Autonome – eine Spurensuche

Veröffentlicht von

Autonome tauchen immer dann in den Medien auf, wenn es alle anderen nicht gewesen sein sollen.
Autonome erkennen die Medien immer dann, wenn es nichts zu erkennen gibt.
Autonome waren es, wenn es um Randale und Ausschreitungen geht und kein Fußballspiel in der Nähe ist.
Autonome sind alle, die nicht friedlich von A nach B demonstrieren.
Autonome sind schlimmer als Krawallmacher und Hooligans. Letztere machen alles aus Langweile und Frust, erstere aus Leidenschaft, mit Plan.
Autonomen geht es nie um die Sache, um das konkrete Anliegen. Ihnen geht es ums Ganze, ums System.
Autonome tauchen aus dem Nichts auf, machen alles kaputt und verschwinden dann genauso schnell spurlos.
Neuerdings gibt es in den Medien ›Links-Autonome‹. Wer hat sie abgespalten, von was?
Autonome gibt es immer am 1. Mai in Berlin.
Gab es sie überhaupt? Gibt es sie noch? Sind sie ein Mediengespenst, das ab und an durch die politische Landschaft gescheucht wird?

AK Wantok hat sich auf die Spurensuche gemacht. Daraus ist ein 406 Seiten starkes Buch geworden: ›Perspektiven autonomer Politik‹, Unrast Verlag 2010.


Im Folgenden ein längeres Gespräch, das hier in voller Länge wiedergegeben wird.

Für die jüngsten unter unseren LeserInnen: Kannst du noch einmal kurz die Geschichte der L.U.P.U.S.-Gruppe schildern, eure Arbeit und Intentionen?

Die gemeinsame politische Geschichte fing in den 80er Jahren an. Dabei haben sich –glücklicherweise – drei Einflüsse überschnitten und überlagert: 1. Der Häuserkampf in Frankfurt 1980-82, der durch die Geschichte des Häuserkampfes in Frankfurt in den 70er Jahren eine besondere Bedeutung bekam. 2. Der Kampf bzw. Widerstand gegen den Bau einer neuen Startbahn am Frankfurter Flughafen, was in der Folge die Geschichte der Autonomen über zehn Jahre maßgeblich prägen sollte. 3. Das, was man damals – soziologisch – als neue soziale Bewegungen zu fassen versuchte: Der Anti-AKW-Kampf, die internationalistischen Bewegungen, die feministischen Bewegungen…
Neben diesen Bewegungsansätzen, die damals überall aus dem Boden schossen, gab es für uns eine theoriegeschichtliche Besonderheit. Die militanten Kämpfe in den 70er Jahren in Frankfurt werden historisch zwar als ›Häuserkämpfe‹ verbucht, sie waren jedoch nur der spektakuläre Kern dieser Bewegung. Zur selben Zeit gab es in und um Frankfurt Kämpfe der Jungarbeiter, Rebellionen in Erziehungsheimen, Schülerstreiks, militante Interventionen in Arbeitskämpfe (Ford-Opel-Streik), Organisierungsversuche in sogenannten ›sozialen Brennpunkten‹ (Stichwort: Randgruppenstrategie) und starke migrantische Organisationen, die sowohl in den Häuserkämpfen, in den Betriebsauseinandersetzungen, als auch in Hinblick auf internationalistische Bezüge eine beachtliche Rolle spielten.
Der stärkste internationalistische Bezug waren dabei die militanten Auseinandersetzungen in Italien, was man nur grob unter dem Begriff der ›Autonomia‹ zusammenfassen darf, aber in der Konsequenz den theoretischen und praktischen Fundus bildete, aus dem wir autonome Theorie und Praxisarbeit entwickelten. Denn neben dem Umstand, dass die Bewegung dort ungemein praktisch war, hatte sie keine Scheu, dies mit einer großen Neugierde und Bereitschaft zu analytischen und theoretischen Auseinandersetzungen zu verknüpfen.
Praktisch war die autonome L.U.P.U.S.-Gruppe ein ambulantes Phantom. Zu aller erst waren wir in verschiedenen politischen Gruppen aktiv, ob in einer Stadteilgruppe, in internationalistischen Zusammenhängen, in einer Knastgruppe, in Startbahn-Zusammenhängen oder in überregionalen Strukturen. Die ersten Papiere und Analysen orientierten sich deshalb stark an den jeweiligen Gruppenprozessen, mehr reflektierend als vorausschauend. Mitte der 80er Jahre verdichteten sie sich zu grundsätzlichen Papieren, die über die Gruppenerfahrungen hinausgingen, ohne die darin sich abzeichnende Zäsur so deutlich zu spüren, wie man das im Rückblick bestenfalls tut.
Das hat sich in zwei sehr langen Papieren, die für die Libertären Tage in Frankfurt 1987 verfasst wurden, niedergeschlagen:
In »Antiimperialismus neu bestimmen« ging es darum, eine klare Kritik am bewaffneten Kampf der RAF und den damit zugrunde liegenden gesellschaftlichen (antiimperialistischen) Analysen zu formulieren, um so die ›klammheimliche Freude‹ mit einigen Aktionen der RAF zu hinterfragen. Im Zentrum standen dabei sowohl die (fehlenden) gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen für ein Konzept der Illegalität, als auch die Kritik an einer Analyse, die die gesellschaftlichen Bedingungen hier einfach übersprach, anstatt sich darin zu begründen. Übrigens gibt es da interessante Parallele: Auch in den 70er Jahren tobte diese Debatte, nachdem der beschriebene militante Bewegungszyklus 70-73 in sich zusammen zu brechen drohte: Der berühmte Aufruf Joschka Fischers (1) an die RAF, die Waffen wegzuschmeißen und die Steine (gemeint war der militante Kampf) wieder aufzunehmen, verfolgte zu diesem Zeitpunkt noch das Ziel, Militanz und Massenbewegung neu zu bestimmen, anstatt deren Pole (Illegalität – Reformismus) zu isolieren und zu verabsolutieren.
Auch das zweite Papier, das für die Libertären Tage verfasst wurde, »Stand autonomer Bewegung – Langlauf oder Abfahrt im Sturz«, entspricht Stimmungen, die in den 70er Jahren spürbar waren. Die Einleitung skizziert sowohl diese Erschöpfung als auch die äußeren Umstände mit düsteren Vorahnungen:

