Der Nationalsozialistische Untergrund/NSU – ein Aquarium der Geheimdienste

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Hartnäckig wird die Legende aufrechterhalten, dass die im Jahr 1998 abgetauchten Neonazis ›spurlos‹ verschwunden seien und man seitdem keine “heiße Spur” gehabt hätte.
Das widerspricht allen Fakten, die bislang an die Öffentlichkeit gelangt sind.
Fasst man die auszugsweise gewährten Einblick in das Leben derer, die »spurlos« verschwunden sind, zu denen über 13 Jahre keine »heiße Spur« geführt haben soll, zusammen, lässt sich eines sicher sagen: In der Geschichte des ›Untergrundes‹ gibt es nicht viele Gruppen, deren Untergrund so transparent war, wie der des NSU. Es war ein Aquarium, in dem die NSU-Mitglieder wie Goldfische gehalten wurden.
Der Verfassungsschutz tappte nicht im Dunklen – er saß quasi am Küchentisch des NSU.

Kurz bevor die ehemaligen Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes/THS abtauchten, wurden bei Durchsuchungen von Garagen in Jena am 26. Januar 1998 über 1,4 Kilo Sprengstoff und Rohrbomben beschlagnahmt. Die späteren Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrundes/NSU konnten in aller Seeelenruhe fliehen – auch dank der Warnung eines Polizisten.
Vierzehn Jahre später erfahren wir, dass das bei weitem nicht alles war: Es wurde auch eine Namensliste gefunden, »ein ›Who is Who‹ der mutmaßlichen Unterstützer des rechtsextremen Terrortrios ›Nationalsozialistischer Untergrund‹ (NSU) … Vielfach handelt es sich um Personen, die heute beschuldigt werden, Hilfsdienste für Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe geleistet zu haben.
So ist der Name von Rolf Wohlleben handschriftlich in das Verzeichnis gekritzelt – der einstige NPD-Funktionär aus Jena sitzt derzeit in Untersuchungshaft, weil er verdächtigt wird, eine Schusswaffe für das Terror-Trio besorgt zu haben.« (SZ vom 13.7.2012).
Auf dieser Telefon-Adressenliste stand auch Thomas Starke, damals einer der führenden Köpfe der sächsischen ›Blood & Honour‹-Sektion. Weiterhin befindet sich darauf Matthias Fischer, heute Anführer des militanten bayrischen Kameradschafts-Verbandes ›Freies Netz Süd‹. Fischer kommt aus Nürnberg. Zwischen 2000 – der erste Mord – und 2005 wird der NSU hier drei Migranten regelrecht hinrichten.
Interessant ist noch ein weiterer Name auf der Liste: Thomas Richteraus Halle, damals ebenfalls im ›Blood & Honour‹-Spektrum aktiv.

Der Fund einer solchen Namensliste ist keine belanglose Nebensächlichkeit, sondern der Traum eines jeden Ermittlers: Mithilfe dieser Liste ist es ein Kinderspiel, über das neonazistische Umfeld direkt an die NSU-Mitglieder heranzukommen.

Und was sagen die Ermittler dazu? “… der Kriminalkommissar, der Anfang 1998 die Liste inspizierte, meinte, die Namen seien ‘nicht von Relevanz’. So landete der Papp-Karton in der Asservatenkammer des LKA.” (SZ vom 12.7.2012, Hinweise im Karton)

Diese Version ist vorgetäuscht dämlich. Jede Antifa-Gruppe in dieser Gegend hätte in fünf Minuten sagen können, dass es sich um wichtige Figuren im neonazistischen Netzwerk handelt. Abgesehen davon standen fast alle Neonazis auf dieser Liste in irgendeiner Datei der Polizei und/oder des Verfassungsschutzes.

Die Version der Ermittler hat einen ganz anderen Grund:

Man will heute verschweigen, vertuschen und ggf. vernichten, was belegen hilft, dass die Verfolgungsbehörden den Kontakt zu den abgetauchten NSU-Mitgliedern nie verloren hatten!

Tatsächlich hatten die Ermittler auch mithilfe dieser Telefon- und Adressenliste, (die man aus gutem Grund nicht in der Wohnung aufbewahrte) traumhafte Bedingungen, um das Abtauchen der NSU-Mitglieder zu begleiten.

