linke wählen, zum Lager der Demokratie, und werden beim Wechsel zur AfD Antidemokraten? Waren sie schon vorher antidemokratisch? Stephan Lessenich stellt die Frage, wie demokratisch denn die Demokratie ist, wen sie aus – und einschließt, und ob die sichtbare Systemkrise wesentlich weiter und tiefer geht ,als sie die Gegenüberstellung Demokraten – Antidemokraten kenntlich macht: „Genau in diesem Umstand, in der Gleichzeitigkeit verschiedenster demokratiepolitischer Erschütterungen, liegt die Krisensignatur unserer Zeit. Sie auf den aufhaltsamen Aufstieg des ‚Rechtspopulismus‘ reduzieren zu wollen und nach jedem einschlägigen Wahlerfolg in die überparteilich-wohlfeile Sorge um die Demokratie einzustimmen, ist zwar ein adäquater Reflex, um sich auf der richtigen Seite zu wähnen. Die Zeitenwende aber geht viel weiter, an allen Ecken und Enden zeigen sich die Grenzen der so lange so gut funktionierenden demokratischen Schließungen.“ (Stephan Lessenich, Wir sind nie demokratisch gewesen!, 27.02.20) https://www.fr.de/politik/sind-demokratisch-gewesen-13562997.html

Ignazio Silone zählt akribisch auf, wer ab 1923 aus anderen Parteien zu Mussolini übergelaufen ist: die Mehrheit der Mitglieder der Partito Repubblicano Italiano, die Associazione Nationalista (Mai 1923), zahlreiche lokale Gruppierungen der Giolittischen Demokraten (Cocco-Ortu), der Nittischen Demokraten (Falconi, Ciraolo), der Democrazia Liberale (Miliani), der Radikalen, der sozialen Demokratie und der Freimaurerei (1923), die Maximalisten und Reformisten des Verbandes „Gironda“ (Juli 1923), die Rechte und das Zentrum der Partito Popolare (August 1924), die Rechte der Liberalen Partei (Sommer 1922 und Oktober 1925), einzelne führende Elemente der CGdL (Gewerkschaften, Januar 1927). Die Dynamik der Faschisierung erfasst die gesamte Gesellschaft, sie macht nicht Halt vor Parteigrenzen. Die Hypostasierung einer binären Wirklichkeit ist eine irrige Vorstellung der gesellschaftlichen Realität. Der oft langwierige aktuelle Seitenwechsel von der Linken zur Rechten ist an einzelnen Personen zu beobachten, Henryk Broder, Jürgen Elsässer (ehemals Antideutscher), Bernd Rabehl (ehemals SDS), Horst Mahler (ehemals RAF), Matthias Mattusek (ehemaliger Spiegel-Redakteur), Thomas Schmid (ehemaliger Autonomer) sind Beispiele, die ihren historischen Vorgängern gleichen. So schreibt Giovanni Gentile bei seinem Eintritt in die faschistische Partei an Mussolini:“ Daher habe ich mich davon überzeugt, daß bei der Wahl zwischen dem heutigen Liberalismus und den Faschisten, die den Glauben ihres Faschismus verstehen, ein echter Liberaler, der die Zweideutigkeit verachtet und auf seinem Posten stehen will, sich in die Scharen Ihrer Anhänger einreihen muss.“ Um Liberaler zu bleiben, wird er Faschist, um echte Linke zu sein, müssen sie faschistisch werden. (siehe auch Georg Seeßlen, Markus Metz, Der Rechtsruck, 2018, ab S.37).

Nicht nur werden gesellschaftliche Gruppen und Individuen von der Dynamik der Faschisierung erfasst und überqueren den symbolischen Graben, auch politisch geht staatliche Politik auf das Völkische zu: Die von Grünen bis AfD getragenen Asylrechtsverschärfungen in Bundesrat (Landesregierungen Hessen und Baden-Württemberg) und Bundestag gehören zur Offensive gegen Flüchtlinge und Migrant*innen, dem Durchmarsch autoritärer, nationaler Ordnungspolitik dazu. Ein CSU-Landesgruppenchef Dobrindt (Bild am Sonntag, 5.Mai 2018) greift mit dem Vokabular der neuen Rechten („Anti-Abschiebe-Industrie“) die Organisationen und Anwält*innen an, die Flüchtlinge bei der schwierigen Wahrnehmung ihrer Rechte beraten. Die bayrische Polizei überfällt regelmäßig mit Razzien ohne Durchsuchungsbeschluss (seit 2017 über 200 Durchsuchungen) Flüchtlingsunterkünfte, weil sie die Unterkünfte nach Polizeiaufgabengesetz als „gefährliche Orte“ definiert – dies verstößt nebenbei gegen die Verfassung § 13 der Unverletzlichkeit der Wohnung.

Der Pianist Igor Levit hat in einem Interview nach Erfurt (aspekte, Kultursendung vom 7.2.2020) folgendes kluge Statement abgegeben: „Jahrelang wurde diese Bande (AfD) normalisiert, trotz aller Warnungen. Sie wurde teils medial normalisiert, zu großen Teilen, sie wurde politisch normalisiert. Was vor zwei Tagen passiert ist, dass diese Partei zur Mehrheitsbeschafferin hochqualifiziert wurde, – auch wenn es jetzt Neuwahlen geben wird, der Dammbruch ist geschehen, der Geist ist aus der Flasche, und das Versagen des politischen Konservatismus wird uns noch sehr wehtun in Zukunft.

Igor Levit beschreibt den langen Prozess, der die AfD in der Mitte der Gesellschaft ankommen ließ, in den Talkshows, Zeitungen und Parlamenten. Er beschreibt damit auch, dass mit der Normalisierung Ideologeme und Begriffe die „Grenze“ zwischen Demokrat*innen und Faschist*innen überqueren konnten. „Erfurt“ ist ein Ergebnis dieses Prozesses der Hochqualifizierung, der nicht „vergessen und verziehen“ werden kann. Die Wahlverluste der FDP und CDU in Hamburg (stärker noch bei der FDP) reflektieren diese Grenzüberschreitung, die den beteiligten bürgerlichen Parteien in Rechnung gestellt wird. Ein weiteres Beispiel dafür, dass zwischen dem „Lager der Demokraten“ und dem antidemokratischen Lager keine Brandmauer steht, ist der „lagerüberschreitende“ Antifeminismus. Die frühere italienische Parlamentspräsidentin Laura Boldrini wurde in Italien nicht nur von Matteo Salvini und seiner Lega Nord attackiert. Beppe Grillo, der Gründer der „populistischen“ Fünf-Sterne-Bewegung, hat auf seinem Blog einen Post gemacht, um die Reaktionen seiner Anhänger zu provozieren, als er scheinbar unschuldig fragte: Was würdet ihr machen, wenn ihr mit Boldrini im Auto wärt? – damit hat er wissentlich den massenhaften sexistischen Hassausbrüchen auf Laura Boldrini den Freibrief gegeben.