»Sicherlich war es auch schon früher, zu Hochzeiten der Bewegung ein Mythos, von ›den‹ Autonomen zu reden. Denn gerade Bewegungen sind weniger von der gemeinsamen Aneignung von Geschichte und/oder Theorie geprägt als vielmehr von Ereignissen. Lebensgefühl und Rotzigkeit sind wichtiger als zum Beispiel eine pingelige und trockene Parlamentarismus- oder Staatskritik.
Daran hat sich bis heute nicht so viel geändert. Vielleicht hat sich nur der Grad der Beliebigkeit, der zufälligen Übereinstimmung, der theoretischen Ungewissheit und der alltäglichen Ohnmacht noch vergrößert.
Kurzum, wer heute Autonome/r wird, hat weder den Wind der Geschichte hinter sich, noch allzu viel zu gewinnen. Das mag zwar viele bewegungsgestylte SurferInnen abhalten, auf die nächste Welle zu warten, und einige wenige edle, hartnäckige Haltungen hervorbringen. Doch insgesamt ist das Gefühl nicht ganz abzuschütteln, zu einer aussterbenden Spezi zu gehören, die trotzig Artenschutz betreibt und den Gedanken an Vermehrung einfach nicht aufgeben will. Autonomie, was sonst …
Gründe für ein Innehalten gibt es genug: Der Häuserkampfzyklus 1980-82, mit über 180 besetzten Häusern in der Bundesrepublik, hatte seinen Zenit überschritten. Räumungen und Repression, Spaltungen zwischen ›Verhandlern‹ und ›Nichtverhandlern‹ bestimmten den Rückzug.
Die Startbahn-West wurde 1984 in Betrieb genommen. Obwohl wir über 10.000 Menschen gegen die Einweihung mobilisieren konnten, war allen klar, dass wir damit die politische und gesellschaftliche Breite der Startbahnbewegung nicht mehr halten konnten.
Die militanten Kämpfe der Anti-AKW-Bewegung stießen mit den schweren Auseinandersetzungen wie am AKW Brokdorf 1986 an die Grenzen des Konzepts der Massenmilitanz.
Die politischen Widersprüchlichkeiten und unterschiedlichen Mächtigkeiten innerhalb von Bewegungen verloren ihre Dynamik, ihre Unbefangenheit und den Wagemut. Sie verhärteten sich, wurden zur Scheidelinie, zur Grenze: Bewegungsansatz kontra Organisationsansatz, Reformisten kontra Militante, Frauengruppen kontra gemischte Zusammenhänge…. Wir sind ja nicht die einzigen, die sich gelegentlich noch mal umschauen und sich fragen: Gibt es sie noch, ›die‹ Autonomen? Und wenn ja, was ist ihnen gemeinsam?«

Man kann sich vorstellen, dass diese düstere Analyse keine Furore gemacht hatte. Dennoch haben die Fragen nach Militanz, nach Organisierung, gesellschaftlicher Verankerung, inneren Strukturen und Privatisierung eine breite Debatte ausgelöst.
Was Mitte der 80er Jahre noch Schwarzmalerei war, wurde schließlich von den Ereignissen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der ›Wiedervereinigung‹ überholt, in einem Tempo und einer Unerbittlichkeit, die selbst wir für nicht möglich hielten – das versuchten wir 1991 in dem Text »Doitschstunde« zum Ausdruck zu bringen. Waren Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus in den 80er Jahren weitgehend an neo-faschistische Organisationen und Ideologien gebunden, so rückten diese in die Mitte der Gesellschaft und fanden bis in SPD-Kreise hinein eine neue Heimat.
So, das war ganz kurz unsere Geschichte bis Anfang der 90er Jahre. Wenn ich jetzt noch das nächste Jahrzehnt zusammenfassen sollte, würde es noch ein bisschen länger werden…

Mach ruhig! Und erklär uns dabei vielleicht auch, wie du heute den Einfluss siehst, den eure Arbeit auf die autonome Bewegung hatte.

