Strategie und Politik gegen die Faschisierung heute |Teil 3
Emil Goldmann
Gibt es heute einen Immobilismus der Linken? Fehlt eine politische Strategie gegen die Faschisierung? Versteckt die Linke ihre Ratlosigkeit und Ohnmacht hinter Objektivismus und Aktionismus?
Nach einigen Diskussionen mit Freundinnen und Freunden verwarf ich meinen ersten Entwurf, und zog mich zurück, um neu nachzudenken. Ich hatte bemerkt, dass die heutige Verwendung von Begriffen wie „Gegenpropaganda“ oder „Einheitsfrontpolitik“ in Praxisvorschlägen Worthülsen werden, wenn sie nicht ausführlich begründet sind. Sie sind fremd, ich musste mich erklären, zum Beispiel, dass Gegenpropaganda nicht meint, eine Lüge mit einer Lüge zu beantworten. Meine praktischen Vorschläge blieben daher unvermittelt und unverständlich, genauso wie der Weg meines Denkprozesses vom gescheiterten historischen Antifaschismus zur aktuellen linken Politik. Können wir denn überhaupt etwas von unseren antifaschistischen Vorfahr*innen lernen, fragte mich eine Genossin? Ich entschloss mich, noch einmal „neu“ zu beginnen, einen persönlicheren Ausgangspunkt zu suchen, um meine Skizze aktueller antifaschistischer Politik einzuleiten.
An Peter Gingold
Ich gehöre zu denen, die das Glück hatten, Peter Gingold kennengelernt zu haben. Peter, damals im VVN und der DKP, war einer der Gründer des Auschwitzkomitees. Er erlebte als Jugendlicher in der Weimarer Republik den Aufstieg der NSDAP und den immer stärker werdenden Antisemitismus. Dies führte dazu, dass er sich bereits in sehr jungen Jahren politisch in der Arbeiterjugendbewegung und in der Antifaschistischen Aktion organisierte und aktiv wurde. Als Kommunist aus jüdischem Elternhaus wurde er nach der Machtübernahme durch die Nazis zur Emigration gezwungen und ging nach Paris, wohin seine Eltern bereits geflohen waren. Auch nach seiner Flucht nach Paris begann er sofort, sich im Kampf gegen die Nazis zu engagieren und war Mitbegründer einer Jugendorganisation deutscher Emigranten, in dieser Zeit trat Peter auch der KPD bei. Als die deutschen Faschisten Frankreich besetzen, begann er sich aktiv am Kampf der Resistance, der französischen Widerstandsbewegung, zu beteiligen. 1943 wird Peter Gingold von der Gestapo verhaftet, kann aber den Nazischergen entkommen. Im August 1944 nahm er am Aufstand zur Befreiung in Paris teil und ging unmittelbar danach nach Italien, um weiter gegen die Faschisten zu kämpfen. Den 8. Mai 1945 erlebte er an der Seite der italienischen Partisanen.
Peter Gingold war ein besonderer Mensch. Er war einer der wenigen, der mit autonomen Antifaschist*innen in den 90er und 2000er Jahren auf der Straße war, mitten unter uns, und uns immer wieder ermutigte, gegen Rassismus und Antisemitismus zu kämpfen. Ich kann den tiefen Respekt ihm gegenüber nicht besser ausdrücken als die Rede autonomer Antifaschist*innen, die bei der Trauerfeier für Peter Gingold (gestorben am 29.10.2006) am 5.November 2006 im Frankfurter Gewerkschaftshaus gehalten wurde:
„Peter haben wir als einen der wenigen kennen gelernt, der, obwohl er alleine unter Zwanzig- bis Dreißigjährigen war, an seiner antifaschistischen Praxis festhielt. Wir sind ihm dankbar für den Respekt den er uns entgegenbrachte, weil wir bereit waren, den Nazis entgegenzutreten, ihre Aktionen zu verhindern und sie anzugreifen. Dieser Einsatz und die Bereitschaft, als mutige Minderheit ohne Aussicht auf gesellschaftliche Anerkennung zu agieren, verbanden uns mit ihm…. Wir waren mit ihm nicht immer einer Meinung. Wir hatten uns für andere Organisierungsformen entschieden. Er bedauerte das, aber respektierte uns als GenossInnen und Freunde. Er ist nie missionarisch aufgetreten. Er ist uns in Debatten mit einer gehörigen Portion Selbstironie begegnet, so dass wir auch herzlich lachen und unsere unterschiedlichen Vorstellungen mit Humor betrachten konnten.“ http://antifa-frankfurt.org/peter_gingold/gingold_antifa_rede.html
Der aufrechte Gang von Peter Gingold beeindruckte mich immer wieder. Ich denke wie viele spürte ich, dass er die Mission hatte, das Vermächtnis seiner Generation weiterzugeben: und dies tat er als ganzer Mensch, leidenschaftlich, energisch, mutig und kämpferisch. Tatsächlich, auch ich war nicht mit ihm einer Meinung, ich kann mich an eine Veranstaltung erinnern, auf der er mir gegenüber saß, und auf der ich die moderne Lightversion der Volksfrontpolitik „breites Bündnis der Gemeinschaft aller Demokraten gegen rechts“ kritisierte, eine Politik, die so weit führte, dass einer CDU das Podium geboten wurde, um rechts und links gleichzusetzen. Ich sah seine dunklen Augen sehr ernst auf mich gerichtet, nachdenklich, einen Augenblick zögerte ich. Denn Peter Gingold selbst verkörperte den Kampf um die Einheitsfront gegen den Faschismus für mich wie kein Zweiter.