Nun könnte der Begriff „Brandmauer“ insofern gebraucht werden, um die Faschisten von der Regierung und der Macht fernzuhalten, anders gesagt, sie bezieht sich gar nicht auf eine gesellschaftliche Dynamik der Faschisierung, sondern stellt eine Funktion dar, um den politischen Worst Case zu verhindern. Die Problematik der Strategie wäre offensichtlich geworden, wenn die AfD in einer der Landtagswahlen stärkste Kraft geworden wäre. Sie hätte in bisher gepflegter demokratischer Tradition die Regierungsbildung beanspruchen, und hätte bei einer Blockierung als Opfer des „antidemokratischen“ antifaschistischen Lagers (der Systemparteien) darstellen können. Vorbereitend auf dieses Szenario wirbt die AfD mit einem Slogan Willy Brandts von 1969 „Mehr Demokratie wagen“, und spielt damit den Demokratie-Ball ins gegnerische Spielhälfte. https://www.pnn.de/brandenburg/mehr-demokratie-wagen-afd-darf-mit-willy-brandt-werben/25163528.html

Der Wahlkampf der AfD ist darauf ausgerichtet, zu siegen. Wenn sie stärkste Partei würde, wird sie das Recht zu regieren beanspruchen, und dafür außerparlamentarisch mobilisieren, und die Koalition als „unrechtmäßig“ oder als „Putsch gegen den „Volks – und Wählerwillen“ zu delegitimieren versuchen. Der „Aufstand der Straße“ kann gewalttätige Formen annehmen, wahrscheinlich ist es, dass sich in diesem Moment die Partei als disziplinierende Ordnungs- und Verhandlungsmacht präsentiert. Die Bundesebene der AfD wird gleichzeitig die Machtdemonstration wollen wie sie gleichzeitig fürchtet, mit der Staatsmacht in einen unberechenbaren Konflikt zu geraten, der ihren legalistischen Kurs beschädigt. Wird sie deutlich schwächer als die CDU, wird der Protest geringer, die Opferrhetorik nicht zu einem schnellen „Machtkampf“ drängen, sondern mittelfristig auf den Verfall der gegnerischen Koalition und Neuwahlen setzen. Diesen Weg hat die AfD mit ihrer Strategie in Thüringen eingeschlagen.  Schon hier zeigen sich die Grenzen der funktionalen Ausgrenzungsstrategie im Parlamentarismus.  Sie ist nur unter bestimmten politischen Bedingungen machbar, und wird bei der derzeitigen Entwicklung und Kräfteverhältnissen sich von einer an der „politischen Mitte“ ausgerichteten CDU-Führung abhängig machen, und akzeptiert letztlich jede Regierung ohne die AfD als kleineres Übel. So ist es auch kein Wunder, dass im Diskussionspapier des Unteilbar-Ratschlags der Appell an die CDU-Führung auftaucht. Peter Nowak sprach nach Chemnitz polemisch von einer Merkel-Linken, die letztlich die CDU und die „vernünftigen Kapitalisten“ zur letzten Verteidigungslinie gegen eine faschistische Machtergreifung erhofft. https://www.heise.de/tp/features/Was-soll-die-Linke-nach-Chemnitz-machen-4171983.html?seite=all

Nur: hat das antifaschistische Lager eine andere Antwort auf die parlamentarische Strategie der Rechten? Tasca und Silone beklagen für 1921 und 1922 das Fehlen einer parlamentarischen und außerparlamentarischen Strategie des antifaschistischen Lagers. Weder wäre es zu einer antifaschistischen Regierungskoalition gekommen, noch wurde der „Kampf auf der Straße“ strategisch und offensiv aufgenommen. Weder gelang es „den Staat“ zur Aktion gegen die Faschisten zu mobilisieren (wäre dies möglich gewesen?), noch gelang es eine wirkliche aktionsfähige Einheitsfront zu schaffen, die in der Lage war nicht nur zu verteidigen, sondern auch anzugreifen. Daher will ich mit einer kurzen Betrachtung der Bündnispolitik der letzten Jahre den Fokus auf das antifaschistische Lager legen.

Das Antifaschistische Lager – Einheitsfront, Volkfront, oder was?

