Rezension von Prof. Hans See:
Der Rechtsstaat im Untergrund |Big Brother, der NSU-Komplex und notwendige Illoyalität
Wolf Wetzel | PapyRossa Verlag, Köln, 2015
Wolf Wetzel analysiert den Doppelcharakter des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, der bekanntlich für den Typus kapitalistische Demokratie steht.
Die kapitalistische Demokratie ist nicht irgendeine, sondern eine wehrhafte. Sie basiert auf der im Kalten Krieg entwickelten Totalitarismustheorie und verteidigt nach dem Selbstverständnis ihrer als regierungsfähig eingestuften Politiker die „bürgerliche Mitte“, das heißt: die „Soziale Marktwirtschaft“.
Der Feind ist der revolutionäre Antikapitalismus, sind Kommunisten, mehr aber noch der demokratische Reformsozialismus. Deshalb wurden beim Wiederaufbau der westlichen Sicherheitsdienste vor allem bewährte Kommunisten- und Sozialistenjäger bevorzugt, „entnazifizierte“ Nazis.
Sie mussten nur ihren Antisemitismus unterdrücken, und schon waren sie berechtigt, ihre antifaschistischen Feinde – nun als Demokratiefeinde und Menschenrechtsverletzer – zu verfolgen. Diese wurden dann vom naziverseuchten Verfassungsschutz als Verfassungsfeinde eingestuft, ihre Parteien und Funktionäre bespitzelt, von V-Leuten unterwandert, kriminalisiert. Es entstand der „staatseigene Untergrund“ mit Namen „stay behind“, dessen Existenz erst nach 40 Jahren eingestanden wurde.
Das sind wichtige Ausgangspunkte von Wetzels Demokratieanalyse. Von hier aus durchleuchtet er das Verhältnis von offiziellen, nach Recht und Gesetz demokratisch kontrollierten Staatsapparaten zu ihren Geheimdiensten und Verfassungsschützern. Letztere sollen den Rechtsstaat schützen, doch im Kalten Krieg, und – verstärkt – danach, hat sich daraus ein absichtlich unkontrollierter Rechts-Staat im Untergrund entwickelt. Wer dabei an James Bond denkt, liegt falsch. Der stellt sich seinen Gegnern mit vollem Namen vor und erlegt sie, wie man lästige Fliegen klatscht. Mit etwas mehr Aufwand, versteht sich. Kinokonzerne wissen, was Kommunistenjäger wünschen.
Wetzel führt uns dagegen durch die „Welt der Spitzel“ und der V-Leute, wie Dante seine Leser durch die Hölle. Ein Buch über die noch nicht vollendete, aber angestrebte und weitgehend realisierte „Weltherrschaft“ der Überwacher. Vielleicht hat der Autor Recht, wenn er immer noch die Behörden als eigentliche Gefahrenherde im Visier behält.
Aber wenn man das von ihm zusammengetragene Beweismaterial genauer betrachtet, sind längst nicht mehr nur die Staatsapparate das Problem. Sie spielen meist nur noch die ihnen von der Weltmacht Kapital zugewiesene Rolle, können Souveränität nur noch demonstrieren, wenn sie sich aus Sicht der Weltkonzerne rentieren. Wo sie das nicht oder nicht mehr tun, werden sie ausgehungert. Für Weltkonzerne sind Staaten nur noch Standorte, die ihnen größtmögliche Vorteile bieten müssen. Wetzel zeigt unter anderem am britischen Telekommunikationskonzern COLT, wie die Kooperation von Wirtschafts- und Staatsgewalt funktioniert. Offiziell bietet COLT Groß- und Geschäftskunden einen „privilegierten, sicheren und zuverlässigen Datenverkehr“, inoffiziell aber dem britischen Geheimdienst die Möglichkeit, diesen Datenverkehr nach Belieben – und natürlich bezahlt aus Steuergeldern – abzuschöpfen (S.33). So verdient der Konzern einmal am legalen, dann noch einmal am illegalen Kapitalismus.
Wetzels Buch führt uns durch die Unterwelt der kapitalistischen Demokratien und analysiert viele aktuelle Probleme, von den Zeiten des Kalten Krieges bis hin in die noch nicht juristisch aufgearbeitete Gegenwart des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Außerdem analysiert der Autor auch die Feindbildproduktion unserer Zeit, in der dem Islamismus die Rolle zugedacht ist, die früher der Kommunismus zu erfüllen hatte: den durch den Mehrwerthunger des Kapitals gefährdeten Zusammenhalt der Klassen künstlich aufrechtzuerhalten. Da es in diesem System kein „Außen“ mehr gibt, weshalb Aussteigerbewegungen regelmäßig scheitern, müssen wir ihm die Loyalität aufkündigen. Wie Snowden sagte: „Bei Missbrauch der Macht ist Verrat keine Beleidigung.“ Man könnte auch sagen, „… ist Verrat kein Verbrechen“. Denn was derzeit – so Wetzels Fazit – als „Geheimnisverrat verfolgt werden soll, ist nichts anderes als das Innenleben eines staatseigenen Untergrunds.“ (S.203)
Veröffentlicht in: BIG 4/2015 | S.38
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