„1933 wäre verhindert worden, wenn alle Gegner der Nazis ihren Streit untereinander zurückgestellt und gemeinsam gehandelt hätten. Dass dieses gemeinsame Handeln nicht zustande kam, dafür gab es für die Hitlergegner in der Generation meiner Eltern nur eine einzige Entschuldigung: Sie hatten keine Erfahrung, was Faschismus bedeutet, wenn er einmal an der Macht ist. Aber heute haben wir alle diese Erfahrung, heute muss jeder wissen, was Faschismus bedeutet. Für alle zukünftigen Generationen gibt es keine Entschuldigung mehr, wenn sie den Faschismus nicht verhindern!“ Peter Gingold: Paris – Boulevard St. Martin No. 11, 2009
Das Trauma der kampflosen Niederlage 1933 gegen die Nationalsozialisten, das Trauma der Verfolgung, von Auschwitz, der Shoa, des entfesselten Weltkrieges, das Peter erlebt und erlitten hat, gegen das er sich mit ganzer Kraft mit vielen anderen gestemmt hat, ist die dunkle Seite des Vermächtnisses, das Peter weitergeben wollte: Versagt nicht! Lernt aus unseren Fehlern!
Vielleicht hatte ich mit meiner Bewertung der CDU und der Extremismus-Doktrin recht, das musste ich Peter nicht erklären, ihm, dem 1956 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, und dessen Tochter nach dem Radikalenerlass in den 70er Jahren eine Anstellung als Beamtin verwehrt wurde. Ihm, der Mitglied einer Organisation war, die noch im letzten Jahr 2018 vom hessischen CDU-Innenminister Peter Beuth als linksextremistisch eingestuft wurde. Auf eine kleine Anti-Antifa-Anfrage der FDP (Abgeordneter Greilich) führte er folgende „linksextremistische Veranstaltungen“ der VVN auf: „Gedenkveranstaltung des VVN-BdA anlässlich des Jahrestages der Bücherverbrennung durch Nationalsozialisten, Gedenkveranstaltung des VVN-BdA anlässlich des 70. Jahrestages des missglückten Attentates auf Adolf Hitler, Kundgebung zum Thema „Erinnerung an Widerstand in Ghettos, Kz’s Vernichtungslagern bis 1945“, Mahngang/ Demonstration zum Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 und eine Gedenkveranstaltung der VVN-BdA in Ffm. anl. des Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Ausschwitz-Birkenau.“ http://starweb.hessen.de/cache/DRS/19/2/05132.pdf
Übrigens ist dies eine Stellungnahme einer schwarz-grünen Landesregierung: das wundert allerdings nicht, besteht die einzige Aussage der Grünen in Hessen, die man als Kampf gegen rechts interpretieren kann, wenn man sie mit Gewalt zurecht biegt, dass die Grünen „gegen Extremismus in jeder Form“ kämpfen würden: den Extremismus der Mitte oder den Extremismus eines entfesselten Turbokapitalismus haben sie damit wahrscheinlich nicht gemeint. Und in „antiextremistischer Tradition“ verweigern mehrheitlich Grüne und CDU in Frankfurt bis heute eine angemessene Würdigung von Peter Gingold.
Ein Erbe dieser Generation des antifaschistischen Widerstandes, dass „wir“ übernommen haben, ist: alles Mögliche zu tun, um den Nationalsozialismus und seine Wiedergänger mit vielen Gesichtern, die heutigen „Killerclowns“(George Monbiot, The Guardian, 26.Juli 2019), zu verhindern, zu schlagen und endgültig zu besiegen. Und wenn man sich dafür mit seinen Gegnern verbünden muss. Trotzki hat ein einfache Beispiel von 1917 immer wieder verwendet, um diese Politik zu illustrieren: als General Kornilow gegen die Kerenski-Regierung putschte, und die Bolschewiki, um zu verhindern, dass das Petrograder Proletariat vom Kornilows Kosakenkorps abgeschlachtet wird, sich mit ihrem bürgerlichen Gegner Kerenski verbündet, und den Sozialrevolutionären und Menschewiki (russische Parteien) eine einheitliche Kampffront gegen Kornilow vorgeschlagen haben. Trotzki selbst saß in im August 1917 in Haft, und wurde entlassen, um sich am gleichen Tag im Komitee für Volksverteidigung mit denen zu treffen, die ihn inhaftiert hatten. (Trotzki, Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? 8.12.1932)
Heißt dies jedoch auf heute übertragen, für eine CDU-Regierung in Sachsen zu sein, um eine AfD-Regierung zu verhindern? Und damit sind wir mitten in den brennenden Fragen, die sich aktuell stellen. So einfach lässt sich kein ideales Beispiel aus der Vergangenheit transportieren, um heute Gebrauchsanweisung für die politische Praxis zu sein. Was hätte Peter Gingold heute gesagt, was hätte er getan? Und was Leo Trotzki?
New turn: wer sind unsere Gegner?