Wie sieht die Bündnispolitik der Linken in der Bundesrepublik aktuell aus? 2016 gründete sich „Aufstehen gegen Rassismus“, der formulierte Aufruf richtete sich gegen PEGIDA, die AfD, menschenverachtende Stimmungsmache und Rassismus und befürwortete eine „offene und gerechte Gesellschaft“. Unterzeichnet wurde der Aufruf von vielen: Einzelpersonen, Institutionen, Antifa-Gruppen, den Parteien die Grünen, die Linke, Flüchtlingsräte, Migrant*innen-Organisationen, Jusos, Student*innen-Vertretungen, Jüdische Gemeinden, VVN-BdA, SPD-Vorstände, Musikgruppen, Gewerkschaftsgliederungen, der Naturfreundejugend, und vielen mehr. Beim ersten Bündnistreffen in Frankfurt wurde der Aufruf kritisiert, und insbesondere von marx21 (eine Gruppierung innerhalb der Linken, ursprünglich eine trotzkistische Gruppierung, die sich mehrmals umbenannte, SAG bis 1993, Linksruck bis 2007) vehement verteidigt. Zum Beispiel wurde die Ausklammerung staatlicher rassistischer Politik und der „sozialen Frage“ kritisiert. “Momentan haben daher alle Versuche, der Rechtsverschiebung mit dem Verweis auf die etablierten demokratischen Sitten entgegentreten zu wollen, ein Glaubwürdigkeitsproblem. Denn es scheint dann fast so, als wäre unsere Welt ohne AfD in Ordnung gewesen. Eine solche Botschaft klammert die soziale Frage aus und reduziert das gegenwärtige gesellschaftliche Problem auf die Existenz der AfD.” (Ko-Kreis Blockupy 2016). Die SAV (eine trotzkistische Gruppe) schrieb dazu: „Der Grund hierfür ist, dass gezielt Spitzenpolitiker*innen von SPD und Grünen ins Boot geholt wurden. Um deren Unterstützung zu bekommen wurde auf Kritik an rassistischer Asylgesetzgebung, an Massenunterbringung und Abschottung der EU verzichtet.” Sebastian Friedrich erwähnt in seiner Kritik am Bündnis mit SPD und Grünen (ak 615/19.4.2016) die inhaltliche Verflachung zu dem, was gemeinhin Minimalkonsens genannt wird, so der pragmatische Politjargon seit den 80er Jahren. „Das deutete sich bereits an, als um den Aufruftext für Aufstehen gegen Rassismus gerungen wurde. So wurden im Vorhinein entscheidende Stellen aus dem Aufruf gestrichen. Die Kritik an den Asylrechtsverschärfungen fehlt ebenso wie der Satz, Rassist_innen würden Flüchtlinge als Sündenböcke für zunehmende soziale Ungleichheit und Verunsicherung nutzen. Mitverfasserinnen des Aufrufs von SPD und Linkspartei begründeten die Streichung damit, dass explizite Kritik breite Bündnisse verhindern würden“. (https://www.akweb.de/ak_s/ak623/images/sonderbeilage_afd.pdf) Die Kritik an der Bündnispolitik der AgR ist meiner Ansicht nach zum Teil nicht realistisch: es ist kaum vorstellbar, dass SPD und die Grünen einen Aufruf unterschreiben, in dem sie selbst kritisiert werden. Dann müsste das Bündnis eben auf sie als Organisation verzichten. Freiheit der Kritik heißt natürlich Autonomie der Organisationen, unabhängig vom Bündnis und der gemeinsamen Verabredung der Konzentration auf eine Kampffront. Auch ist die Fokussierung auf die AfD als ein wesentliches Gravitationszentrum der Faschisierung politisch und taktisch nicht falsch. Eher teile ich die Einschätzung der zu engen inhaltlichen Begrenzung der Kritik an der AfD. Im Namen des Bündnisses „Aufstehen gegen Rassismus“ liegt schon der erste Fehlschluss: weder ist die AfD alleinverantwortlich für Rassismus, noch ist es Rassismus alleine, den die AfD auszeichnet – schon der Markenname AgR in Verbindung mit dem „Hauptfeind AfD“ entlastet nicht nur „alle Parteien im Verfassungsbogen“, die mit der AfD um Wählerstimmen konkurrieren, sondern auch die soziale von Rassismen durchzogene Hierarchisierung innerhalb der Klassenverhältnisse. Erstaunlicherweise beziehen sich die Verteidigerin des breiten Bündnisses im ak 617 /2016 Julia Meier von Marx21 auf die historische Einheitsfrontstrategie: „Selbstverständlich bedeutet ein Bündnis unter Beteiligung von SPD und Grünen nicht, diese nicht zu kritisieren oder den Neoliberalismus nicht zu bekämpfen. Die Taktik der Einheitsfront, wie sie von der KPD Anfang der 1920er Jahre entwickelt wurde, bedeutete nie, einfach nur mit Reformist_innen zusammenzuarbeiten. Einheitsfront bedeutet auch, die gemeinsame Aktion zu nutzen, um Anhänger_innen von SPD und Grünen davon zu überzeugen, dass linke Parteien, radikale Linke, Revolutionär_innen, die besseren Ideen, die bessere Strategie und die effektiveren Methoden haben, das gemeinsame Ziel zu erreichen.“ Eine erstaunliche Stellungnahme, schien doch die Ausrichtung des Bündnisses nicht mit linken Parteien, radikalen Linken und Revolutionär_innen ausdiskutiert, sondern „von oben“ durch Funktionäre verschiedener Organisationen und Wahlparteien „gesetzt“ worden zu sein. Die vorgebliche Kritik an SPD und Grünen und Neoliberalismus und die besseren Strategien suchte ich bisher vergeblich in den Veröffentlichungen der AgR. Umgekehrt, die Grundausrichtung ist geradezu eine Dethematisierung, so wurde der große Blockupy-Block auf der „Großdemonstration“ in Berlin am 2.September 2016 von Marx21 folgendermaßen kritisiert: Durch den »Grenzenlos-Solidarisch«-Block mit seiner feministischen Schwerpunktsetzung und Kritik an der Asylrechtsverschärfung sei »der Rassismus der AfD und die Betonung eines gemeinsamen Kampfes gegen diese Partei als Hauptschlagrichtung der Demonstration in den Hintergrund« (Marx21 2016) getreten.“ https://www.zeitschrift-luxemburg.de/kontrovers-was-tun-gegen-rechts-das-buendnis-aufstehen-gegen-rassismus/ Die Organisator*innen des Bündnis, waren, obwohl sie doch die „liberalen Staatsparteien“ verschont haben, verblüfft, dass diese offensichtlich kaum zur ersten Großdemonstration (nur 6.000 Demonstrierende) mobilisiert haben, und der Block des eigenständigen Blockupy-Bündnisses auch noch den größten Anteil an der Demonstration stellte. Einen ähnlichen Effekt konnte in Hessen beobachtet werden: bei der Kampagne „Keine AfD in den hessischen Landtag!“ nutzten die Spitzenkandidaten die kostenlose Auftrittsmöglichkeit für ihren Wahlkampf, und trotzdem drang deren halbherzige Überzeugung durch: „Unabhängig davon ist aber auch bei Grünen und SPD, die beide jeweils mit prominenten Rednern, sprich Tarek Al-Wazir und Schäfer-Gümbel, vertreten sind, hinter vorgehaltener Hand Skepsis über den Sinn der Veranstaltung zu vernehmen.“ (FNP, 18.08.2018) Möglicherweise lag dies jedoch auch am Motto und Aufruf der Kampagne (siehe  https://wolfwetzel.de/index.php/2019/01/19/wie-wird-der-nationalsozialismus-geschlagen-emil-goldmann-teil-ii/