Einen wirklich überprüfbaren Einfluss würde ich für die 80er Jahre gelten lassen. Der Versuch, in der Theorie und in unserer Praxis ein Konzept stark zu machen, das Bewegung und Organisierung zusammenbringt, klandestine Strukturen und gesellschaftliche Präsenz nicht gegeneinander ausspielt, sondern miteinander verschränkt, dem Spiel mit apokalyptischen Visionen (›Tanz auf dem Vulkan‹ … ›Alles geht kaputt, alles geht kaputt, und ich lache‹…) eine Utopie entgegenzustellen, an der wir unser eigenes Handeln und Tun messen, markierte eine Strömung innerhalb autonomer Gruppen.
Bereits in den 90er Jahren würde ich von keiner kontingenten autonomen Bewegung mehr sprechen. Die noch Ende der 80er Jahren formulierten Fragen blieben ohne kollektive Resonanz. Plötzlich ergaben sich ›Verteidigungslinien‹, die sich nicht aus einem autonomen Selbstverständnis ergaben, sondern aus der Wucht der Ereignisse: Auch wenn man heute die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung zu ›normalisieren‹ versucht, für viele von uns haben sie selbst die düstersten Annahmen übertroffen. Bei den Angriffen auf Flüchtlingsheime war nicht der daran beteiligte neonazistische Kern entscheidend, sondern die gesellschaftliche Akzeptanz, die von offener Zustimmung, Entfesselung bis hin zur Gleichgültigkeit reichte. Niemand von uns hätte sich gedacht, dass die ›Straße‹ einmal dem rechten Konsens gehören würde – was wir damals als eine bedrohliche Verschiebung des passiven hin zum rassistischen Konsens beschrieben. Bereits mit der Mobilisierung dieses rassistischen Konsens hatten wir massive Probleme, alleine zahlenmäßig. Tausende von bedrohlichen und mörderischen Angriffen auf Flüchtlinge, auf Wohnhäuser mit MigrantInnen, auf Menschen, die nicht deutsch genug aussahen, in kleinen Ortschaften, auf dem Land und in großen Städten überforderten gänzlich die verbliebenen autonomen Strukturen. Dieser Schock verstärkte sich noch dadurch, dass die Polizei jedem antifaschistischen Ansatz mit massiver Gewalt begegnete, während sie bei Pogromen zuschaute oder ›Schichtwechsel‹ machte – wie in Rostock-Lichtenhagen 1992, als Hunderte BürgerInnen tagelang ein Flüchtlingsheim belagerten und über zwei Hundertschaften vor Ort solange ›Schichtwechsel‹ machten, bis das Flüchtlingsheim in Brand gesteckt  werden konnte.
Es fiel eben nicht nur die Mauer in Berlin, sondern auch viele andere Brandmauern, die bis dahin hielten oder nicht belastet wurden: ein antifaschistisches (Staats-)Vermächtnis, das Pogrome, einen mörderischen Nationalismus und Angriffskrieg ausschlossen. Tatsächlich konnte man das Gefühl haben, es gäbe unten wie oben kein Halten mehr und der Weg ins ›Vierte Reich‹  stehe vor der Tür. Doch bereits damals war für Analysen kaum Zeit und das Zutrauen fehlte gänzlich, organisatorisch und politisch den sich daraus ergebenden Konsequenzen gewachsen zu sein: Was würde es bedeuten, wenn das ›Vierte Reich‹ tatsächlich eine politische Option der Herrschenden wäre? Wie geht man mit den Normalisierungsforderungen aller Parteien um, von CSU bis SPD, so rassistisch, nationalistisch und imperialistisch sein zu dürfen, wie andere europäische Staaten? Beendeten die ›Lichterketten‹ die blutigen Pogrome auf der Straße oder feierten sie einen ›gesunden‹ Nationalismus, der die ›falsche‹ Hautfarbe und Herkunft mit ihrer Wirtschaftlichkeit (›nützliche‹ und ›unnütze‹ Ausländer) verrechnete?
Mit dem Aufruf zur Blockade des Bundestages wollten wir nicht nur auf die Abschaffung des Asylrechts 1993 reagieren. Unsere Hoffnung war, uns gemeinsam an der Linie der Verstaatlichung von Pogrom und Wirtschaftlichkeit zu treffen (zum Beispiel im Text »Tag X – Die BrandstifterInnen sitzen in Bonn«), um den vielfältigen Normalisierungstendenzen etwas entgegenzusetzen. Das Ziel, einen Kristallisationspunkt, Raum für eine Neukonzeptionierung autonomer, militanter Politik zu schaffen, die den faktischen Zerfall in antirassistische, antifaschistische, antimilitaristische Gruppen aufhebt, verfehlten wir deutlich. Die Fragmentierung ging mit der Schwächung ihrer einzelnen Segmente einher – bis auf die Antifa-Gruppen, die bis heute einen konstanten und stabilen Organisationsgrad haben.