Die politischen Veränderungen seit den 1930er Jahren sind deutlich an der wechselnden Bedeutung der Einheitsfronttaktik zu erkennen: ursprünglich ein taktisches Bündnis für Tagesforderungen innerhalb der Arbeiter*innenbewegung, für gemeinsame Kampfaktionen und Streiks mit der SPD bei vollständiger Freiheit der Kritik und der Organisation, sollte die Einheitsfront ab 1930 eine proletarische antifaschistische Kampffront gegen den Faschismus werden: nach Vorstellung der KPD jedoch unter ihrer Führung (diese Vorstellung von Einheitsfrontpolitik revidierte die KPD später, und gab, ohne sie zu nennen, den Kritiker*innen z.B. aus der KPD-O recht). Die Bündnispolitik der kommunistischen Parteien veränderte sich mit dem Richtungswechsel sowjetischer Außenpolitik nach 1935 zur Volksfrontpolitik als Bündnis mit antifaschistischen Teilen des Bürgertums. Diese Bündnispolitik in Frankreich 1936/37 und in Spanien (Stichwort „Bürgerkrieg im Bürgerkrieg“: Volksfrontregierung gegen anarchosyndikalistische CNT und POUM) scheiterte, überlebte jedoch als kommunistischer Mythos das Weltkriegsende. In den 70er Jahren verband sich der Begriff der Volksfront mit dem Eurokommunismus, der in Frankreich, Italien und Spanien eine legalistische, kompromissbereite Politik etablierte (in Italien historischer Kompromiss/compromesso storico zwischen PCI und Democrazia Christiana DC). Zu erwähnen ist noch die Volksfrontregierung unter Allende und der frente popular in Chile 1970 bis 1973, gegen die das chilenische Militär unter Pinochet zusammen mit dem CIA putschte. (Kursbuch 46, Volksfront in Europa?, 1976, besonders Wieser/Traub, Volksfront: Geschichte und Theorie) Heute dient der Einheitsfront-Begriff zur Begründung etwa eines Bündnisaufrufs zusammen mit SPD und Grünen (Aufstehen gegen Rassismus, siehe zum Beispiel Julia Meier, im ak 617/2016).
Wenn man den ursprünglichen Ausgangspunkt der Einheitsfronttaktik nimmt, wird der aktuelle Rückgriff auf ihn zum Teil ahistorisch: aufgrund der Klassenlage gingen die Theoretiker*innen der Einheitsfront von gleichen Interessen des Proletariats aus. Die Sozialdemokratie war ihre historisch gewachsene Interessensvertretung, mit der sich notwendig politisch auseinandergesetzt werden musste, in ihr wirkte noch der Klassenantagonismus. Genau das Gegenteil stellt Johannes Agnoli 1969 in „Transformation der Demokratie“ als Grundlage des liberalen Verfassungsstaates dar: er beruht auf der Ausklammerung des Klassenantagonismus, in ihm werden stattdessen nur klassenneutrale Verteilungsprobleme Inhalt der Politik, bei unveränderter Grundlage einer Klassengesellschaft; und zweitens wird der gesamte politische Kampf auf die Formen parlamentarischer Auseinandersetzung reduziert. Volksparteien als Ordnungsparteien unterscheiden sich nur im Modus, nicht jedoch im konservativen Inhalt, sie sind ausgerichtet auf die Bildung einer „großen Gemeinschaft“ (um die Mitte als Normalitätsdispositiv) einer „pluralen Fassung einer Einheitspartei“, die einen unterschiedlichen materiellen Anteil an politischer und wirtschaftlicher Macht erhalten (Johannes Agnoli, Transformation der Demokratie, 1969, Ausgabe 1990, Kap. Programm und Technik des sozialen Friedens). Die Sozialdemokratie als eine bestimmte „Fassung der Staatspartei“ ist mit der Umwandlung zur Volkspartei nach dieser Theorie Agnolis keine Interessenpartei der Arbeiter*innenklasse mehr, in der der Klassenantagonismus wirksam ist und sich ausdrückt, was die Basis eines gemeinsamen Bündnis oder traditionell Einheitsfront im klassenkämpferischen Sinn gewesen war, sondern Moderator von Verteilproblemen einer herrschaftsneutralen Gerechtigkeit (Wohnraum, Steuergerechtigkeit, Menschenrechte, Löhne, kulturelles Kapital, staatliche Zuschüsse und Investitionen, Alimentierung, Personalstellen, Kostenverteilung). Die heutige neoliberalisierte Sozialdemokratie ist jedoch nicht einmal eine „Volkspartei“ mehr, sondern nur noch eine Hülle davon, gespalten in kommunale und regionale Mängeladministration und opportunistische Staatspartei, die sich an die Regierungsmacht klammert, und die ihre klassenneutrale Moderator-Rolle immer weniger ausfüllen kann.
Der normale Opportunismus der Sozialdemokratie und Grünen
“In eine Regierung von Angela Merkel werde ich nicht eintreten. Ganz klar!” Martin Schulz am Tag nach der Bundestagswahl, 25.09.2017; am 20.11.2017 „SPD schließt große Koalition aus“, und am 21.01.2018 nach dem Sonderparteitag „Die SPD will mit der Union über eine große Koalition verhandeln“, am 7.Februar 2018 „Martin Schulz will nach einem positiven Mitgliedervotum zur Großen Koalition Außenminister werden“.