Sahen SPD und Grüne das „Bündnis AgR“ als Low-Budget-Unternehmen, um preiswert Selbstreklame zu betreiben und Wahlkampfauftritte zu requirieren, und nicht als antifaschistisches Engagement? Nach diesem Misserfolg bei der Mobilisierung 2016 nach Berlin sieht es von außen aus, als wäre „AgR“ eine Kleinorganisation im Umfeld der LINKEN geworden. Sie ist jetzt funktional seit 2018 mehr oder weniger von „Unteilbar“ als „breitem zivilgesellschaftlichen Bündnis“ abgelöst worden. Unteilbar wurde mehr zufällig zum außerparlamentarischen Gravitationszentrum, und stellte sich halb getrieben und halb gewollt dieser Verantwortung. Unteilbar ist abhängig von der aktiven und kooperativen Bündnispolitik starker Organisationen, und hat über Berlin und Sachsen hinaus keine „eigene“ Verankerung lokaler Bündnisse nach unten. Unteilbar ist an vielen Stellen ohne Programmatik, die die Bündnispartner zum Handeln zwingt: auch Finanzminister Olaf Scholz (SPD) konnte ohne zu erröten an der großen Unteilbar-Demonstration im August 2019 in Dresden teilnehmen, ohne sich für die eigene Asylpolitik rechtfertigen zu müssen. Die Asylrechtspolitik von SPD, CDU und FDP kommen der faschistischen AfD entgegen, sie atmet den Geist des Rechtspopulismus, formulierte neulich Pro Asyl. Was macht Olaf Scholz dann auf der Unteilbar-Demonstration? So konnten am 2.Juli 2019 die hessischen und baden-württembergischen Grünen im Bundesrat unbehelligt einer Asylrechtsverschärfung im Asylbewerberleistungsgesetz der großen Koalition zustimmen.

Meiner Ansicht nach kann auch ein Bündnis, dass sich auf den Gegner AfD und mit diesem auf eine gesellschaftliche Faschisierung konzentriert, gleichzeitig einen inhaltlichen Maximalkonsens erarbeiten, der über die Parolen „Für eine offene Gesellschaft“, „Keine Stimme der AfD“ und „Unsere Alternative heißt Solidarität“ hinausgeht. Solidarität wird auch dann konkret, wenn „die Antifa“ verstärkter nicht nur propagandistisch angegriffen wird, sondern eine „Verbotsposition“ von CDU und FDP aufgegriffen würde; dies könnte zu einer Nagelprobe der Bündnisse werden. Eine naheliegende programmatische Forderung, die das Unteilbar-Bündnis bisher vermieden hat, ist die Offenlegung aller NSU-Akten und die Einrichtung eines unabhängigen, außerparlamentarischen Untersuchungsausschusses angelehnt an die Bertrand-Russell-Tribunale von 1966 bis 1979. https://de.wikipedia.org/wiki/Russell-Tribunal  Warum keine Kampagne, mit Demonstrationen vor den Verfassungsschutzämtern? Warum geraten die hessischen Grünen so wenig unter Druck bei ihren Wahlkampfauftritten, Veranstaltungen und Parteitagen?

The Truth lies in Rostock – der rassistische Sieg in den 90er Jahren

Ein kurzer politischer Rückblick in die 90er Jahre: Eine Positionierung zum Asylrecht ist keineswegs eine „Abschwächung der Hauptstoßrichtung“, wie marx21 stellvertretend für den organisierten Kern in AgR 2016 schrieb, dazu eine kurze politische Zeitreise: 1992 und 1993 gehörte ich zu denen, die zur Bundestagsblockade gegen die Abschaffung des Asylrechts im Mai 1993 mobilisiert hatten.

