Der neunte Mord in Kassel 2006 – Andreas Temme war nicht der falsche Mann am falschen Ort, sondern ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der Täterwissen hatte und den Mord hätte verhindern können

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Der neunte Mord in Kassel 2006 – Andreas Temme war nicht am ›falschen Ort zur falschen Zeit‹, sondern ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der Täterwissen hatte und den Mord hätte verhindern können

Der neunte Mord in Kassel 2006

In Kassel ereignete sich am 6. April 2006 der neunte Mord, der dem Nationalsozialistischen Untergrund/NSU zugeordnet wird. Dieses Mal wurde der Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat kaltblütig ermordet. Wie in den vorangegangenen Morden wurde ›zufällig‹ auch dieser ins ausländische Milieu abgeschoben. Wieder aus Zufall wurde »nie Richtung Rechtsextremismus ermittelt« (FR vom 24.11.2011). Ebenso zufällig wurden Täter im familiären und beruflichen Umfeld des Ermordeten gesucht.
Neben vielen Übereinstimmungen gibt es eine markante Besonderheit:
Zur Tatzeit war der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme anwesend. Völlig zufällig, privat und ahnungslos, wie er seitdem beteuert: »Ich war tatsächlich, wie ich es immer wieder nur betonen kann, zur falschen Zeit am falschen Ort. Und es gibt keine Verbindung von mir zu diesen Taten und auch keine Verbindung, die irgendetwas mit meiner Arbeit zu tun gehabt hätte.« (Magazin Panorama vom 5. Juli 2012)

Andreas Temme (Bildmitte)
Andreas Temme (Bildmitte)

Für diese abenteuerliche These bekommt er bis heute auffallend viel Unterstützung. Man schützt, protegiert, berät und deckt ihn, mit allen Mitteln: Die Vernehmung des Neonazis Benjamin Gärtners, der sich im NSU-Netzwerk bewegte und vom Verfassungsschutzmitarbeiter Temme als V-Mann geführt wurde, wurde auf Anweisung des damaligen Innenministers Volker Bouffier verhindert. Der Geheimdienstbeauftragte des LfV Hessen Herr Hess hatte den in Bedrängnis geratenen Andreas Temme geraten, ›so nahe wie möglich an der Wahrheit‹ zu bleiben. Auch von seinem Chef, Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Lutz Irrgang bekommt er deutliche Warnhinweise:

»Es gehe um die ›Kasseler Problematik‹ und in dieser Problematik ›sitzt du ja ein bisschen drin, ne?« (Die Welt vom 29.1.2014)

Es geht um viel mehr als um einen Verfassungsschutzmitarbeiter. Wie viele sind also in diese ›Kasseler Problematik‹ involviert? Und wenn Andreas Temme ›ein bischen‹ in der Sache drinhängt, stellt sich die Frage: Wer und wie viele stecken in dem großen Rest?

2012 durften Andreas Temme und seine Frau im TV-Magazin Panorama und in der Süddeutschen Zeitung – ohne redaktionellen Widerspruch – einen Schlussstrich unter die Angelegenheit ziehen: »Das ist natürlich entsetzlich, Zeitung aufschlagen, steht da ›kleiner Adolf‹. Das tut weh, das ist furchtbar, aber ich weiß ja, dass es nicht so ist. Für die Kinder finde ich es ganz furchtbar. Der Große geht zur Schule und die anderen Eltern lesen das auch in der Zeitung, die haben die Bilder vom Haus im Fernsehen gesehen, deren Kinder kommen vielleicht nachmittags hier her, besuchen meinen Sohn. Ja, es ist einfach eine Frechheit.« (Ehefrau Temme, Magazin Panorama vom 5. Juli 2012)
Diese gut plazierte Opferinszenierung hat nichts mit Qualitätsjournalismus zu tun. Sie ist auch nicht gutgläubig, sondern eine Arbeit, für die die beteiligten Redakteure hinter ihr eigenen Wissen zurückfallen mußten.