Die Schwesterpartei der SPD in Österreich SPÖ hat 2015 eine Landesregierung mit der FPÖ gebildet (Burgenland), und diese bis heute nicht beendet, Neuwahlen soll es erst im Januar 2020 geben. Auch nachdem Sebastian Kurz (ÖVP) nach dem Ibiza-Gate der FPÖ die blau-schwarze Koalition in Wien am 18.Mai 2019 auflöste, sah sich die SPÖ im Burgenland nicht gezwungen, sich von der FPÖ zu distanzieren. Der ehemalige Verteidigungsminister und burgenländische Landeshauptmann der SPÖ Hans Peter Doskozil sprach sogar zur Europawahl davon, dass ein Nein zu Rot-Blau für ihn “nicht Parteilinie” sei. Der Rechtsruck der österreichischen Sozialdemokratie ist vielleicht ein Vorbild, für das was noch kommen könnte:
“Seit 2016 hat der Rechtsruck jedoch eine neue Qualität erreicht und die Koordinaten des politischen Systems dauerhaft verschoben. Die damals regierende Koalition aus Sozialdemokratie (SPÖ) und Konservativen (ÖVP) setzte nach dem Sommer der Migration 2015 auf staatlichen Rassismus und autoritäre Maßnahmen. Während sich hunderttausende Menschen auf den Weg nach Europa machten, entstand in Österreich eine riesige, solidarische Bewegung, die Geflüchtete willkommen hieß und praktische Hilfe leistete. Doch eine größere politische Artikulation dieser neuen Solidarität fehlte und es folgten rasch die politischen Gegenreaktionen. Die vielen Menschen, die nach wie vor in Solidaritätsinitiativen aktiv sind, bleiben bis heute politisch ungehört. 2016 und 2017 wurde in Österreich unter Rot-Schwarz Ganzkörperverschleierung verboten, eine Obergrenze für Geflüchtete eingeführt, das Versammlungsrecht eingeschränkt, wurden Asylbewerber*innen zu »Wertekursen« verpflichtet und durch ein »Staatsschutzgesetz« neue Überwachungsmöglichkeiten geschaffen, um nur einige Beispiele zu nennen. Ex-Parteichef und damaliger Bundeskanzler Christian Kern versuchte die Partei zu modernisieren, um ihre Macht abzusichern. Er setzte auf den Staat als modernen wirtschaftspolitischen Gestalter, der durch unternehmensfreundliche Politik Innovation, Wachstum und Jobs sichert. Gleichzeitig schwenkte die SPÖ in Migrations- und Asylfragen völlig auf FPÖ-Linie ein. Der damalige SPÖ-Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil plante Abschiebungen mit Militärmaschinen und im Wahlkampf forderte Kern selbst Flüchtlingslager in Nordafrika. Politisch öffnete sich die SPÖ für eine mögliche Koalition mit der FPÖ. Sie versuchte nicht einmal mehr, der rechten Hegemonie etwas entgegenzusetzen, sondern sie zu nutzen, um an der Macht zu bleiben.“ Lisa Mittendrein, Mai 2019
Der opportunistische Machtkern der „Sozialdemokratie“, zu Hause in der Staatsverwaltung und ihren Wirtschaftsunternehmen, ist kein sicherer Kandidat einer antifaschistischen Koalition, auch wenn die politischen Hemmungen mit der AfD zu koalieren in Deutschland noch größer sind. Auch Die Grünen sind als inzwischen etablierte aber „unverbrauchte“ Kraft Teil des von Agnoli beschriebenen Systems der „einheitlichen Staatspartei“, dessen harte Währung nicht Moral und Prinzipien sind, sondern Einfluss, Geld, Wählerstimmen und Macht. Daher lesen sich ihre Karrieren so frappierend ähnlich: der oben genannte Österreicher Christian Kern ist da fast idealtypisch: nach dem Rücktritt als Bundeskanzler ist er seit 2019 Mitglied des Aufsichtsrats der russische Staatsbahn RZD, und trat der Blue Minds Group seiner Ehefrau Steinberger-Kern bei, vor der Kanzlerschaft machte er Karriere bei der Verbund-AG (staatliches Elektrizitätsunternehmen), den ÖBB (Österreichische Bundesbahnen), deren Vorstandsvorsitzender er 2010 bis 2016 war. Ob ihm dabei seine Gramsci-Schulungen als Student und Rotpress-Chefredakteur nützlich waren, ist nicht bekannt. Matthias Berninger von den Grünen, der Jungstar von Anfang der 2000er Jahre und Joschka Fischer-Zögling, direkter „Vorfahr“ von Kevin Kühnert, war 2001 bis 2005 parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium Verbraucherschutz, dies qualifizierte ihn umgehend dazu, Lobbyist für den Süßwaren – und Nahrungsmittelkonzern Mars Incoperated zu werden, und danach Leiter des neu geschaffenen Bereichs „Öffentlichkeit und Nachhaltigkeit“ bei der Bayer AG nach deren Kauf des US-amerikanischen Unternehmens Monsanto. Ob Berninger Antifaschist ist? Nach Wikipedia ist er wirtschaftsliberaler Anhänger der New Economy; ob ihn das qualifiziert?
Ich hatte die antifaschistische Null-Prozent-Programmatik der hessischen Grünen erwähnt, ihr „Standpunkt“ zum Rechtsextremismus läuft unter „Kampf gegen Extremismus in jeder Form“ im Koalitionsvertrag mit der CDU unter präventiver Sicherheitspolitik nebenbei mit. Ihre gesellschaftspolitische Positionierung lässt sich nur verschlüsselt aus den Standpunkten gegen Diskriminierung von Minderheiten erschließen. Im NSU-Ausschuss waren sie gehorsamer Partner der CDU, der aktuell die Verkürzung der Sperrfristen von NSU-Akten von 120 auf 30 Jahre als Erfolg politischer Vernunft verscherbelt: Stattdessen muss eine notwendige antifaschistische programmatische Forderung sein, alle NSU-Akten freizugeben, um die gesamte Verstrickung von Teilen des Staatsapparats in den NS-Terror aufzuklären und endlich den nationalen Schweigekonsens zu brechen. Natürlich, optimistisch gesehen, wie es das „Institut solidarische Moderne“ sieht, kann der Aufstieg der Grünen als Antwort der Wählerinnen und Wähler auf die Legitimationskrise der anderen Staatsparteien gelten und gleichzeitig als Ablehnung der aufkommenden Rechten und ihrem rassistischen, antifeministischen und autoritären Kurs“ interpretiert werden.“(Diskussionstext des ISM zur Konferenz am 13.6.2019): das ISM unterschlägt dabei jedoch, dass die Lieblingskoalition der Grünen-Wähler*innen die schwarz-grüne Koalition ist, und keine Linksregierung, die derzeit von den Grünen-Führung als zweite Wahl wahrgenommen wird: wer begibt sich schon freiwillig in eine „Koalition der Verlierer“ mit einer rasant verfallenden SPD und einer stagnierenden Linken? Hier ist der Parlamentarismus als Lebenselixier der Wahlparteien wirksam: Auf das parlamentarische Taktieren, Intrigieren und Ausbalancieren der Interessen wird ein antifaschistisches Lager keinen Einfluss haben. Es muss „auf alles vorbereitet“ sein und kann „niemanden“ vertrauen. Und auf keinen Fall dem historischen Stigma, dass der AfD als faschistischer Partei anhaftet; das „Weißwaschen“ hat schon längst angefangen. Boris Palmer ist die Tür der Grünen zur AfD, Thilo Sarrazin war sie in der SPD.