Die Grundgesetzänderung war, so unsere Einschätzung damals, ein Ergebnis und die Belohnung einer rassistischen Mobilisierung – „Elite und Mob“, Politik und Bevölkerungsmehrheit handelten in seltener Übereinstimmung. Die rassistische Hetze in den Medien, die Art und Weise der politischen Debatten im Mainstream (Verständnis für die rassistische Bevölkerung, Übereinstimmung in der Meinung, dass das Boot voll wäre), und eine eskalierte Gewalt (als extremer Ausdruck der „Unzufriedenheit der Bevölkerung“), deren Höhepunkte die tödlichen Anschläge von Mölln und der versuchte Pogrom in Rostock–Lichtenhagen waren, waren für uns untrennbar miteinander verbunden. Mit der „Petersberger Wende“ am 21./22. August 1992, am gleichen Wochenende, an dem in Rostock-Lichtenhagen das Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen brannte, weil die rassistisch mobilisierten Anwohner, Jugendliche, Wutbürger und Faschisten „das Asylantenproblem selbst in die Hand nehmen“ wollten (Flugblatt der DVU 1992),  ging die Sozialdemokratie den Weg der Zeit mit, und signalisierte ihre Bereitschaft zum „Asylkompromiss“ mit der CDU/CSU. Eine Großdemonstration von 200.000 Menschen aus der demokratischen Zivilgesellschaft (aber auch ein großer linksradikaler Block) protestierte parallel zum entscheidenden SPD-Sonderparteitag Mitte November 1992 in Bonn gegen die von der SPD-Führung gewollte „Wende“, die auf dem Parteitag eine Mehrheit fand. Die Parteiführung (Engholm, Lafontaine, Scharping, Voscherau, Klose u.a.) ignorierte alle Proteste der innerparteilichen Opposition, 30.000 Mitglieder verlor die SPD sofort nach diesem Politikwechsel. Es war für uns in dieser Zeit unvorstellbar, „nur“ gegen Republikaner, FAP und NPD zu mobilisieren. Rassismus, so unsere damalige Auffassung, ist nicht nur ein Spaltungsinstrument von oben, nicht nur Rechtfertigungsideologie der Aggressionen der Modernisierungsverlierer oder ein spezifisch ostdeutsches Problem – der Rassismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft, so unsere These, und nicht vom Rand. Damit umgingen wir es rassistisch Handelnde aus ihrer Selbstverantwortung zu entlassen oder sie zu Opfern zu machen, wollten aber weiterhin unterscheiden, ob Handeln völkisch begründet und eliminatorisch ist, oder autoritär und entrechtend. Auch wenn es uns zunehmend schwerer fiel, zwischen den Positionen des Republikaners Franz Schönhuber und von Edmund Stoiber aus der CSU, der von einer „durchmischten und durchrassten Gesellschaft“ sprach, zu unterscheiden (Süddeutsche, 4.Nov.1988). Letztlich zementierten die großen Staatsparteien mit ihrer autoritären Ordnungspolitik Ungleichheit, Ausschluss und Entrechtung der Flüchtenden – das Asylbewerberleistungsgesetz war im Paket der Verfassungsänderung mit dabei – und besorgten zusätzlich die Entsorgung eines antifaschistischen Erbes: „”Wenn es so etwas wie eine Aura der Verfassung gibt, dann ist es das deutsche Asylrecht des Artikels 16 Grundgesetz, das einzige Grundrecht, das sich nach den weltweiten Verheerungen der Nazis an alle politisch verfolgten Weltbürger wendet.” (bürgerlich-liberales Hamburger Manifest 1992).  „Wir“ (Autonome, Linksradikale) waren keinesfalls Verfassungspatriot*innen geworden, wie eine Kritik von links lautete, sondern wandten uns mit der Aktion gegen die rassistische Mobilisierung und alle ihre Akteure zur Gänze, um ihnen eine späte Niederlage zuzufügen. Dies ist uns trotz großer Anstrengungen, und trotz einer erfolgreichen Mobilisierung innerhalb von wenigen Monaten leider nicht gelungen. Die große Niederlage von 1991 bis 1993 war nicht mehr rückgängig zu machen. Das defensive Reagieren auf die rassistische Mobilisierung versinnbildlichte die Ohnmacht der „machtvollen Demonstration“ in Rostock – Lichtenhagen am 29.August 1992 (20.000 Demonstrierende), eine Woche nach Ende des Pogroms. Ein zehntausendköpfiger militanter Block von Antifa, Autonomen, Antiimperialist*innen, frühen Antideutschen, der fünf Tage zu spät gekommen ist, konfrontiert mit mehreren tausend Polzisten und zahlreichen Sondereinheiten (von denen ein Wochenende davor „nichts“ zu sehen war), standen vor dem ausgebrannten Sonnenblumenhaus, aus dem die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in Todesangst fliehen mussten, und fanden außer einem Kiosk und einzelnen den Hitlergruß vom Balkon zeigenden Wutbürgern kein angreifbares Ziel.

Wir versuchten einen politischen Maximalkonsens und Aktionskonsens im Bündnis zur Blockade zu erzielen, auch dies ist uns nur teilweise gelungen – die Parole „Die Brandstifter sitzen in Bonn“ (Aufruf zur Blockade, 1993) wurde von manchen in DKP-Manier so verstanden, dass die eigentlichen Schuldigen die Regierungsparteien („die Politiker“) sind, der sich nach erfolgter Aufklärung die antifaschistischen Bevölkerungsmassen entgegenstellen – Rassismus von unten war natürlich von oben gesteuert. Die Aktion selbst musste mobilisieren, durch ihre Treffsicherheit, ihren Eingriff am richtigen Ort zur richtigen Zeit, was die Erklärungen und Worte nicht immer leisten konnten.

Der Unterschied der politischen Lage 1993 zu heute ist offensichtlich: die AfD spielt als organisatorisches Gravitationszentrum und mit ihrer legalistischen parlamentarischen Strategie eine besondere Rolle in der Einflussgewinnung und Machteroberung, die die Republikaner 1990 bis 1993 auch in ihren besten Zeiten nicht hatten. Eine Aufgabe des antifaschistischen Lagers ist, genau diese Analyse der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu verbinden, zu koordinieren und zu vertiefen. Bisher sehe ich noch kein Gegengewicht gegen die AfD, weder Die Linke noch Unteilbar noch „die Antifa“ sind die Gravitationszentren, die einen solchen Prozess bisher organisatorisch initiiert haben und eine kohärente Strategie entwickelt hätten. Wenn der Kampf gegen und die Kritik an Ungleichheit, gegen Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus ernst gemeint ist, dann kann er nicht an der Tür des kapitalistischen Normalzustands enden – egal ob SPD, Die Grünen oder CDU auf dem Klingelschild steht. Zu einer neuen Einschätzung der bürgerlichen Parteien wie der CDU soll dieser Text ein bescheidener Beitrag sein.