Mord unter Aufsicht

Das Internetcafé ist am 6. April 2006 durchschnittlich besucht, als ein Mann das Geschäft gegen 17 Uhr betritt, an die Theke tritt, eine Pistole mit Schalldämpfer zieht und kurz darauf mit zwei Schüssen in den Kopf den Internetbesitzer Halit Yozgat schwer verletzt. Halit Yozgat stirbt noch am Tatort.
Die Mordkommission sichert kurze Zeit später den Tatort. Man hält die Personalien der noch anwesenden Internetbesucher fest, sichert die Spuren, die Internetbenutzerdaten.
Dem Aufruf der Polizei, sich als mögliche ZeugInnen des Mordes zu melden, folgen fünf Personen, die einen weiteren Besucher erwähnen. Die Polizei kann die Identität dieser Person feststellen: Es ist Andreas Temme mit dem dienstlichen Aliasname Alexander Thomsen, der sich im Internet als ›Jörg Schneeberg‹ ausgegeben hatte. Daraufhin setzen interne und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ein. Dabei zeigt sich seine Erinnerung als äußerst flexibel oder anders gesagt: er änderte je nach (ihm zugänglich gemachten) Ermittlungsstand seine Aussagen:

»Erst kannte er – in den Glauben, die Anwesenheit sei ihm nicht nachweisbar – das Café angeblich nicht, dann war er zu einem anderen Zeitpunkt, am 5.4.2006, dort und schließlich will er von den maßgeblichen Vorgängen nichts mitbekommen haben.« (Beweisantrag der Nebenkläger vom 12.11.2013)

Nachdem er nicht mehr leugnen konnte, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, erinnerte er sich wieder ganz genau: er habe dort als Privatperson in einem Erotik-Portal gesurft. Und er erinnerte sich wieder an den Grund des Nicht-Erinnerns: Er wollte nicht als User eines Erotik-Portals entdeckt werden.
Mit diesen Aussagen macht sich die Mordkommission an die Arbeit. Sie bringt in Kenntnis, dass Andreas Temme neben behaupteter ›Chat-Affäre‹ zur selben Zeit im operativen Einsatz war. Auf seinem Handy werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu Neonazis hatte. Damit konfrontiert erklärt Andreas Temme, dass er V-Mann-Führer dieses Neonazis sei. Um aufzuklären, welche Rolle seine Anwesenheit am Tatort, die Telefonate mit einem Neonazi spielen, beantragt die Polizei u.a. eine Aussagegenehmigung für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi. Diese Amtshilfe wird zuerst vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes, wenig später vom hessischen Innenminister Volker Bouffier abgelehnt:

»Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen … zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.« (Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios, ZDF-Sendung vom 26.6.2012).