Sind Grüne und Sozialdemokraten dann keine potentiellen Bündnispartner in einer antifaschistischen Einheitsfront? Die-Wähler*innen der Grünen sind mit der bundesdeutschen Willkommenskultur verbunden, mehrsprachig, gut ausgebildet, „weltoffen“, international vernetzt und kulturell interessiert, sehen die Nützlichkeit einer multikulturellen Kultur (und der polnischen Pflegekräfte und dem bulgarischen Reinigungspersonal) und weniger Nachteile von Einwanderung, zum Beispiel im Vergleich zu Linken-Wähler*innen (zugehörige Studie weiter unten). Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dies eng mit ihrer eigenen Klassenlage zu tun hat, einer Schicht, die stark von einer internationalen Arbeitsteilung profitiert. Traditionell marxistisch würde man sie dem klassischen (idealtypischen) Liberalismus zuordnen, deren politische Agenda der Freihandel, sozialer Frieden und Freiheitsrechte war. Dem liberalen Bürgertum des 19.Jahrhundert stand das autoritäre konservative Bürgertum entgegen, dass dem liberalen Pazifismus den Imperialismus, dem freien Weltmarkt die Schutzzollpolitik und den starken nationalen Staat entgegensetzte. (z.B. in Arthur Rosenberg, Der Faschismus als Massenbewegung, 1934, Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, 1934: in Wirklichkeit war das liberale Bürgertum des 19.Jahrhunderts nicht pazifistisch, führte genauso Kriege, und war gegenüber den subalternen Klassen, dem wachsenden Proletariat immer bereit, Freiheitsrechte aufzuheben). Der heute vorherrschende Neoliberalismus, welcher nur in der Krise staatliche Marktregulierung und Protektion duldet, ist kein Kontrahent totalitärer Gesellschaftsvorstellungen. Auf einer Anfang Juli 1999 stattgefundenen Diskussion über den Kapitalismus in der Herrnhausen-Gesellschaft argumentierten Eaton und Schrempp, die damaligen gemeinsamen Chefs von Daimler/Chrysler:
„Dem freien Markt könne der Staat keinen Einhalt mehr gebieten. In der globalen Welt könnten auch nationale Grenzen die „Untüchtigen nicht mehr schützen.“
Eine staatliche Sozialpolitik, soziale Zielstellungen hätten in der Wirtschaft nichts zu suchen: „Schwache müssen sich verändern, oder sie gehen unter“. (Die Welt vom 3.7.1999)
Die Funktion des Staates bei der neuen neoliberalen Ordnung gegen den Wohlfahrtsstaat (dem alten „gerechten“ Kompromiss des sozialen Friedens) besteht konzeptionell darin, in einer Art kalten Bürgerkrieg mit „Monopolen“ (z.B. Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt, der Tarifautonomie), „verkrusteten Strukturen des Versorgungsstaates“ (wie dem staatlichen garantierten Rentensystem zugunsten der risikobelasteten Privatrente auf dem Finanzmarkt) und „Leistungsverweigerung“ (Hartz IV- Regime gegen soziale Absicherung vor Verarmung) aufzuräumen. (Wollt ihr den totalen Markt? Der Neoliberalismus und die extreme Rechte, Schui u.a.1997). Im Zeitalter knapper werdender Ressourcen, stärker werdender nationaler Konkurrenzen, soll der „kalte Bürgerkrieg nach innen“ die größtmögliche Rendite für die Unternehmen absichern, als höchstes Recht das Eigentum durchzusetzen, befreit von der altehrwürdigen sozialen Verantwortung, um das Einkommen der subalternen Klassen gründlich und restlos abschöpfen: wieso sollen bei Mieten irgendwelche staatlichen Eingriffe in die Einkommensverteilung zugunsten der Wenigen und zulasten der Vielen geduldet werden? Der Immobilienbesitzer entwickelt sich regressiv zurück zum Patron, dem halbfeudalen Großgrundbesitzer, der auf seinem Eigentum der Herr sein will, dem der besitzlose Tagelöhner ausgeliefert ist. Natürlich ist diese besitzende Klasse extrem antisozialistisch! Die rotgrüne Bundesregierung 1998 bis 2005 hatte den „kalten Bürgerkrieg“ zugunsten der besitzenden Klasse innergesellschaftlich fortgesetzt, aber dabei die Gewerkschaften und die Tarifautonomie noch verschont. Die „neue Mitte“, die damals im Wahlkampf von Gerhard Schröder beschworen wurde, steht der „alten Mitte“ gegenüber.