Mit diesen Themen setzten sich vor allem die Texte in euren ersten beiden Büchern, Geschichte, Rassismus und das Boot – Wessen Kampf gegen welche Verhältnisse? (1992) und Lichterketten und andere Irrlichter. Texte gegen finstere Zeiten (1994) auseinander. Wie hast du die Entwicklung seither erlebt?

Gut, wagen wir ein paar weitere Quantensprüngen bis in die Gegenwart:
1999 begann der erste Angriffskrieg Deutschlands gegen die BR Jugoslawien, wobei ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung darin eine politische Führungsrolle eingenommen hatte. Hätte eine CDU-geführte Regierung als Legitimation die üblichen Gründe angeführt wie ›nationale Interessen‹ oder Regimewechsel, wäre eine Opposition sicherlich einfacher gewesen. Tatsächlich überraschte die deutsche Regierung mit Begründungen, die der Anti-Kriegsopposition das Genick brachen: Krieg als antifaschistisches Vermächtnis, als Verpflichtung gegenüber der deutschen (nationalsozialistischen) Geschichte: ›Ein zweites Auschwitz verhindern‹ (Außenminister Joschka Fischer) bzw. einem KZ-System (Verteidigungsminister Rudolf Scharping), einer ethnischen Säuberung und einer Politik der Massenvergewaltigungen den Krieg erklären. Bewusst und gekonnt spielte die Bundesregierung eine historische Konstellation (1939-45) an, in der Linke und kapitalistische Staaten zusammen dem NS-Regime den Krieg erklärt hatten und damit pazifistische Grundeinstellungen und politische Gegnerschaften angesichts eines ›einmaligen Menschheitsverbrechens‹ zurückgestellt hatten. Eine Neuauflage der antifaschistischen Anti-Hitler-Koalition im Jahr 1999? Alleine die ein paar Jahre zuvor stattgefundenen Pogrome unter der Schirmherrschaft aller staatstragenden Parteien hätten eigentlich eine solche Parallele verbieten und ad absurdum führen müssen. Die Zweifel, ob die antifaschistischen Motive der Bundesregierung ernst gemeint sind, hätten aber auch anders geklärt werden können, indem man sich nämlich darüber verständigt hätte, was man unter Faschismus versteht. Alle die offen gebliebenen Fragen Anfang der 90er Jahre – Ordnet man Rassismus und Nationalismus als konstitutive Merkmale einer bürgerlichen Gesellschaft oder einem Faschismus zu? Was sind spezifische Konstitutionsbedingungen des Faschismus? – blieben angerissen und unbeantwortet.
Auch wenn man weit unterhalb der antifaschistischen Kriegsanleihen bleibt: Kann, soll und muss eine Linke einen Krieg befürworten oder ihn geschehen lassen, wenn zumindest Massenvergewaltigungen und mörderische nationalistische Strömungen damit (gewollt oder kollateral) verhindert werden? Zumindest die nicht-pazifische Linke stand damit vor dem Problem ihrer eigenen Ohnmacht und ihrer eigenen Unbestimmtheit, wie Gegen-Gewalt von militärischen Lösungen/Fantasien zu unterscheiden ist. Die Erfahrung, dass man reaktionäre, gesellschaftliche Verhältnisse nicht einmal mit legitimer/revolutionärer Gewalt emanzipieren kann, haben unzählige (bewaffnete) Gruppen in Deutschland und Europa gemacht. Auch auf nationaler/internationaler Ebene hätte ein Blick auf die sowjetische Militärintervention gegen das damalige Regime in Afghanistan in den 80er Jahren genügt, um zu dem nüchternen Ergebnis zu kommen, dass damit die soziale und gesellschaftliche Macht einer reaktionären Ideologie nicht gebrochen werden konnte – was die US-Alliierten seit 2001 dort ein zweites Mal erleben.
Damit wäre wir zugleich bei ›9/11‹, bei den Anschlägen des 11. September 2001 auf das World-Trade-Center in New York und dem Anschlag auf das Pentagon, das Verteidigungsministerium in Washington. Man muss als Linker kein Verfechter des UN-Völkerrechts sein – man sollte es nur nicht unterschreiten: Die benannten terroristischen Angriffe (deren Mittel verbrecherisch und Ziele reaktionär waren) waren keine Kriegserklärung eines Staates, sondern Anschläge einer Organisation, der Al Qaida, die (wahrscheinlich) zum afghanischen Staat in einer ähnlichen Verbindung stand, wie die terroristischen ›Contras‹, die einen verdeckten Krieg gegen das sandinistische Nicaragua führten, zur damaligen US-Regierung.
Neben der sich wiederholenden Frage, ob »das an sich Falsche das jetzt Richtige« (Konkret-Herausgeber Gremliza anlässlich des US-alliierten Krieges gegen den Irak 1991) ist, die sich bereits viermal als richtig falsch erwies, wurden auch andere gewichtige theoretische Neupositionierungen einer radikalen Linke auf die Probe gestellt: Stimmt es tatsächlich, wie Negri/Hardt behaupten, dass die USA als Empire, als unilaterale Führungs-Weltmacht ausgedient haben? Der fast im Alleingang geführte Krieg gegen den Irak 2003, selbst gegen das erklärte Nein der deutschen, französischen Regierung, belegte auf eindrückliche Weise, dass die USA nach wie vor eine hegemoniale Militärmacht sind – also weit entfernt von der multipolaren Weltordnung und einem Kommunismus, der im Schoss des Kapitalismus schlummern soll und nur noch wachgeküsst werden müsse…