Auch weigerte sich der Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) in einer Innenausschusssitzung vom 17. Juli 2006, zum Stand der Ermittlungen Stellung zu nehmen.
In der Folge wurde die ermittelnde Polizei mit unvollständigen, also manipulierten Aktenbeständen versorgt. Die Akten zum Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner waren geschwärzt. Klarakten bekamen die Ermittler nie zu Gesicht.
Außerdem behauptete der hessische Verfassungsschutz allen Ernstes, dass es von V-Mann Führer Temme angefertigte Treffberichte mit Benjamin Gärtner gäbe, nur keine für das Jahr 2006. Und das, obwohl Andreas Temme selbst bestätigt hatte, dass er den Neonazi ein bis zwei Mal im Monat, also sehr regelmäßig und ergiebig getroffen habe, was dem V-Mann Benjamin Gärtner die Note ›B‹ einbrachte, die zweithöchste Bewertung für Quellenglaubwürdigkeit.
Dermaßen mit Verschleierungen der Umstände konfrontiert, liefen alle Bemühungen um Aufklärung ins Leere. Beschützt, gedeckt und abgeschirmt wurden die Ermittlungen gegen den VS-Mann Temme im Januar 2007 eingestellt. Eine Meisterleistung in Sachen Behinderung der Aufklärung und des Verschwindenlassens von taterheblichen Beweismitteln.
Was haben den Chef des hessischen Verfassungsschutzes und den damaligen Innenminister Volker Bouffier als oberster Dienstherr, dazu bewogen, dem ›Schutz‹ des Verfassungsschutzes einen höheren Rang einzuräumen, als der Aufklärung eines Mordes?
Was hätte der Neonazi und V-Mann des Verfassungsschutzes aussagen können, was könnte davon den Verfassungsschutz selbst gefährden? Eine Antwort darauf zu geben, ist keine große Detektivleistung: Hätte der als V-Mann geführte Neonazi weder etwas mit dem Mord an dem Internetcafébesitzer zu tun, noch mit dem NSU, wäre er geradezu als Entlastungszeuge des in Nöten geratenen VS-Mitarbeiters Temme aufgerufen worden! Gefährden kann dieser Neonazi den hessischen Verfassungsschutz nur, wenn das Risiko besteht, dass er eine Verbindung zu dem Mord, zu den Mördern herstellt, wenn man ihn nicht für befragungsresistent einstufte!
Andreas Temme war kein Verfassungsschützer, sondern ein staatlich verbeamteter Verfassungsfeind.
In seiner Jugend gab man ihm den Namen ›Kleiner Adolf‹, dem er auch als V-Mann-Führer von Neonazis gerecht wurde. In seiner Wohnung fand man Auszüge aus Hitlers ›Mein Kampf‹ und weitere neonazistische Propaganda. »In T.s Büro fanden sich Bücher wie ›Lehrplan für die weltanschauliche Erziehung der SS‹, ein Lehrplan des SS-Hauptamts oder ›Judas Schuldbuch‹.« (stuttgarter-nachrichten.de vom 3.12.2013)
Und was das hessische Innenministerium über fünf Jahre erfolgreich zu schützen versuchte, ist mittlerweile auch bekannt: Andreas Temme hat am Tattag nicht mit irgendjemand telefoniert, sondern mit dem Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner, einmal um 13:06 Uhr und ein weiteres Mal um 16:10 Uhr, eine Stunde vor der Mordtat. Benjamin Gärtner wurde als Gewährsperson ›GP 389‹, also als Spitzel geführt.

»Benjamin G. hatte offenbar über seinen Stiefbruder, der in der Kasseler Szene ein bekannter Rechtsextremist gewesen sein soll, Zugang zu Neonazigruppen. Der Stiefbruder soll zum Beispiel im rechtsradikalen Netzwerk ›Blood & Honour‹ aktiv gewesen sein. Bitten der Polizei, auch diese Quellen befragen zu dürfen, um so einen ausländerfeindlichen Hintergrund des Yozgat-Mordes abzuklären, seien vom Verfassungsschutz aber abgebügelt worden, heißt es. Der ›Spiegel‹ zitiert in seiner aktuellen Ausgabe einen Verfassungsschützer, wonach derlei Geheimhaltung für ›das Wohl des Landes Hessen‹ bedeutsam gewesen sei. Der Mord an Halit Yozgat sei demgegenüber nicht so wichtig gewesen.« (Hessische/Niedersächsische Allgemeine/HNA vom 9.9.2012)

Benjamin G. heißt Benjamin Gärtner, geboren am 23.11.1980 in Kassel und wohnt jetzt in Helsa bei Kassel. Er hatte sehr gute Kontakte zur Neonaziszene in Kassel. Dazu gehörte auch sein Stiefbruder Christian Wenzl, der eine führende Rolle in der ›Kameradschaft Kassel‹ (ehemals ›Nationalistische Front‹) spielte.
Wenn man weiß, dass bei allen neun Morden, Neonazis aus der betreffenden Region, aus der betreffenden Stadt mit dem Ausspähen von Örtlichkeiten und Opfern eingebunden waren, dann weiß man, was das hessische Innenministerium um jeden Preis verhindern wollte: Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, dass ein vom Verfassungsschutz geführter Neonazi am Mord des Internetcafébesitzers beteiligt sein könnte, Ermittlungen, die dem Verdacht nachgehen, ob der V-Mann Führer Andreas Temme über seine ›Quelle‹ von den Mordvorbereitungen, vom Mord selbst gewusst haben könnte.
All dies erklärt jedenfalls viel schlüssiger, dass nicht die angebliche oder aber auch inszenierte ›Chat-Affäre‹ der Grund war, seine Anwesenheit zur Mordzeit zu verheimlichen, sondern die mögliche Verwicklung in diesen neonazistischen Mord. Bekanntlich reichen für den Vorwurf der Beihilfe zu Mord auch ›unsichtbare Tatbeiträge‹, wie das Gewährenlassen einer Tat, das Führen und Decken von Mittätern.