Aus einem Bericht, den der Thüringer Verfassungsschutz im November 2011 (Az. 293-S-400 062-000110/11 VS-NfD) erstellt hatte, geht eindrucksvoll hervor, dass alleine dieser Landesverfassungsschutz über zahlreiche Helfer des NSU aufs Beste über die nächsten Schritte dieser neonazistischen Terrorgruppe im Bilde war. In diesem Erkenntnisstandbericht werden verschiedene Protokolle von Telefonüberwachungen, Observationen, V-Mann-Führern und anderen Quellen (»Hinweisgebern«) aufgeführt.

Alle markanten Umstände, die angeblich erst 2011/2012 in ihrer Brisanz verstanden wurden, waren bereits 1998/99 bekannt.

  1. Bereits 1998 entschlossen sich die NSU-Mitglieder, einen Caravan anzumieten: »Es sei bekannt gewesen, dass die BÖHNISCH in Berlin-Adlershof, Waldstraße 21, einen Wohnmobil-Verleih (ca. fünf Wohnmobile) betreibe. Da sich KAPKE zu dieser Zeit nicht mehr für Adressen im Ausland interessiert habe, sei davon auszugehen, dass den drei Flüchtigen möglicherweise ein Wohnmobil zur Verfügung gestellt werden sollte oder wurde.« (Hinweis vom 20.02.1998)
  2. Wesentliche Unterstützer des NSU waren seit 1998 bekannt. So wurden u.a. Ralf WOHLLEBEN und Jürgen HELBIG mittels einer G-10-Maßnahme (damit werden alle “nachrichtendienstliche Maßnahmen” legalisiert) überwacht: »In dem Begründungsvermerk für eine gegen Ralf WOHLLEBEN und Jürgen HELBIG gerichtete G10-Maßnahme wird u.a. festgehalten, „dass ein bestimmter Personenkreis um den Neonazi Andre KAPKE aus Jena unmittelbare Verbindungen zu den drei Gesuchten hat.« (Vermerk zu G10 – Maßnahmen vom 11.08.1998, Verfasser: TLfV)
  3. Chemnitz als Standort, wo sich die NSU-Mitglieder im Untergrund aufhalten, war ebenfalls seit 1998 bekannt: »Die Gesuchten sollen sich in Sachsen in der Nähe von Chemnitz aufhalten. Es sei eine Ausreise nach Südafrika geplant. Der Unterkunftsgeber sei bekannt…« (Erkenntnismitteilung vom 17.09.1998, Verfasser LfV Brandenburg)
  4. Ein für den Verfassungsschutz arbeitender »Hinweisgeber« hatte direkten Telefonkontakt zu Uwe Böhnhardt. Man vereinbarte für einen bestimmten Zeitpunkt ein Telefongespräch von jeweils anrufbaren Telefonzellen in Chemnitz und Coburg. Da der Standort der Telefonzelle in Chemnitz, von wo aus Uwe Böhnhardt telefonieren wollte, bekannt war, wäre eine Festnahme möglich gewesen. Sie blieb aus: »Am 22.02.1999, gegen 19:00 Uhr, wurde von einem Münzfernsprecher in Chemnitz, Bernsbachplatz 2 (0371-6946258), eine der benannten Telefonzellen in Coburg angerufen, ohne dass der Kontakt zum Hinweisgeber zustande kam … Nach mehreren Fehlanläufen sei der telefonische Kontakt schließlich am 08.03.1999 zustande gekommen. Der Hinweisgeber will die Gesprächsperson am anderen Ende der Leitung zweifelsfrei als den flüchtigen Uwe BÖHNHARDT erkannt haben. BÖHNHARDT soll u. a. nach einem neuen Quartier für die drei Gesuchten gefragt haben.« (Hinweis vom 22.03.1999)
  5. Auch über die Tatsache, dass sich die ›Abgetauchten‹ bewaffnen wollen, wusste der Verfassungsschutz seit ihrem ›Verschwinden‹: »Das LfV Brandenburg überstellte Erkenntnisse zu einem B&H-Konzert der Sektion Südbrandenburg am 05.09.1998 in Hirschfeld bei Lauchhammer. Daran nahmen u a Thomas STARKE und Jan WERNER teil. Zu den ›drei sächsischen Skinheads‹ habe Jan WERNER persönlichen Kontakt. WERNER soll damals den Auftrag gehabt haben, ›die drei Skinheads mit Waffen zu versorgen‹. Gelder hierfür soll die B&H-Sektion Sachsen bereitgestellt haben. Die Gelder stammen aus Einnahmen aus Konzerten und dem CD-Verkauf. Nach der Entgegennahme der Waffen – noch vor der beabsichtigten Flucht nach Südafrika – soll das Trio einen weiteren Überfall planen, um mit dem Geld sofort Deutschland verlassen zu können. Der weiblichen Person des Trios wolle Antje PROBST ihren Pass zur Verfügung stellen.« (Meldung an TLfV und LfV SN vom 11.09.1998)