Abgesehen davon, wie man die neuen Machtkonstellationen (das Verschwinden des Ostblocks, die EU als zweite Weltmacht, der Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht, die Tendenz zur ökonomischen und politischen Abkoppelung des lateinamerikanischen Kontinents vom ›Westen‹…) einordnet, stellt sich angesichts des Kontinuums des Kriegszustandes (die NATO befindet sich seit 2001 im permanenten ›Verteidigungsfall‹) eine ganz grundsätzliche Frage: Macht man die entschiedene Ablehnung dieser Kriege (in Afghanistan heute oder im Iran morgen) davon abhängig, dass der Gegner, der Feind emanzipativ, fortschrittlich oder gar sozialistisch ist? Oder kapiert man endlich, dass sich weder die US-Regierung noch die EU-Regierungen ihre Kriege danach aussuchen, wer reaktionär ist, sondern wer der Durchsetzung ihrer Interessen im Weg steht!
In Afghanistan, im Irak oder im Iran eine Opposition zu suchen, die sowohl dem reaktionär-religiösen Regime widerspricht als auch dem Westen, wird überall schwierig sein, nachdem die revolutionäre Linke von beiden verfolgt, ausgeschaltet und liquidiert wurde. Ein alles andere als machtvoller Weg, so mühsam wie für die irakische Opposition, die nach Verbündeten in der radikalen Linke in Deutschland suchen müsste.
Der letzte Sprung führt uns in das im Jahr 2008 begangene ›40-jährige Jubiläum der 68er Revolte‹, das von Teilen der CDU bis hin zu den Grünen gemeinsam und versöhnlich gefeiert wurde.
Zum einen überraschte daran seine nun endgültig vorgenommene Verstaatlichung, die die Grundmotive der Revolte huldigt und selbst kleine Gesetzesübertritte als Beitrag zur ›Zivilisierung der Gesellschaft‹ akzeptiert: eine angeblich zweite Staatsgründung, die den ›Verfassungspatriotismus‹ aus der Taufe gehoben hat. Hier hätten sich für eine radikale Linke weitgehende Fragen angeschlossen: Hat sich seitdem der herrschende Umgang mit Protest verändert, und wenn ja, wie? Was genau macht das Leben nach 68 erträglicher? Stehen die tatsächlich vielen diversifizierten Lebensstile vom Business-Look bis zum Skater (in der Freizeit), der lockere Umgang mit verschiedenen Modellen von Lebensgemeinschaften (vom Single bis zum schwul/lesbischen Ehepaar) nicht in diametralem/komplementärem Gegensatz zu dem uniformen Diktat der Arbeitsverhältnisse und den sich ausdehnenden Zonen der Rechtlosigkeit, wenn Protest in Widerstand umschlägt?
Anstatt sich ins Zentrum dieser Debatte zu stellen, hat sich die Linke an den ›rechten Rand‹ locken lassen, der die 68er Revolte als eine Werk der Stasi (die den Staatsschutzbeamten Kurras damit beauftragt haben soll, den Studenten Benno Ohnesorg zu ermorden, um so die 68er Revolte auszulösen…) entlarvte, um die angekündigte Kohl’sche ›geistige Wende‹ ein weiteres Mal zu proben … und in den Sand zu setzen.
Die Linke – wobei man sagen muss, dass die meisten wohl eher desinteressiert weghörten – folgte brav und diskurshörig, hielt tapfer und ungehört dagegen, ohne eine eigene, wirklich spannende Diskussion zu führen bzw. stark zu machen: Was hat sich seit 68 verändert, wenn man hinter die bunten Lebensstile und –modelle schaut?
Schlaglichtartig einige grobe Markierungspunkte:
Die Selbstverständlichkeit von garantierten, geschützten Arbeitsverträgen ist heute zum Privileg einer immer schmäler werdenden Schicht von LohnarbeiterInnen geworden. Ein Drittel der derzeitigen Arbeitsverhältnisse werden mit entkernten Werks- und Zeitverträgen abgewickelt. Ein wachsender Anteil von abhängig Beschäftigten ist nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt durch ein Arbeitsverhältnis zu sichern. Armut durch Arbeit ist in der BRD eine Realität geworden, die die 68er Bewegung – aus sicherem Abstand – als Imperialismus in der sogenannten Dritten Welt ausmachen konnte.
Seit 1989 zählt das Bundeskriminalamt weit über 100.000 rassistische Straftaten. Flüchtlingsheime wurden unter aktiver Teilnahme der Bevölkerung angegriffen und angezündet, während Politiker von CDU bis SPD Verständnis für die ›berechtigen Sorgen‹ aufgebrachter Bürger äußerten. An verschiedenen Orten dieser BRD existieren ›national befreite Zonen‹. 1993 wurde all dies – mit einer satten zwei Drittel Mehrheit im Bundestag – in Gesetzesform gegossen. Seitdem ist eine Flucht nach Deutschland faktisch ausgeschlossen.
Die Grund- und Schutzrechte gegenüber dem Staat auszusetzen, war bis 68 i.w. durch einen Art Generalangriff gekennzeichnet: Die Einführung der Notstandgesetze 1968, deren Verabschiedung bekanntlich mit in die 68er-Bewegungen einfloss. Daraus haben die nachfolgenden Regierungen gelernt: Anstatt Grund- und Schutzrechte durch Verhängung eines Ausnahmezustand en gros außer Kraft zu setzen, wurden in den folgenden Jahrzehnten Artikel für Artikel ›ergänzt‹, sprich ausgehöhlt, und in Eingriffsrechte des Staates verkehrt. (2)
Wenn man sich nur in Ansätzen den Ausbau des Repressions- und Überwachungsapparate seit 1968 anschaut, ist man versucht, den ›Polizeistaat‹ der 60er Jahren zurückzufordern. Viele Demonstrationen gleichen heute einem mobilen Gefangentransport: Man verbietet sie, indem man sie bis zur Unkenntlichkeit erlaubt. Waren Observationen, Abhörmaßnahmen noch gegen Einzelne, gegen Verdächtige gerichtet, so stehen heute Daten, Bewegungsbilder, Gewohnheiten in Hülle und Fülle verdachtsunabhängig bis leicht anfangsverdächtig Polizei und Geheimdiensten zur freien Verfügung, wobei sich das Poolen aller Lebensdaten in dem Verschmelzen von Polizei und Geheimdienst institutionalisiert.
Man muss aufhören, sich das weiter en Detail oder gar systematisch vor Augen zu führen, um in keine Depression zu verfallen. Kurzum: die Bedingungen, die die 68er Revolte vorfand, liegen nicht hinter, sondern weit vor uns!