Nahe an der Wahrheit – das System der Deckungs- und Verdunklungsarbeit

Der Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme trifft sich mit seiner Quelle ›GP 389‹, mit dem Neonazi Benjamin Gärtner am 6.4.2006. Danach erledigt er Bürotätigkeiten. Dann kommt es zu den besagten zwei Telefonaten, das letzte ist zehn Minuten lang: » … um 16.10 Uhr, etwa eine Stunde vor dem Anschlag, rief T. auf dem Handy von G. an.« (welt.de vom 22.10.2013). Danach macht er sich auf den Weg nach Hause, wo seine schwangere Frau wartet. In seiner Einlassung will er sich‘s anders überlegt haben und stoppt für eine ›Chat-Affäre‹ an einem Internetcafé in der Holländischen Straße. Ein Internetcafé, wo ein Deutsch-Nationaler so auffällt, wie ein Bettler im Schlosscafé.
Am Rechner war er von 16:51 Uhr bis 17:01 Uhr eingeloggt – also zur Tatzeit. Ohne irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben, ohne die ›Tropfspuren‹ auf dem Schreibtisch gesehen zu haben, bezahlte der ca. 1.90 Meter große Geheimdienstmitarbeiter: »Er legte die 50 Cent für die Computernutzung auf die Ladentheke, hinter der wohl schon die Leiche lag. Die Polizei fand diese 50 Cent am Tatort.« (FR vom 24.11.2011)
Lageplan-internetcafe-kassel-2006
Dem Aufruf der Polizei an die Internetbenutzer, sich als Zeugen zu melden, folgte Andreas Temme nicht. Dennoch wird sehr schnell seine Identität ermittelt.
Nachdem der Mordfall auch die Mitarbeiter und Vorgesetzten im LfV erreichte, kam es am 10.4.2006 zu einer Befragung von Andreas Temme durch die Kollegin und Quellenführerin Frau Ehrig: Auf diese Ereignisse angesprochen erklärte Andreas Temme, das er weder das besagte Internetcafé, noch das Opfer kenne. Danach wurde es wieder kollegial und dienstlich. Sie beauftragte ihn, den Namen des Opfers ›abzuklären‹, was Andreas Temme mit einer – überraschend kenntnisreichen – Bemerkung kommentierte: Temme gab ihr gegenüber an, »dass der Mord offensichtlich keinen regionalen Bezug hätte, da die Waffe bereits bei mehreren Taten im gesamten Bundesgebiet eingesetzt worden sei.« (Beweisantrag des Rechtsanwaltsbüro b|d|k aus Hamburg vom 6.11.2013)
Abgesehen von der Frage, woher der ahnungslose Verfassungsschützer seine detailreichen Kenntnisse hatte, nahm dieser Vermerk (Komplex Temme, Band 6, Blatt 81) ein merkwürdiges Ende: Die Bundesanwaltschaft unterschlug diesen Vermerk gegenüber dem in München tagenden Senat.
Dass Andreas Temme von Anfang wusste, wo er sich am 6.4.2006 aufgehalten hatte, geht auch aus einem Vermerk des KHK Wetzel vom 22.4.2006 hervor: »Wir haben ihm vorgehalten, dass er Kollegen gegenüber im Vorgespräch der Vernehmung sagte, dass ihm schon – bevor die Polizei zu ihm kam – bewusst war, dass er am Tattag am Tatort war.« (Mord Yozgat SA | Hauptakte Bd. 2075, Bl.15)
Am 9.5.2006 kam es zu einem Telefonat zwischen dem Geheimschutzbeauftragten Herrn Hess vom Landesamt für Verfassungsschutz/LfV und den vor Vernehmungen stehenden LfV-Mitarbeiter Andreas Temme:
»Herr Hess gibt den Rat, was er auch grundsätzlich bei der Arbeit sagt, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben.« (Komplex Temme, Band 15) – d.h. seine Falschaussage so nahe wie möglich an das tatsächliche Geschehen anzulehnen, damit eine Aufdeckung erschwert wird. Eine professionelle Anleitung zu Falschaussagen. Eine Arbeitsmethode, die der Geheimschutzbeauftragte für die gesamte Arbeit des Verfassungsschutzes verstanden wissen wollte.
Tatsächlich folgte der Verfassungsschutzmitarbeiter dieser Anweisung vorbildhaft: Fortan erinnerte er sich daran, am Tattag in besagtem Internetcafé gewesen zu sein – ohne etwas vom Mord und/oder Tätern mitbekommen zu haben.