Die hier ausgewerteten Fakten sind einem Erkenntnisstandbericht des Thüringer Verfassungsschutzes vom 30.11.2011 entnommen, den NSULeaks der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und der nun für alle überprüfbar ist: https://nsuleaks.wordpress.com/2012/07/13/erkenntnisse-lfv-thuringen-30-11-2011/#more-88

Fasst man diesen auszugsweise gewährten Einblick in das Leben derer, die »spurlos« verschwunden sind, zu denen über 13 Jahre keine »heiße Spur« geführt haben soll, zusammen, lässt sich eines sicher sagen:

In der Geschichte des ›Untergrundes‹ gibt es nicht viele Gruppen, deren Untergrund so transparent war, wie der des NSU. Es war ein Aquarium, in dem die NSU-Mitglieder wie Goldfische gehalten wurden.

Der Verfassungsschutz tappte nicht im Dunklen – er saß quasi am Küchentisch des NSU.

Wolf Wetzel

Diesen Text findet sich auch auf den NachDenkSeiten, die kritische Website: Der Untergrund des NSU war ein Aquarium der Geheimdienste

Die ständig aktualisierte Recherche zu den NSU-Morden findet sich hier: http://wolfwetzel.wordpress.com/2012/06/29/thesen-zur-neonazistischen-mordserie-des-nationalsozialistischen-untergrundes-nsu/

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  1. Michael Csaszkóczy heute in einem Interview in “Junge Welt”:” Er (der Verfassungsschutz) weigert sich auch, die vom Gericht inkriminierten Daten zu löschen, die er, seit mehr als 20 Jahren gesammelt hat. Nach wie vor wird mir verwehrt, die vollständigen Daten einzusehen – von einer tatsächlichen Akteneinsicht ganz zu schweigen. Wenn man bedenkt, wie beflissen der Inlandsgeheimdienst in der letzten Zeit Akten geschreddert hat, die neonazistische Mörder belasten könnten, ist das schon bemerkenswert.” http://www.jungewelt.de/2012/07-27/047.php

  2. Warum blieb die Polizei erfolglos ? Vielleicht weil sie eine diesbezügliche Anweisung hatte, die eben nicht schriftlich fixiert war ? Weil Entscheidungsträger in hoher Position sowohl bei Polizei, VS und Innenministerium genau wussten, was abging und eben deshalb nichts Schriftliches wollten ?
    Und ob die Behörden die Adresse des später als “NSU” bezeichneten Trios hatten ? Wozu ? MW gabs ein paar mehr als nur zwei V-Leute im direkten Umfeld der drei und kein einziger von denen sagt 13 Jahre lang auch nur einen Ton ? Es lief ja sogar ein echter “falscher” Reisepass auf einen der beiden Uwes, und um so ein Dokument zu erhalten brauchts aber ganz gewaltige Beziehungen zu Behörden ! Ob das jetzt der VS oder die Polizei war ist vielleicht für einen Angehörigen eines dieser Behörden wichtig nach dem Motto die sind schuld, nicht wir, aber defacto völlig irrelevant, weil meines Wissens beide “Staat” sind, oder ? Und wenn man mal davon ausgeht, daß die drei immerhin schlappe 13 Jahre im Untergrund waren, sollte es ja wohl klar sein, daß sowas ohne zumindestens Tolerierung (=Unterstützung) von seiten welcher Behörde auch immer kaum möglich war. Vor allem in den Jahren von 2007 bis 2011 wo sie ja angeblich nicht in Erscheinung traten. Alleine schon die Anmietung ihrer letzten Bleibe ging ja wohl kaum ohne Anmeldung, Ausweisung (mit Ausweisen) vonstatten, oder sind die Vorschriften im Osten so anders als hier im Westen der Republik ? Dann die Anzahl der ihnen zugeschriebenen schwersten Straftaten, mW ca. 20 an der Zahl, da kommt aufgrund von Pleiten, Pech und Pannen niemand in besagten Behörden drauf daß ihre “Schäfchen” da völlig außer Kontrolle sind, wenn man mal davon ausgeht daß das alles nicht von Amts wegen beabsichtigt war ? Kennt sonst noch wer jemanden der mehr als 10 Banküberfälle nach dem gleichen Schema verübt hat und nach wie vor unerkannt ist ? Ich nicht, aber was weiß ich auch schon !
    Wirklich witzig finde ich auch, daß der eine oder andere wohl der Meinung ist, daß alle Amtstätigkeiten grundsätzlich schriftlich fixiert werden . Wer hat denn dann letzendlich den Stecker gezogen, oder glaubt etwa jemand hier das Märchen vom Selbstmord ? Und wenn das eine Anweisung von wem auch immer war, die ist garantiert nicht in irgendeiner Akte festgehalten. Und damit der Beweis, daß keiner was wusste, stimmts ?
    MfG