Lass uns darauf, was angesichts dieser Umstände zu tun ist, noch zurückkommen. Vorher jedoch noch einmal zur Geschichte der L.U.P.U.S.-Gruppe: 2001 habt ihr noch eine Textsammlung zur Geschichte militanter Politik veröffentlicht, mit dem Titel Die Hunde bellen … Von A – RZ. Eine Zeitreise durch die 68er Revolte und die militanten Kämpfe der 70er bis 90er Jahre. Seither haben wir von L.U.P.U.S. so gut wie nichts mehr gehört – was ist passiert?

Wie meistens in solchen Fällen ist das eine längere Geschichte, aber der entscheidende Punkt war wohl, dass die Unterschiede, die in der Gruppe immer existiert haben, irgendwann nicht mehr produktiv nutzbar waren.

Nach der L.U.P.U.S.-Gruppe ist es kaum noch zu Versuchen von autonomen Kollektiven an kontinuierlicher theoretischer Arbeit gekommen. Insofern stellt eure Aktivität bis heute ein besonderes Kapitel in der Geschichte der Bewegung dar. Wie siehst du die Entwicklung der Bewegung, seit ihr nicht mehr als Gruppe in Erscheinung tretet?

Danke, das mit dem »besonderen Kapitel« tut gut zu hören. In Deutschland, auf den Veranstaltungen, die ich mache, höre ich das nicht. Dort erlebe ich einen ziemlichen Spagat: Ein kleiner Teil der Anwesenden kann sich biografisch und über die Präsenz bestimmter Texte auf autonome Geschichte beziehen, für den größten Teil ist das alles so exotisch und weit entfernt wie für uns damals die Geschichte des spanischen Bürgerkrieges 1936-39.
Was meine Person und die vielen fragmentierten autonomen ›Weltbilder‹ angeht, so gehen sie ziemlich getrennte Wege: Ich bin heute mehr denn je von unserer grundsätzlichen, unversöhnlichen Kritik am Kapitalismus überzeugt. Viele notwendigen Abstraktionen haben sich mit so vielen Erfahrungen und Eindrücken gefüllt, dass mir beim Lesen mancher Papiere/Analysen noch heute die Gänsehaut über den Rücken fährt. Und ich empfinde es überhaupt nicht als Niederlage oder schweres Versäumnis, bestimmte Entwicklungen in ihrer Tragweite nicht erfasst und begriffen zu haben. Eine Analyse ist eben nicht dazu da, die Wahrheit gefunden, sondern einen Faden gelegt zu haben, an dem man sein Tun ausrichtet. Ihre Vorläufigkeit, das Wissen darum, dass sich jede Analyse erst beweisen muss, verhindert die denunziatorische Art ihrer Verteidigung und den denunziatorischen Umgang mit anderen Einschätzungen.
Ich verstehe deshalb, nein, ich habe nicht das geringste Verständnis für ›Linke‹, die ihre berechtigte Angst damit kaschieren, ihre Vorsicht und Unentschiedenheit damit erklären, dass doch alles schwieriger, komplexer geworden sei, dass die Fronten und Feindbilder nicht mehr stimmen, Gut und Böse nicht mehr in archaischer Reinheit zu finden seien. Ich habe diese Linke mal als glücklich Verwirrte bezeichnet, weil sie ein Banalität zur Ausrede machen: Weder in 60er, noch in den 70er oder 80er Jahren waren die Verhältnisse einfach, die Fronten ein Strich, der das Verhasste vom Wünschenswerten trennte. Immer und zu jeder Zeit musste man komplexe Verhältnisse und die eigenen Verstrickungen darin auf einen Kern zusammenschmelzen, sich entscheiden und durch das eigene Tun den Beweis antreten, dass diese Vereinfachung richtig war.
Ich habe immer anderen und mir gesagt: Es ist leicht, sich für nicht korrumpierbar zu halten, wenn man nie ein verlockendes Angebot bekommen hat. Im Inneren blieb ich also vorsichtig, auch mir selbst gegenüber, ob man mich nicht doch kaufen könnte. Ich bin heute mehr denn je davon überzeugt, dass es nicht den ›guten‹ Menschen gibt, sondern nur Strukturen und Bedingungen, die es ihm erschweren, egoistische Ziele zu verfolgen. Gut, ich habe mich für ein solches Angebot nicht gerade aufdrängt. Ich weiß nur eines: Es wird immer schwerer, diese Dummheit und Duldsamkeit zu ertragen und diese vielen Formen der Erniedrigungen, die hier (in der Regel) nicht mit einem gewaltsamen, sondern ›natürlichen‹ Tod enden.