Die Mühlen in der Ebene – über die halben Herzen der linken Politik

Wie kommt es zu den selbst täuschenden Mobilisierungen der Linken? Wäre man und frau bei einer schwarz-blauen Regierung wieder nur moralisch „entrüstet“? Oder ist man/frau gerüstet“, und schlägt ein vorbereiteter Generalstreik zu? Die antifaschistische Linke ist gespalten in einen dem Parlamentarismus und Legalismus zugewandten Reformismus und einen antistaatlichen Maximalismus, der sich über die Verwirklichbarkeit seiner Programmatik keine Gedanken machen muss. Jenseits davon wer moralischer Sieger ist, sind die Grundlagen beider „politischen Geschäftsmodelle“ zu überprüfen. Der von mir schon öfters zitierte Johannes Agnoli hat in seinem Nachwort zur Ausgabe der „Transformation der Demokratie“ im ca-ira-Verlag 1990 auf die Grünen bezogen einige weise Gedanken zur Wirkweise des Parlamentarismus gesagt, die vielleicht Anhaltspunkte liefern, warum der doch kluge Bodo Ramelow vom intriganten Spiel und Antikommunismus überrascht wurde. „Da sie (die Grünen) theoretisch aufs Gefühl, praktisch auf die Emotion, auf die unmittelbare Betroffenheit“ setzen, ziehen sie aus dem Umstand, dass sie sich in den Institutionen wohl fühlen, die Schlussfolgerung, erstens, dass letztere gut seien und zweitens, dass man mit ihnen nach Belieben umgehen könne … die Logik der Verfassung, zweckrational zur Herrschaft zu sein, lässt sich aber nicht erfühlen, sondern nur rational begreifen. Daher auch ihre Widersprüchlichkeit. Einerseits verhalten sie sich als der radikalere, aber in die Institutionen eingefügte Stachel der Opposition; oder als der Stachelpartner einer sozialdemokratischen Mehrheit; oder wie einige von ihnen vorschlagen, – einer konservativen Mehrheit, genauso, wie eine konforme, akkumulationsadäquate und staatsstabilisierende oppositionelle Gruppe sich seit jeher verhält. Sie richten sich, -wenn die Selbstironisierung gestattet wird – . denn sie tun genau das, was in der Transformation der Demokratie der „Opposition seiner Majestät“, als einem Bestandteil der politischen Klasse vorbehalten wird … auf der anderen, hoffnungsvolleren Seite unterscheiden sich die Grünen wesentlich von einer systemkonformen Opposition, entsprechen dem Projekt einer fundamentalen Opposition und richten sich also nach der negativen Seite der Transformation der Demokratie: Zur „Repräsentation der Herrschaft“ gehören sie – zumindest in Bonn, anderswo ist es anders – auf keinen Fall, auch wenn sie sich auf das Spiel wechselnder Mehrheiten eingelassen haben…Wer zur negativen Seite des institutionellen Lebens gehört, befindet sich (bei den Grünen) in der widersprüchlichen Position, sich der Repräsentation der Herrschaft zu entziehen, zugleich aber die Beherrschten, die „Regierten“ keineswegs allesamt zu vertreten. Andererseits treten sie bewusst für die Rechte der Minderheiten ein und verstehen sich – wenn schon – als Repräsentation der Minderheiten, der unterdrückten, verachteten, misshandelten Randgruppen der Gesellschaft. Übersehen wird dabei das inhaltliche Problem, das in einer klassenmäßigen Perspektive gar keine Schwierigkeiten bereiten würde: Die jetzt Herrschenden sind nämlich eine Minderheit, von der die Mehrheit wünschen könnte oder sollte, sie möge sich endlich, wenn nicht zum Teufel, so doch zur Machtlosigkeit scheren. Wenn die von den Grünen vertretenen Minderheiten das Sagen erobern (die Macht, von der Joachim Hirsch spricht), werden die anderen dann zu Minderheiten – die wieder von den Grünen vertreten werden?“ (S.193/194).

DIE LINKE beschwört nach Erfurt, dass sie alles andere als kommunistisch ist, dass sie politische Verantwortung übernehmen will, sie folgen darin den Grünen, die ihre Regelkonformität und Verfahrensfunktionalität bald unter Beweis gestellt haben, um nicht als extremistisch denunziert zu werden. Bodo Ramelow, so die Presserklärung von Katja Kipping, garantiere Stabilität, die Hasardeure sind CDU und FDP. Die Widersprüchlichkeit DER LINKEN wurde insbesondere nach der sogenannten Flüchtlingskrise sichtbar, in dem sie sich in vier „Dimensionen“ (staatsstabilisierender Zuordnung zur politischen Klasse versus radikale Minderheitenvertretung, „Weltbürgerlichkeit/Diversität“ versus„Nationalität/Staatsbürgerlichkeit“) paralysiert hat: Die Linke spaltete sich ähnlich wie die Sozialdemokratie ideologisch in „Kosmopolit*innen“ und „Kommunitarist*innen“, obwohl die gesellschaftliche Realität wesentlich widersprüchlicher ist: „Die SPD versteht nicht, dass die Migrationsfrage Teil der sozialen Frage ist – sie spaltet dieses Thema ab als postmodernen Luxusdiskurs der Kosmopoliten. Die Parteistrategen stellen sich die Wählerschaft als eine simple Dichotomie aus Kosmopoliten und Kommunitaristen vor. Die einen als Jetsetter, die anderen als einfache Arbeiter. Dabei ist die Wählerschaft der SPD deutlich diverser. Deutschtürken können im Kosmopolitenlager stehen und als Arbeiter zu den Kommunitaristen gehören. Das eine gegen das andere auszuspielen, kostet die SPD ihre Stimmen bei den Migranten.“ (Naika Foroutan, Spiegel vom 3.11.2018)

Mit einem linken Einwanderungsgesetzentwurf der Projektgruppe Einwanderung in DER LINKEN, oder dem Antrag „»Für eine offene, menschenrechtsbasierte und solidarische Einwanderungspolitik« der Bundestagsfraktion DER LINKEN wurde versucht eine Brücke zwischen den Polen „Einwanderungsregulierung/Fluchtursachen bekämpfen“ und „Offene Grenzen“ zu bauen, die Dilemmata zu lösen, in der sich die Partei befindet. Mir erscheint die Richtung der Debatte Ausdruck einer Verkennung der eigenen strategischen Möglichkeiten zu sein: weder wird eine parlamentarische Linke als nationale Regierungspartei offene Grenzen durchsetzen, noch wird sie die Fluchtursachen beseitigen – dies käme einer Weltrevolution gleich. Die Debatte Offene Grenzen versus Fluchtursachen bekämpfen täuscht zusätzlich eine Wählbarkeit von Alternativen im bürgerlichen Staat an, die real nicht existieren: “Die Utopie der „Gesellschaft der Freien und Gleichen“ (Marx) kann nicht als Gesetzesvorlage weder oppositioneller noch regierender Fraktionen in den Bundestag eingebracht werden.“ (Johannes Agnoli).

Der parlamentarische Rahmen wird DIE LINKE einschränken, die Institutionen sind mächtiger, als der Wille DER LINKEN sie alternativ zu gebrauchen. Die Erfahrungen mit der Partei DIE GÜNEN sind lehrreich genug. An der Regierung wäre auch DIE LINKE gezwungen, einen verfahrenstechnischen Umgang mit Einwanderung zu finden, auch wenn sie Betroffene mit ihren Interessen stärker einbindet, als je zuvor in Deutschland geschehen. Sind die Alternativen Systemopposition oder Herrschaft mit menschlichem Antlitz?