Die Kasseler Problematik

Der V-Mann Führer Andreas Temme bekommt noch mehr Rat und Beistand: Am 29. Mai 2006 kommt es zu einem Telefonat zwischen ihm und seinem Vorgesetzten Herrn Irrgang. Dieses Telefonat wurde protokolliert, als die Ermittlungsbehörden Andreas Temme als Tatverdächtigen führten und aus diesem Grunde seine Telefonanschlüsse abhörten. Den Inhalt des Gespräches gibt die Tageszeitung DIE WELT wie folgt wider, wobei die Zeitung den Behördenchef Irrgang als ›Herr F‹ legendierte:
»Das abgehörte Gespräch der beiden Verfassungsschützer klingt nach einer vertraulichen Plauderei unter Freunden. Herr F. spricht am 29. Mai 2006 zu seinem untergebenen V-Mann-Führer Andreas T. über den Mord an Halit Yozgat. Was die beiden nicht wissen: Die Polizei hört jedes Wort mit, da sie Andreas T. als Verdächtigen führt. Verfassungsschützer F. schärft seinem Schützling Andreas T. ein, dass er zu der Situation und dem Verlauf der Ermittlungen der Polizei gegen T. nichts sagen dürfe. Dann sagt er noch, dass es nicht um ihn oder ›um alle‹ gehe. Es gehe um die ›Kasseler Problematik‹ und in dieser Problematik ›sitzt du ja ein bisschen drin, ne?, so F. Schließlich spricht F. noch ein Gespräch an, dass Andreas T. mit dem Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Lutz I., geführt habe, und teilt T. anerkennend mit: ›Und wie du das bei dem I. gemacht hast und hast dich nicht so verhalten, wie mir das gesagt wurde, so restriktiv wie bei der Polizei, also du hast denen alles dargestellt. Ich darf und will es nicht wissen. Ich hoffe, dass es für dich gut ausgeht.‹
Im Klartext: Andreas T. hat seinen Vorgesetzten im Amt mehr erzählt als der ermittelnden Kriminalpolizei, wurde dafür gelobt und ist diesem ›restriktiven‹ Aussageverhalten über die Jahre treu geblieben.« (Die Welt vom 29.1.2014)

Ein gut angelegtes und gesteuertes Wissensgefälle

Fakt ist demnach: Andreas Temme lügt. Er weiß mehr als er gegenüber den Ermittlungsbehörden, gegenüber den Untersuchungsausschüssen und vor dem OLG in München preisgegeben hat. Seine Erinnerungsfähigkeit folgt nicht dem Gedächtnis, sondern einem klar kalkulierten Vorgehen.
Fest steht auch: Andreas Temme hat dabei nicht alleine handelt, sondern in bestem Einvernehmen mit seinem Abteilungsleiter und dem Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Lutz Irrgang. Beide halten demnach Wissen zurück und behindert aktiv und mit Vorsatz die Aufklärung dieses Mordes.
Dass es dabei nicht alleine um die Person Andreas Temme geht, hat sein Vorgesetzter zwar vieldeutig und doch treffend genug umschrieben: es geht um die ›Kasseler Problematik‹.
Fakt ist auch, dass das OLG diese äußerst wichtigen Telefonprotokolle nicht in den Prozess eingeführt hat. Erst die Rechtsanwälte von Nebenklägern sind darauf gestoßen, als sie die Akten bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gesichtet hatten.
Einen halben Monat später, am 16.6.2006 fand im Landesamt für Verfassungsschutz eine Besprechung statt, an der Vertreter des Verfassungsschutzes, der Staatsanwaltschaft und der Polizei teilnahmen. Staatsanwaltschaft und Polizei legten dar, warum sie eine dienstliche Erklärung von Andreas Temme, die Sicherheitsakte des LfV-Mitarbeiters und die Vernehmung des Neonazis und V-Mann Benjamin Gärtner beantragen. Die Besprechung blieb ohne Erfolg.