Ich habe schon damals, in den 80er Jahren nicht daran geglaubt, dass die Frage: ›Schwein oder Mensch‹ heißt. Die vielen Ex-Militanten, wie Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und die vielen Namenlosen, die heute dieses System ›zivilisieren‹, sind nicht gebrochen worden. Die bekanntesten unter ihnen müssen sich nur als authentischer Zeugen zur Verfügung stehen, dass alles andere ein (tödlicher) Irrweg gewesen ist bzw. geworden wäre.
Es ist also paradox: Je sicherer ich mir bin, dass ich völlig uneinsichtig bleibe, desto mehr verschwimmt mein politisches Umfeld. Weißt Du, was mir klar gemacht hat, dass ich ›Zeitzeuge‹ geworden bin und den kollektiven Raum verlassen habe? Seitdem man mich mit ›Sie‹ anspricht!
Wenn Du also nach der ›Entwicklung der Bewegung‹ fragst, so befürchte ich, dass es keine Bewegung gibt, die für sich in Anspruch nimmt, sich ins Verhältnis zu den verschiedenen autonomen Strömungen zu setzen. Das hat neben anderen Gründen auch damit etwas zu tun, dass viele Protagonisten dieser Bewegung selbst schweigen und den Jüngeren gar keine Chance geben, sich dazu ins Verhältnis zu setzen.
Zwei sehr prägende Ereignisse möchte ich hier in aller Knappheit ausführen:
Ende 1999 stieß ich durch Artikel in Berliner Zeitungen im Zusammenhang mit Festnahmen und Durchsuchungen, die mutmaßlichen RZ-Mitgliedern galten, auf die Vorgeschichte: »Bereits Ende November wurde der Berliner Kampfsportlehrer Tarek Mohamed Ali M. unter dem Verdacht festgenommen … Kopf der ›Revolutionären Zellen‹ zu sein«, stand beispielsweise im Tagesspiegel. Nicht viel später stand fest, dass es sich dabei um Tarek Mousli handelt, der sich zur RZ-Mitgliedschaft bekannt und sich alsbald als Kronzeuge zur Verfügung gestellt hatte. Aufgrund seiner Aussagen wurden mehrere Personen als RZ-Mitglieder verdächtigt, verhaftet bzw. gesucht.
Nach einer Zeit der Verwirrung lagen die Fakten auf dem Tisch, die die Presseberichte im Kern bestätigten. Nun stand die Frage im Raum: Wie geht man mit den Verhaftungen, wie geht man politisch mit den bevorstehenden Prozessen um? Handelt es sich bei dem ›großen Schlag gegen RZ-Gruppen‹ um ein blankes propagandistisches Konstrukt oder ist dieser politische Zusammenhang ganz und gar nicht willkürlich – unabhängig davon, was man den einzelnen Angeklagten juristisch nachweisen kann?
Wenn man den Erklärungen der Solidaritätsgruppen folgte, schien klar zu sein, dass die Angeklagten zum Vorwurf der RZ-Mitgliedschaft keine Stellung nehmen wollten und alles darauf setzten, den Kronzeugen Tarek Mousli unglaubwürdig zu machen. Das persönliche Wissen über Tarek Mousli und die uns zur Verfügung stehenden Details brachten uns hingegen recht schnell zu dem Schluss, dass diese (Verteidigungs-)Strategie nicht einmal juristisch aufgehen würde. Entscheidender für uns war aber, wie wir uns jenseits der Beschuldigten und ihrer Prozessstrategien zu dem politischen Vorwurf verhalten wollten. Wie gehen wir mit unserer eigenen Sympathie für das RZ-Konzept um? Wie setzen wir uns dazu ins Verhältnis, ohne die Unterschiede und Widersprüche innerhalb des RZ-Konzepts zu leugnen?
Wir verfassten ein längeres Positionspapier (später mit aufgenommen in das Buch Die Hunde bellen – Von A… bis RZ), das sich deutlich zu den Erklärungen der Solidaritätsgruppen in Widerspruch setzte:

