Der Rechtsstaat im Untergrund | Eine Rezension

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Verschwörungspraxis

Herrschaftssprache überdenken: Wolf Wetzels Buch »Rechtsstaat im Untergrund – Big Brother, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität«
Von Claudia Wangerin
Mehr oder weniger harmlose Geheimnisse vor dem Staat zu haben, das wird für Normalsterbliche immer schwieriger, wenn sie moderne Kommunikationsmittel nutzen. Das ist spätestens seit Edward Snowdens Enthüllungen über die Massenüberwachung durch den US-Geheimdienst NSA bekannt. Die deutschen Regierungen, so der Publizist Wolf Wetzel, »sind nicht Opfer, sondern integraler Bestandteil dieses totalitären Überwachungssystems«. Umgekehrt nimmt sich der Staat heraus, jede Menge dunkler Geheimnisse vor seinen Bürgern zu haben. Das wissen alle Interessierten spätestens seit Bekanntwerden der Aktenvernichtung im Bundesamt für Verfassungsschutz kurz nach der Aufdeckung des terroristischen »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU).
Nur wer beide Geheimdienstskandale zusammen denkt, kann die volle Tragweite jedes einzelnen begreifen. Das hat Wolf Wetzel in seinem Buch »Rechtsstaat im Untergrund – Big Brother, der NSU-Komplex und die notwendige Illoyalität« herausgearbeitet, das im PapyRossa Verlag erschienen ist.
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»Wer etwas anderes als die offizielle Version für das Wahrscheinliche, für das immer Wahrscheinlichere hält, ist nicht mit den Fakten vertraut, sondern irregeleitet«, gibt er die staatstragende Haltung wieder. »›Verschwörungstheorie‹ wird dann geraunt, von jenen am lautesten, die die Praxis dazu sehr gut beherrschen.«
Sicher, manchmal trifft die Killerphrase zufällig die Richtigen – gibt es doch zu dieser Thematik jede Menge Wortmeldungen von Bloggern oder Publizisten, die im harmlosesten Fall wirr und abgeschmackt, wenn nicht interessengeleitet wirken.
Wetzel kann aber seine Schlussfolgerungen gut nachvollziehbar begründen. Auch wer im Detail seine Angaben über Prozent-Wahrscheinlichkeiten für gewagt hält, muss im großen und ganzen seine Gedankengänge ernst nehmen. Staatsgläubige, die Wetzel »esoterisch« nennt, werden sein Buch ohnehin nicht zu Ende lesen. Völlig zu Recht kritisiert er den unreflektierten Gebrauch von Herrschaftssprache, mit der suggeriert wird, eine Verschwörungspraxis und kriminelle Energie in staatlichen Institutionen seien etwa so unwahrscheinlich wie die Landung von Außerirdischen vor dem Reichstag.
Als Beispiel für ein »verschwörerisches Gebilde«, dessen Existenz von der Bundesregierung erst bei seiner vorgeblichen Auflösung eingestanden wurde, führt Wetzel die deutschen »Stay behind«-Gruppen an: In mehreren Ländern Westeuropas standen während des Kalten Krieges Untergrundkämpfer für den Fall einer sowjetischen Invasion bereit. Das klandestine Netzwerk betreuten jeweils die nationalen Geheimdienste, koordiniert wurde es unter Federführung des militärischen Hauptquartiers der NATO. Der Gedanke, bei Bedarf Sabotageakte hinter den feindlichen Linien zu verüben und abgestürzte NATO-Piloten zu befreien, soll aber nur bis Anfang der 1970er Jahre eine Rolle gespielt haben. Obwohl mit der damaligen Entspannungspolitik klar geworden war, dass die Sowjetunion Westeuropa nicht besetzen würde, existierte die Geheimarmee weiter – erst 1990 gab die Bundesregierung bekannt, der deutsche Zweig solle bis April 1991 aufgelöst werden.
Wetzel wirft die berechtigte Frage auf, was sie in den Jahrzehnten davor getrieben hatte, zumal inzwischen bekannt ist, dass die italienische »Stay behind«-Sektion »Gladio« 1980 in den Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna verstrickt war, durch den 85 Menschen starben. Im selben Jahr war auf dem Münchner Oktoberfest eine Bombe explodiert und hatte 13 Menschen getötet. Der Autor weist auf die Parallelen dieses Anschlags zu dem von Bologna einerseits und zur 20 Jahre später begonnenen NSU-Mordserie andererseits hin. Die mörderischen Attentate von 1980 in Deutschland und Italien sollten zunächst Linken in die Schuhe geschoben werden. In München instrumentalisierte der damalige Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß (CSU) den Anschlag sofort für seinen Wahlkampf – ob er es nun besser wusste oder nicht. Dagegen sprach, dass der mutmaßliche Attentäter selbst unter den Toten war und seine politische Vergangenheit rechtslastig war. Als dies bekannt wurde, stilisierten die leitenden Ermittler Gundolf Köhler sofort zum frustrierten Einzeltäter, obwohl mehrere Augenzeugen sicher waren, ihn kurz vor dem Anschlag mit anderen Personen gemeinsam in Tatortnähe gesehen zu haben. Diese Einzeltätertheorie ähnelt der ebenfalls unrealistischen Kleingruppenthese vom »NSU-Trio«, die von der Bundesanwaltschaft verbissen verteidigt wird. Dem widersprechen nicht nur Autoren wie Wetzel, der zeitweise der autonomen L.U.P.U.S.-Gruppe angehörte, sondern auch zahlreiche Nebenklageanwälte im Münchner NSU-Prozess und Abgeordnete, zum Teil selbst bürgerlicher Parteien, die auf Bundes- oder Landesebene in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen tätig waren oder sind.
Was die Möglichkeiten dieser Gremien angeht, klingt Wetzel pessimistisch – beruft sich doch die Bundesregierung schlicht auf den »Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung«, wenn den Parlamentariern brisante Geheimdienstakten vorenthalten werden. Seine Hoffnung setzt Wetzel auf Whistleblower, »Geheimnisverrat« und – so heißt ein Kapitel – »Illoyalität als BürgerInnenpflicht«.
Buchpremiere: »Rechtsstaat im Untergrund« mit dem Autor Wolf Wetzel (Moderation: Sebastian Carlens), Donnerstag, 15. Oktober 2015, Beginn 19 Uhr, jW-Ladengalerie, Torstraße 6, 10119 Berlin
Aus: jW-Ausgabe vom 12.10.2015, Seite 15 / Politisches Buch

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2 Kommentare

  1. Zum Thema Antifa:
    Es wäre zu Fragen auf welcher Seite diese Leute hier eigentlich politisch agieren:
    Am 19. Oktober, Conne Island, Leipzig 19 Uhr
    “Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann und Peter Nowak auf dem Podium
    Welche Formen der effizienten linksradikalen Intervention kann es angesichts einer Radikalisierung des Kapitalismus und der Aufrüstung des Sicherheitsstaates geben? Können Militanz oder Gewalt zur revolutionären Transformation bzw. Negation des Bestehenden beitragen? Welche Unterschiede finden sich global in anderen Kontexten? Wie wirken militante oder gewaltsame Aktionen? Inwieweit kann Militanz sich von Gewalt emanzipieren und zu einer befreiten Gesellschaft hinwirken? Wie kann kollektiv darüber gesprochen werden, ohne sich in Entsolidarisierung einerseits und avantgardistischen Positionen andererseits zu verfangen?”

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