Genau in diesem politischen Konflikt gelang es der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken nicht, eine alternative politische Gegenposition zu finden, die der rassistischen Mobilisierung des völkischen Nationalismus konterte. In der Frontstellung gegen die Renaissance und „Wiedergeburt“ des Nationalen hat sich der „maximalistische Flügel der Kosmopolit*innen“ zu einer Position zwingen lassen, die radikal Solidarität statt Heimat sagt, aber nicht mehr formulieren kann, was von den rassistischen Anschlägen in den 90er Jahren Betroffene formuliert haben, und wie es jetzt nach dem rassistischen Massaker in Hanau wieder aktuell ist: Wir lassen uns nicht vertreiben! Wir bleiben hier! Das ist (auch) unser Land!, und sich damit in Front zur nationalen Reaktion brachten, als im politischen (nicht ethnisierenden) Sinn nationale Opposition konstituierten; und anderseits der „linkssozialdemokratische Flügel der Kommunitarist*innen“ einer Position zuwandte, die die soziale Frage nationalisiert und die Zielrichtung des medialen Kurses, der öffentlichen Meinung und nationalen Kampagne, dass „die Deutschen vor der Masseneinwanderung geschützt werden müssen“ als nationale soziale Frage aufgreifen und wenden wollte (das einheimische Proletariat zu beschützen, und damit das eigene Schutzinteresse gegen das Schutzinteresse der Flüchtenden ausspielte), und die Aussagen aus dem Kommunistischen Manifest 1848 verkehrte, die den internationalen, antinationalen und kosmopolitischen Charakter der Klassenkämpfe betonten: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muss, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie. Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen. Vereinigte Aktion wenigstens der zivilisierten Länder ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung. (   ) In dem Maße wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegen einander.“ (Manifest der kommunistischen Partei, 1848).

Das Schutzrecht vor Verfolgung aus politischen, ethnischen, religiösen oder geschlechtsspezifischen Gründen ist weltweit grundsätzlich umkämpft, eine wirkliche politische Haltelinie ist nicht in Sicht. Und es stellt sich die Frage, ob der Ausgangspunkt einer antifaschistischen, emanzipatorischen Politik ein anderer ist, als es die innerlinke Debatte zwischen „Kommuntarist*innen“ und „Kosmopolit*innen“ nahelegt: „Die politischen Errungenschaften des Bürgertums, deren Verwirklichung heute in die Hände der lohnabhängigen Massen übergegangen ist, besteht vielmehr in konkreten Individualrechten, die wenig mit den staatlichen Organisationsformen zu tun haben und überdies häufig genug der geltenden politisch-rechtlichen Ordnung widersprechen. Man denke an das Streikrecht. Man denke an die Gleichheitsnormen, an die Meinungs- und Kritikfreiheit und an die Freiheit der aktiven Teilnahme an Entscheidungsprozessen – emanzipatorische Inhalte, zu deren Verteidigung sich in der Tat das Kämpfen lohnt. Nur stoßen diese Grundrechte des Menschen gegen die organisatorischen Bestimmungen der Verfassung, die dazu dienen, den politischen Willen der Menschen zu kanalisieren und zu disziplinieren. Sie heben am Ende den emanzipatorischen Charakter der Grundrechte wieder auf“ (Johannes Agnoli, in Der Staat des Kapitals, 1995, Revolutionäre Strategie und Parlamentarismus)

Auch deswegen ist eine Programmatik zum Asylrecht, zur Migration keine „Abschwächung der Hauptstoßrichtung gegen die AfD“, sondern wäre umgekehrt eine politische Verteidigungslinie, die aktuell als humanitäre von „Seebrücke“ und den Millionen Menschen gehalten wird, die in den letzten Jahren den Schutz für Flüchtende organisiert haben (zehn Millionen waren ehrenamtlich aktiv, nach einer Studie der Evangelischen Kirche Deutschland, 32 Millionen hatten nach Angaben des Deutschen Spendenrates Geld gespendet oder Zeit investiert). Mit der Migration wird die „soziale Frage“ als internationale sichtbar, die die Beschränkung der Nationen verlässt, und die nur mit der Überwindung des Nationalen revolutionär in einer neuen Weltgesellschaft beantwortet werden kann. Sich als antifaschistische Opposition zu konstituieren, die dem nationalen Mainstream trotzen und offensiv begegnen kann, benötigt eine politische Klärung wesentlicher Fragen. Dies wird anstrengend, verlangt viel, und fordert von uns das Bestmögliche.