„Die neue Mitte setzt auf die modernisierte Variante eines „grünen Kapitalismus“, der vermeintlich ökonomischen und ökologischen Fortschritt zu versöhnen vermag und damit in Zukunft alles wieder gut werden lässt. Die alte Mitte bleibt der Vergangenheit verhaftet, und damit jenen – im Wortsinne- reaktionären Modell eines „sozialen Kapitalismus“, der sozial vor allem für den selbsternannten „produktiven Kern“ der Gesellschaft war und ist. Wo sich andererseits aber beide Klassenfraktionen treffen ist eben in dem fundamentalen Anliegen, einen historischen Bruch mit der wohlstandskapitalistischen Gesellschaftsformation verhindern zu wollen. Hierbei gibt es beim gemeinsamen Klasseninteresse kein Vertun, hier verschmelzen neue und alte Mittelklassen –die einen sich aufgeklärt-weltmännisch gebend, die anderen eher kleinkariert und schon einmal offen chauvinistisch – zu einer großen Koalition der Wohlstandsbewahrer.“ (Stephan Lessenich, in Enzo Traverso, Die neuen Gesichter des Faschismus, 2019)
Insofern bleibt die Analyse des ISM, dass die Grünen parlamentarische Repräsentation der „starken Gegenbewegungen gegen die AfD und den Rechtsruck“ (Diskussionstext des ISM zur Konferenz am 13.6.2019, https://www.solidarische-moderne.de/de/article/549.und-zweitens-als-man-denkt.html) wären, an der Oberfläche der Erscheinungen, um mit der „sozialen Frage“ gleichzeitig auch den durchschimmernden Klassencharakter der Auseinandersetzungen auszuklammern. Das gemeinsame Klasseninteresse der beiden genannten bürgerlichen Fraktionen ist die Bewahrung einer privilegierten Lebensweise, (ich bin mit dem Bild Lessenichs der alten und neuen Mitte nicht einverstanden, lasse es aber vorerst so stehen: ich denke, dass die „Neuen“ und die „Alten“ unterschiedliche politische Agenden haben, ähnlich wie Liberalismus und Konservatismus im 19. Und 20.Jahrhundert; in dem Sinn sind beide Fraktionen rückwärtsgewandt und modern zugleich) die auf Ungleichheit, Ausbeutung und Abwälzung der Krisenkosten auf die besitzlosen Klassen beruht.
Der versöhnende Green New Deal verspricht dabei mehr Teilhabe für alle, und versucht so für sich als „moderner“ Moderator der Verteilungsprobleme zu werben, der gleichzeitig allen alles zusagt: dem Kapital neue Absatzmärkte und Profit mit einer neuen industriellen Revolution, den Lohnabhängigen sinnvolle Beschäftigung, den Konsumenten Gesundheit und Nachhaltigkeit, und den armen Ländern des Südens faire Arbeitsbedingungen in einer neuen moralischen Ökonomie. Zur Grundausstattung gehört, dass die kapitalistische Herrschaft unangetastet bleibt, Ausgangsbasis der Weltökonomie ist. In der Krise jedoch verblasst die Vorstellung einer vernünftig und kooperativ handelnden Weltgesellschaft, internationaler Expansionismus, staatliche Ordnungspolitik und Abschottung, Protektionismus und Imperialismus des Recht des Stärkeren sind die Agenda, die eine Krisenlösung verspricht. Das Kapital, im Kampf ums Überleben, braucht plötzlich wieder die Superstrukturen und starke nationale Staaten. Daimler/Chrysler und sein oben zitiertes multinationales Management konnte sich 1999 nicht vorstellen, selbst zu „den Schwachen“ zu gehören, der Wertverlust nach der Fusion von Daimler und Chrysler zur “ersten deutschen Welt AG” (Schrempp) betrug 2007 an den Börsen 50 Milliarden Euro. Um den angeschlagenen Konzern zu stützen, brauchte das Management die nationalen Staaten als Auftraggeber und Partner, zum Beispiel um Regierungsaufträge in Russland, Ägypten, der Türkei und China zu erhalten, für die Bestechungsgelder „zweistelligen Millionenbereich“ gezahlt wurden. Aktienbesitz an der Daimler AG hat heute nicht nur Kuweit, sondern auch China vertreten durch den staatlichen Automobilkonzern BAIC.
Der „neue Krisen-Imperialismus“, am liebsten gegen die Schwachen, dahinter jedoch gegen die zu stark gewordenen großen Gegner, entspricht die neue Härte „nach unten“, die die deutsche Sozialdemokratie zuletzt in großer Koalition aus CDU, FDP und AfD mit dem Haut-ab-Gesetz am 7.Juni 2019 exekutierte (372 Abgeordnete stimmten für das »Geordnete-Rückkehr-Gesetz«, 159 dagegen, 111 enthielten sich. Neben den Linkspartei- und Grünen-Parlamentariern lehnten es acht Sozialdemokraten ab). Sie feierte sich selbst dafür im schönsten Neusprech:
„Es ist ein wirklich wichtiges Migrationspaket, das sich sehen lassen kann“, sagt die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Eva Högl zu den sieben Gesetzesvorhaben, die am Freitag im Bundestag beschlossen werden sollen. Dafür habe man in der Koalition „lange und intensiv verhandelt“. Das Gesetzespaket beinhalte einen Dreiklang vom humanitären Asylrecht, einer intensiven Anstrengung bei der Integration und der Rückführung von Menschen, die kein Bleiberecht in Deutschland haben. Als besonderen Erfolg bezeichnete Högl das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, für das die SPD lange gekämpft hatte: „Das ist ein riesengroßer Schritt nach vorne für ein geordnetes Migrationsrecht.“ (Vorwärts vom 4.Juni 2019)
In eine Sprache der Tatsachen übersetzt: Die Gesetze dienen dazu, die Lebenschancen vieler Migrant*innen in Deutschland einzuschränken, sie machen ihr Leben noch unerträglicher; für alle Arbeit, Freiheit und Frieden Suchenden. Gegen die Proteste von Pro Asyl, Flüchtlingsräten, Parität , der AG sozialdemokratischer Jurist*innen und Juristen, und rund 100 Sozialdemokrat*innen an ihre Genoss*innen im Parlament, unter ihnen Basismitglieder, aber auch Serpil Midyatli, SPD-Landesvorsitzende in Schleswig-Holstein, die stellvertretende Juso-Vorsitzende Katharina Andres, Ibrahim Yetim, integrationspolitischer Sprecher seiner Fraktion im Nordrhein-Westfälischen Landtag sowie Aziz Bozkurt, Bundesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt in der SPD und zahlreiche weitere Mitglieder der AG, peitschte dies der opportunistische Machtkern der SPD innerhalb der Partei in kurzer Zeit durch. Zu Recht stellt sich daher zusammengefasst die Frage:
Sind die Grünen und die Sozialdemokraten in nüchterner Kenntnis des Inhalts und des Charakters ihrer Politik Bündnispartner gegen die Faschisierung der Gesellschaft?