  3. Sorry, aber dazu braucht man jetzt kein frisches “Leak”. Das ist alles seit Mai im Untersuchungsbericht der Schäfer-Kommission öffentlich und kritisch kommentiert nachzulesen. Steht zum Download auf den Seiten des Thüringer Innenministeriums…
    Und bei allem VS-Bashing: Es war seit dem Untertauchen eine schlichte Polizeifahndung nach mit Haftbefehl Gesuchten. Da sind VS-Tipps ganz nett, aber eine Polizei sollte es auch ohne können. Bloß weil es so nett ist, auf ach so unheimliche, unbeliebte und zwielichtige Nachrichtendienste einzudreschen, sollte man sich davon nicht von der Kernfrage ablenken lassen. Wieso blieb die Polizei erfolglos? Wo ist die wirklich wunde Stelle?
    Warum suchte etwa die Chemnitzer Polizei bei der Suche nach Flüchtigen nicht nach ihrem Lebensunterhalt und damit der Frage nach ungeklärten Eigentumsdelikten? Und wenn sie es tat, warum wurde aus dem Ergebnis “Banküberfälle” nichts?
    Das, was bisher bekannt ist, gibt nicht wirklich viel Futter für eine Theorie von aktiver Behinderung der Polizei durch den VS: Einmal die Eltern Mundlos aufgefordert, nur von Telefonzellen aus mit dem VS in Kontakt zu treten. Nicht alle Infos weitergegeben, aber eben doch viel weitergebenen als für einen Täter-schützenden VS gut gewesen wäre. Die brisante V-Mann-Info aus Brandenburg über Waffenbeschaffungspläne eines sächsischen Blood&Honour-Manns wurde dem Thüringer LKA-Chef immerhin mündlich gesteckt. Auch die Namen der ganzen sächsischen Unterstützer – oder warum stellt die Polizei plötzlich Anträge auf Telefonüberwachung und hört sie ab?
    Die Kernfrage für die Frage nach dem möglichen echten Skandal ist, ob die Behörden jemals überhaupt die entscheidenden Informationen hatten: die Adressen oder die Alias-Namen. Wusste sie der entscheidende V-Mann Brandt? Wenn ja, gab er sie seinem V-Mann-Führer weiter oder wusste er genau, das er sein Spitzelhonorar auch bekommt, ohne die Flüchtigen in Gefahr zu bringen? Ohne die neuen Namen und Adressne ist nicht wirklich “Transparenz” da.
    Wenn es über die nach wie vor nicht auszuschließende Theorie von Blödheit, Dienst nach Vorschrift, Ressortkästchendenken und unterschätzender Initiativlosigkeit (“TNT ist schon was, aber letztlich doch bloß Bastler”) hinausgeht – fehlt noch der Hinweis auf den wirklich entscheidenden Punkt – sei es ein Beleg für ein zumindest früheres Abschöpfen von Zschäpe, ein kompromittierendes Wissen der Szene oder irgendetwas anderes bisher Ungedachtes. Wie dann allerdings die vielen Ermittler so scheinbar spurlos zu bremsen gewesen sein sollen, ist genauso rätselhaft wie die noch 2003 aufgetischte Lüge vom spurlosen Untertauchen und als Gipfel die Behauptung, es habe keine Spur auf organisiserte Unterstützung der Szene gegeben…

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