»Im Verlauf des Gespräches stellte Herr Hess (Geheimschutzbeauftragter des LfV) klar, dass eine Vernehmung und der damit einhergehende Verlust der Quellen das größtmöglichste Unglück für das Landesamt darstellen würden. Er meinte, dass, wenn solche Vernehmungen genehmigt würden, es für einen fremden Dienst ja einfach sei, den gesamten Verfassungsschutz lahm zu legen. Man müsse nur eine Leiche in der Nähe eines VMs bzw. eines VM-Führers positionieren.«

Das LfV lehnte jede Zusammenarbeit ab und verwies darauf, dass das Innenministerium das letzte Wort habe. Dieses entschied im Konflikt zwischen Staatsanwaltschaft/Polizei und Verfassungsschutz zugunsten Letzterer.

Das Landesamt für Verfassungsschutz in Hessen als Mitwisser

Die von der Polizei vorgenommene Telefonüberwachung belegt nicht nur die Verdunklungsarbeiten der hessischen Verfassungsschutzbehörde.Ihre Dokumentation ist selbst ein Beleg von Beweismanipulation. Es ist den Anwälten des ermordeten Halit Yozgat zu verdanken, dass sie nicht nur die verschriftlichten Telefonate auswerteten. Sie ließen sich auch die Originalbänder aushändigen … und stießen auf eine Bemerkung, die der ›Kasseler Problematik‹ eine klare Kontur verleiht. Dabei geht es um ein am 9. Mai 2006 geführtes Telefonat zwischen Andreas Temme und Herrn Hess, dem bereits erwähnten Geheimdienstbeauftragten des LfV Hessen, also gut ein Monat nach dem Mord. In diesem Gespräch führte Herr Hess aus:

»Ich sach ja jedem, äh, wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert: Bitte nicht vorbeifahren! Ja, es ist sch … Ja, wie sieht es bei Ihnen aus, wie fühlen Sie sich?«

Ganz offensichtlich wußte Andreas Temme sehr genau, was mit diesen Andeutungen gemeint war, Andeutungen, die ein gemeinsames Wissen voraussetzen. Weder fragt er nach, wie das gemeint ist, noch widerspricht er.
Welche Brisanz diese Passage hat, welches (unterschlagene) Wissen Herr Hess damit ungewollt preisgibt, haben die Anwälte von Halit Yozgat deutlich und klar formuliert:

»Für die Anwälte Thomas Bliwier, Doris Dierbach, Alexander Kienzle und Bilsat Top ergibt sich daraus, dass der Verfassungsschutz ›zumindest in der Person des Mitarbeiters Temme bereits vor dem Mord an Halit Yozgat über Kenntnisse zu der bevorstehenden Tat verfügte‹. Bei Weitergabe der Erkenntnisse hätte sowohl der Mord an Yozgat wie auch der darauf folgende an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 verhindert werden können, heißt es in einem Beweisantrag.« (Die Welt vom 22.1.2015)

Dass dieser eine Satz Andreas Temme und sein ganzes Beschützerteam in große Bedrängnis bringen würde, haben auch die ermittelnden Beamten verstanden: Sie unterschlugen diesen Satz in ihrer Verschriftlichung und manipulierten damit ein Beweismittel.

Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt …

»Sollte sich im Ausschuss bestätigen, was man jetzt vermuten muss, dann würde das ein politisches Erdbeben auslösen. Dann würde kein Stein auf dem anderen bleiben, nicht nur in der hessischen Politik. Es geht schließlich darum, welche Art von Geheimdiensten dieses Land erträgt.« (Kommentar von Pitt von Bebenburg, FR vom 23.2.2015)

Es geht um eine Polizei, die ermittelt, die Telefonate zwischen den verschiedenen Dienstebenen im hessischen Verfassungsschutz abhört, dabei Kenntnis von Mitwissern erhält und Ermittlungen in diese Richtung vorsätzlich unterlässt.
Es geht um eine Staatsanwaltschaft, die ebenfalls im Besitz dieser abgehörten Telefonate war und ist und keine Anweisungen gegeben hatte, diesem klar formulierten Mitwisser-Wissen nachzugehen.
Es geht um Strafvereitelung im Amt, um Anleitung zu Falschaussagen, wenn der Geheimschutzbeauftragte Hess dem Mitarbeiter Andreas Temme angesichts bevorstehender Vernehmungen dazu rät, ›so nahe wie möglich an der Wahrheit bleiben‹.
Es geht um Beihilfe zu Mord, wenn Mitarbeiter und Behörden von Mordvorbereitungen Kenntnis erhalten haben und den Mord geschehen lassen.
Solange Verfassungsschutz und Innenministerium offen im straf- und rechtsfreien Raum agieren, ist der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung keine maßlose Übertreibung, sondern eine vorsichtige Einordnung.

Wolf Wetzel
25.2.2015

Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2013, 2. Auflage

Dieser Beitrag findet sich auch im Migazin –Fachmagazin für Migration und Integration in Deutschland : Der neunte Mord in Kassel 2006 |NSU: “So nahe wie möglich an der Wahrheit”

Eine Recherche aus dem Jahr 2013, in der die damals bereits vorliegenden Indizien aneinandergefügt wurden, findet sich hier:

Der 1001. Zufall oder Beihilfe zu Mord

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8 Kommentare

  1. Hat dies auf rebloggt und kommentierte:
    Bouffier Brief,zitiert im Abschlussbericht des NSU-Ausschusses im Bundestag, sowie in Heimatschutz (Laabs/Aust):
    “Jedoch bitte ich um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen an V-Leute über ihren V-Mann Führer trotz dieses guten
    Willens nach meiner Einschätzung, die ich aus Geheimhaltungsgründen hier nicht näher erläutern kann, zu einer Erschwerung der Arbeit des LfV führen würden.“5494″”
    Bouffier Brief im Original:
    “Jedoch bitte ich um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen an V-Leute über ihren V-Mann-Führer trotz dieses guten Willens nach meiner Einschätzung, die ich aus Geheimhaltungsgründen hier nicht näher erläutern kann, zu einer Erschwerung der Arbeit des LfV führen würde, die die Erteilung der erbetenen Aussagegenehmigungen nicht erlaubt.”
    Volker Bouffier während seiner Vernehmung vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages am 28.9.2012:
    “Es ging damals nie um die Frage, ob die V-Leute überhaupt aussagen sollen. Es ging ausschließlich um die Frage, in welcher Weise, mittelbar oder unmittelbar.”
    https://machtelite.wordpress.com/2015/02/25/faktencheck-nsu-komplex-hessen-bouffier-sagte-die-unwahrheit/

  2. Angenommen, die Version stimmt: “Wenn Sie es nicht glauben, fahren Sie halt selber da und dorthin, dann glauben Sie mir schon, dass dort gleich was passiert.”
    Dann versetze man sich in die Rolle derjenigen, die zwei Monate später in Deutschland die Welt zu Gast haben, um eine Fußball-WM (“Sommermärchen”) zu eröffnen mit dem Sicherheitshinweis “Bitte beachten Sie, dass ein paar Rechtsextremisten herumfahren, die südländisch aussehende Menschen erschießen.”
    Macht das so intensive Bemühen um das Aussageverhalten eines ja eigentlich nur aus Versehen privat dort gewesenen und nichts gesehen habenden kleinen Beamten durchaus verständlich.
    Kein schöner Anblick. Man muss eigentlich schon jede Alltagserfahrung ablegen, um die Geschichte mit “am falschen Ort zur falschen Zeit” irgendwie glauben zu können. Um die wahrscheinlichere Version zu beweisen, müsste aber jemand, der das Wissen hat, reden. Wer aber würde und könnte bei sovielen Toten zugeben, nach dem 6.4.2006 den Zusammenhang der Ceska-Mordserie gekannt, aber verschwiegen zu haben?

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