Der demokratische Reformismus als Bündnispartner
Der demokratische Reformismus ist Bündnispartner, weil der Faschismus ihr Todfeind ist und auch dann bleibt, wenn sie ihm entgegenkommen. Die Terrordrohungen gegen Kommunalpolitiker*innen, die Shitstorms gegen Prominente, Journalist*innen, Musiker*innen, markieren das Feindbild der Faschisten recht gut, und trotzdem bleibt es immer noch an der Oberfläche. Matteo Salvinis Wut gegen die italienische Justiz, die Kampagne der FPÖ gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ORF und den Moderator Armin Wolf, die Netzattacken gegen alle Seenotrettungsorganisationen, alle einzelnen Angriffe, sind nur die Vorhutgefechte einer totalitären Gesellschaftsvorstellung. Es sollen nicht nur alle kritischen Stimmen resigniert offline gehen, mit angepassten Taktiken zermürbt werden. Dahinter steht der Angriff auf alle echten Demokrat*innen (Der Gegencharakter zur autoritären Persönlichkeit in „Studien zum autoritären Charakter“ ist der oder die genuine Liberale; Adorno, 1950), auf alle Vorstellungen und Rechtsauffassungen von (formaler) Gleichheit, universalistischer Ethik und Demokratie, ob in staatlichen Institutionen wie Justiz, Gesundheitsvorsorge, Schulen, Universitäten, Instituten, auf die Freiheit der Kunst im Kulturbetrieb wie Theatern, Museen, Opern und Galerien, und Stiftungen, Auffassungen von rationalen Prinzipien der Wissenschaft wie Eindeutigkeit, Überprüfbarkeit, Kausalität und Transparenz, Freiheit der Kritik in Forschung und Lehre, auf eine normative Rechtsprechung und Gesetzgebung, die nicht diskriminierend ist, und Macht dem Recht unterordnet, die Rechte der Individuen garantiert durch eine an Legalität orientierten, die Demokratie kämpferisch verteidigende Exekutive. Schulen, die allen Schüler*innen gleiche formale Bildungschancen einräumt, unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht, Klassenlage (auch wenn dies nicht heißt, dass es keine Diskriminierung und Ungleichheit mehr gibt, sind die Institutionen an ihr im Rahmen ihrer reformerischen Möglichkeiten interessiert, diese zu beenden, zu mildern oder abzuschwächen). Betriebe, die Flüchtlingen Ausbildungsplätze anbieten, demokratische und solidarische Gewerkschaften entsprechen nicht der faschistischen Gesellschaftsvorstellung. Die Millionen Menschen in Deutschland, die alltäglich am Arbeitsplatz, in den Institutionen, Gewerkschaften, Berufsverbänden, Gemeinden und Vereinen eine „demokratische Wirklichkeit oder Gesellschaftlichkeit“ schaffen, sind, ohne identisch mit den oben genannten Parteien die Grünen, die Linke und die Sozialdemokraten zu sein, oft ohne es zu wollen, Angriffsziel faschistischen Terrors und der legalen Machtstrategien der Faschisten. Insofern ist die Beschreibung zweier konkurrierender Fraktionen von Stephan Lessenich unvollständig:
Der Faschismus ist nicht identisch mit einem konservativen Bürgertum, auch bei großer ideologischer Affinität innerhalb des Konservativismus; er ist eine dritte Kraft, die „alte und neue Mitte“ unterwerfen will.
Es gibt keine Interessenskongruenz zwischen egalitärem Reformismus und Faschismus: er ist Repräsentant „natürlicher Ungleichheit“. Die skizzierte „demokratische Gesellschaftlichkeit“ schafft Ungleichheit nicht ab, denn Klassengesellschaft und Herrschaft bleiben weiter bestehen: trotz aller Programme und Anstrengungen, Kindern aus Arbeiter*innen-Familien den Zugang zu Universitäten zu ermöglichen, sind es überwiegend Kinder aus Akademiker-Familien, die studieren https://www.arbeiterkind.de/news/sozialerhebung-des-deutschen-studentenwerks. Der Trend zu Privatschulen, zum Nachhilfeunterricht ab der Grundschule wird den Konkurrenzkampf verschärfen: wer kann es sich leisten, an die Universität zu kommen? Der Bundestag beispielsweise zeigt eine Berufsstruktur, in der die Jurist*innen dominieren, die sogenannten „unteren Berufsgruppen“ fehlen fast völlig. Keine Hebamme, kein Erzieher, kein Bauarbeiter und keine Tischler*in sitzen im Bundestag. Es besteht fortlaufend die Gefahr, dass das Gleichheitsversprechen zur Ideologie erstarrt, zu einer Lüge, die die „Wahrheit“ nicht aussprechen will. „Die deutsche Bevölkerung betrachtet mehrheitlich Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte dort, wo diese Ideen sich nicht in materieller Sicherheit und einem angemessenen Lebensstandard niederschlagen, als reine Ideologie. Die Weimarer Republik konnte diese Ideen nicht verwirklichen, und solange die deutschen Massen selbst nicht von ihnen profitieren, interessiert es sie nicht, was in den anderen Demokratien geschieht …Im Verlauf seiner allmählichen Desillusionierung hat das deutsche Volk gelernt, alles, was nicht durch nackte Tatsachen untermauert ist, als Ideologie im Sinne einer absichtsvollen Verzerrung der Tatsachen durch