Zum Schluss – Realitycheck

Ich hatte zuerst Freundinnen und Freunden einige praktische Vorschläge und Ideen vorgelegt. Eine davon war ein antifaschistischer Kongress. Nein, nicht selbstbezüglich an eine Szene adressiert, wie der Titel des Kongresses 2014 „Antifa in der Krise?“ suggeriert, den die Interventionistische Linke damals initiiert hatte. Meine Idee ging natürlich darüber hinaus. „Damit meine ich keine akademischen Vortragsveranstaltungen oder Informationspanels, sondern ein ernsthaftes Arbeiten an politischen Positionen, die auch die Intellektuellen nicht auf ihre wissenschaftliche Erkenntnis reduziert, sondern sie gleichfalls als politischen Praktiker*innen begreift. Die Linke hat mit den wissenschaftlichen Intellektuellen eine Kraftquelle, die nicht im Bücherschrank bleiben sollte. Meiner Ansicht nach wäre es notwendig, zum Beispiel auf einen Kongress, der breit getragen wird, um die Positionierungen hartnäckig und diskussionsfreudig zu ringen. Dabei ist gerade eine Vielfalt und Freiheit der Kritik belebend und wünschenswert. Diskussionen müssen organisiert sein – eine besondere Verantwortung hat eine Moderation, die nicht Stichwortgeber und Ordnungsmacht ist, sondern in erster Linie Organisation der Debatte.“ Vielleicht könnte Igor Levit mitdiskutieren und Klavier spielen? fragte ein Freund. Was für eine Veranstaltung, Enzo Traverso, Walden Bello, Moshe Zuckermann und Didier Eribon diskutieren über die Ursachen der internationalen Faschisierung! Antifaschismus im 21.Jahrhundert könnte ein Titel sein, warf eine Freundin ein. Ja, und ein Panel „der neue Antifeminismus“, Angela Nagle, Veronika Kracher diskutieren mit Klaus Theweleit über mysogyne Männer! begeisterte sich der nächste Freund. Mir ist das zu theoretisch, Katja Kipping und Sarah Wagenknecht sollten mit den Intellektuellen diskutieren! Zum Beispiel mit Stephan Lessenich über ihren Demokratiebegriff! Die Kraftquellen der Linken bündeln, vernetzen, notierte eine. Georg Seeslen, Helmut Kellersohn und Andreas Kemper diskutieren über den Kampf gegen die AfD und die völkischen Netzwerke! Nelli Tügel, Hans Jürgen Urban und Karl Heinz Roth über die politischen Optionen des (nationalen) Kapitals. Wie kommen wir denn dann zu einer strategischen Diskussion mit vielen? Weg von den Podien? fragte einer skeptisch. Zu wenig feministisch, sagt A., mir fehlen jüdische Stimmen, meint B., und die migrantischen, wirft C. ein. Die Idee war unfertig, ich brachte sie doch in Berlin in eine Diskussionsrunde beim Unteilbar-Ratschlag ein. Sie wurde aufgegriffen, es entstand sofort ein Bild vor Augen, langsam verdichtete es sich zu einem Gemälde. Der ak, Neues Deutschland, das Antifainfoblatt, die taz, Graswurzelrevolution, Missy Magazin, sogar konkret, die jungle world und die Junge Welt wollten ihn unterstützen. Die Angebote überrollten mich, jetzt noch die Finanzierung klären, sind United against racism, NIKA, IL und das Institut für eine solidarische Moderne dabei? Pro Asyl und Medico International? JFDA und die Bildungsstätte Anne Frank? Die Antonio Amadeo-Stiftung? Die Gewerkschaften? Ich hatte so viel unbegründete Ängste gehabt, vor Missgunst, Führungsansprüchen, Distanzierungen. Der Suche nach den Fehlern. Am meisten, das Mistrauen, mit dem mir begegnet werden könnte. Oder unverstanden zu bleiben. Im Gegenteil, alle wollten dabei sein, lebendig wurde diskutiert, verworfen, mit Freude und Leidenschaft, freundlich und respektvoll, menschlich und genau, die Linke von ihrer besten Seite, mir kamen die Tränen. Die Mutlosigkeit wurde abgeschüttelt, die Isolierung und Routine durchbrochen, der gesamte Reichtum, die Erfahrung vieler Jahre von Kämpfen, Recherche, Analyse flossen zusammen wie ein breiter, kräftiger Strom! Welche Freude, dies zu erleben! Wie stärkend!

Leider ist diese Erzählung eine grandiose Verfälschung: die Verfolgung der Kongress-Idee, mit der ich vorsichtig zur antifaschistischen Linken losging, war eher wie ein steiler Klettersteig, ein steiniger Gebirgspfad, mit Fehltritten, Sackgassen, unbezwingbaren Überhängen. Manchmal wollte ich umkehren und aufgeben. Weitermachen, sagte ich mir, und so ist auch dieser Text wieder ein Sprechen für den Mut, das Denken, die Leidenschaft der Kritik und des Kampfes. Ich stieß auf Ungläubigkeit, Abwarten, Abstand und ferne Verwunderung. Da sprudelte keine Quelle der Begeisterung: ich traf auf gestresste, erholungsbedürftige Berufsfunktionär*innen, vollzeitbeschäftigte Berufstätige, leistungsstark im Familienmanagement, belastet mit Pflege oder Krankheit, müde politische Rentner oder „Mitglieder“ im Vorruhestandsmodus – überfordert, manchmal in Endzeitstimmung, oder kontrolliert weiterarbeitend, ohne aufzuschauen. Soviel anders bin ich auch nicht. Manchmal bekam ich gar keine Antwort. Oder niemand hatte Zeit.

Nach Hanau: gegen jede Endzeitstimmung

Diese entsetzliche Stille. Als hätten alle Vögel aufgehört zu singen, alle Herzen aufgehört zu schlagen, am Ort dieses Grauens! Bleiern schweigend zogen die Menschen durch die Innenstadt im nasskalten Hanau. Dieser gespenstische Horror ist schon alt, er begann vor langer Zeit. Er vitalisiert und wiederholt sich, und dauert seit Generationen. Die Trauer der Angehörigen der Opfer von Mölln jährte sich am 23.November 2019 zum 27. Mal; der persönliche Albtraum der Familien von Hanau, der nicht zu enden scheint, hat erst begonnen. Seit der Wiedervereinigung sind bis zu zweihundert Menschen aus rassistischen oder faschistischen Motiven getötet worden: wann schütteln wir diesen Albtraum ab? Nicht zum Alltag übergehen zu können – wie ist das möglich? Es gibt einen Aufruf für einen migrantischen Generalstreik am 8.Mai. https://barrikade.info/article/3239 Wird er die Herzen so verschiedener betroffener Menschen erreichen? Wird es ein Tag der Trauer, oder ein Tag des Zorns, oder beides? Ein Tag, der die Erde beben lässt, oder ein Tag, der nur die mobilisiert, die sowieso überzeugt sind?

Es ist an der Zeit, den Albtraum nicht mehr hinzunehmen. Einen Lebenstraum dem tödlichen Grauen entgegenzustellen: ein Tag, der spüren lässt, wieviel Stärke, wieviel heilsame Kraft vorhanden ist, ein Wärmestrom der Solidarität, des menschlichen Reichtums. Ein Tag, der die deutsche Mehrheitsgesellschaft aus ihrer Ignoranz, Gleichgültigkeit und Selbstgerechtigkeit weckt, der die Lebenslügen, die die nationalen Echokammern produzieren, ans Licht bringt. Das Kontinuum der Geschichte aufsprengen, oder wenigstens die rastlose, verdichtete Zeit zum Stillstand zu bringen. Das wäre schon sehr viel. Und ein Anfang.

Unsere Feinde sagen: Der Kampf ist zu Ende. Aber wir sagen: Er hat angefangen. (Bertolt Brecht, Die Feinde sagen, 1934)

Emil Goldmann, März 2020

 

*Karfeit, oder „Caporetto“ wurde in Italien der Nachkriegszeit schließlich zum Synonym für eine „schwere Niederlage“. Mussolini selber bezeichnete den gescheiterten Generalstreik in Italien 1922 als das „Caporetto des italienischen Sozialismus“.

 

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