Interessengruppen zu betrachten. Folglich wird die Berufung auf Menschenrechte, demokratische Freiheiten, moralische Gesetze, Menschenwürde usw. den Deutschen ebenso fremd und verdächtig vorkommen wie uns die nationalsozialistische Weltanschauung“ (S.29 und 52, Memorandum die Neue deutsche Mentalität, Herbert Marcuse, 1942, in Feindanalysen, Über die Deutschen, 1998) Die Propaganda der Rechten/AfD zielt genau in diese „Schwäche“ des demokratischen Reformismus und stellt ihn selbst als Ideologie von egoistischen Interessensgruppen dar (so wird der Feminismus zum Berufsinteresse von Akademikerinnen umgedeutet, oder zum Machtinteresse bösartiger Frauen, die Männer unterdrücken wollen, verzerrt, und damit dessen Inhalt, das Gleichheitsversprechen für alle Menschen, herabgewürdigt und geleugnet). Die AfD greift ebenso das „Gleichheitsversprechen“ der westdeutschen „plural verfassten Einheitspartei“ (CDU/CSU, FDP, SPD, Grüne) an, „die Lüge“ von den blühenden Landschaften an,
„Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“ (Helmut Kohl, 1.Juli 1990, Fernsehansprache zum Anlass der Währungsunion)
konfrontiert sie mit „den Tatsachen“, und trifft damit – mit „Wahrem im Unwahren“ einen Nerv der verbreiteten Stimmung in den östlichen Bundesländern, die sich immer noch angesichts ungleicher Löhne und Reichtumsverteilung als „abgehängte Bürger*innen 2.Klasse“ fühlen, bei gleichzeitiger Entwertung ihres kulturellen und sozialen Erbes und der Zerstörung wirtschaftlicher Strukturen durch die Treuhand. Man hatte „ihnen“ mit der Wiedervereinigung nationale Identifikation mit Großdeutschland und persönliche Aufstiegschancen versprochen, real kamen Arbeitslosigkeit, Niedriglohnsektor und der Verlust von Erspartem in der Finanzkrise an. Die AfD versucht die Linke als „Ostpartei“ zu beerben und die Wut über das Zurückgesetzt-Sein mit dem Hass auf alles „Undeutsche“ anzureichern – so entsteht der merkwürdige Typus einer Schicht, die sich als „unterdrücktes und besiegtes Volk“ fühlt. Dieser Typus ist in den westdeutschen Ländern in derartiger Breite undenkbar.
Der demokratische Reformismus war am Ende der Weimarer Republik aus Sicht der Faschisten und der besitzenden Klasse ein großes politisches Problem. Die Kommunisten waren hauptsächlich ein polizeiliches, weniger ein politisches und nur begrenzt ein wirtschaftliches Problem für die Unternehmer. Sie waren isoliert, in keiner Regierung, hatten keine Exekutivgewalt, waren nicht im Staatsapparat und Gewerkschaften leitendend verankert; auch die Mitgliederstruktur der KPD hat sich ab 1929 verändert, junge Erwerbslose überwogen diejenigen, die noch Arbeit hatten. Der sozialistische Reformismus war auch das erste Angriffsziel der italienischen Squadristi (militante Stoßtrupps) in Italien 1921. Die sozialistischen Gemeindeverwaltungen, Gewerkschaftshäuser, Arbeitskammern und Genossenschaften in der Poebene, der Reggio Emiliana, Lombardei, Venetien und der Toskana wurden systematisch angegriffen, erobert und zerstört. Im ersten Halbjahr 1921 waren 17 Zeitungsredaktionen, 59 Volkshäuser, 119 Gewerkschaftszentralen, 107 Genossenschaften, 83 Bauernligen, 141 Lokale der PSI und KPI, 100 Kulturheime und 53 Arbeitererholungsheime zerstört und verbrannt worden, insgesamt 726 Institutionen. Die Großgrundbesitzer und die Faschisten der Städte stürzten sich in terroristischen Strafexpeditionen auf diese Einrichtungen, weil sie legal unangreifbar waren, und ihre wirtschaftliche Macht (z.B. der Arbeitsvermittlung und der Kontrolle der Arbeitsbedingungen) aus Sicht ihrer Gegner unverschämt groß und bedrohlich geworden war (Angelo Tasca, Glauben, Gehorchen, Kämpfen, Aufstieg des Faschismus in Italien, 1938).
Der demokratische Reformismus ist nicht nur aus taktischen Gründen ein Bündnispartner, unabhängig von seiner parlamentarischen Repräsentation und seiner ideologischen Verformungen. Die echte kulturelle Offenheit und nicht ihre Ideologisierung, die Stärkung der Autonomie des Individuums und der Kritik und nicht das Ignorieren realer Ohnmacht und Abhängigkeiten, das Engagement für Gleichheit und nicht die Illusion davon ergibt eine gemeinsame Interessensbasis, auf der erst ein Bündnis aufgebaut werden kann – es ist dann nicht nur ein Abwehrbündnis aus negativen Gründen, weil alle den gleichen Feind haben.
Emil Goldmann September 2019
Teil I findet sich hier: Dieser Feind steht rechts!
Teil II findet sich hier: Dieser Feind steht rechts!
Literaturauswahl:
Herbert Marcuse, Feindanalysen, 1998
Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, 1969
Angelo Tasca, Glauben, Gehorchen, Kämpfen, Aufstieg des Faschismus in Italien, 1938
Enzo Traverso, Die neuen Gesichter des Faschismus, 2019
Peter Gingold: Paris – Boulevard St. Martin No. 11, 2009
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