»Das Solidaritätskomitee zur ›Freilassung. de‹ sagt zu den erhobenen Vorwürfen im Berliner Verfahren: alles Konstrukt … oder gar nichts. Selbst in dem Vorwurf des Verrats sieht es einzig und alleine eine Gefahr für die Konstrukt-Theorie – als bräuchte es zum Verrat die Wahrheit. Das mag eine juristische Entscheidung sein. Aber wir sind weder Rechtsanwälte, noch die Gefangenen. Für einige ist persönliche Betroffenheit Grund genug für Solidarität. Für uns bedeutet Solidarität die eigene politische Bezugnahme zu dem, was in diesem Prozess zur Anklage erhoben wird – unabhängig davon, wie viel an den Vorwürfen wahr oder unwahr ist. Denn mit dem Verfahren wird nicht nur den GenossenInnen der Prozess gemacht. Es geht auch darum, über die individuelle Tatzuweisung, unbehelligt und unwidersprochen RZ-Geschichte zu reimen. Die Revolutionären Zellen werden sich nicht zu Wort melden – sie haben sich faktisch 1992 selbst aufgelöst. In den Prozessen wird die Geschichte der RZ von 1973 bis 1992 aufgerollt, enthüllt, erfunden und neu zusammengefügt. Für die politische Bedeutung dieses Prozesses spielt es dabei keine entscheidende Rolle, wie viel von der Anklage Konstrukt ist, wie viel Tarek Mousli als Kronzeuge der Anklage tatsächlich weiß. Um Geschichte zu schreiben, braucht es nicht die Wahrheit, sondern die Macht des unwidersprochenen Redens. Allen Andeutungen folgend werden die Angeklagten dazu schweigen.
Wenn wir uns im Folgenden zur Geschichte der RZ äußern, dann machen wir das folglich weder im Sinne der juristischen Anklage, noch im Sinne der Angeklagten. Wir wollen uns in Beziehung setzen zur politischen Bedeutung dieses Prozesses. Wir wollen weder das Reden über die RZ, noch die ›Moral der Geschichte‹ dem Kronzeugen Tarek Mousli, dem Staatsanwalt und am Ende dem Richter überlassen.«

Wir forderten zu einem offensiven Umgang mit der Geschichte der RZ auf, der ihre Existenz und Bedeutung bejaht, indem wir den politischen Kontext zwischen autonomen Gruppen und dem RZ-Konzept benennen und transparent machen. Denn angesichts der bereits Jahre zuvor veröffentlichten Auflösungserklärungen der RZ war doch klar, dass im schlechtesten Fall der Geschichte der RZ der Prozess gemacht werden sollte. Für uns ging es darum, die Fragen kollektiv zu diskutieren, die mit den verschiedenen Auflösungserklärungen im Raum standen – viele Analysen, Rückblicke und Schlussfolgerungen, die im Gegensatz zu vielen autonomen Gruppen, die sich wort- und erklärungslos aufgelöst hatten, formuliert und somit diskutierbar waren:

»Uns geht es nicht darum, die Geschichte der RZ zu (be-)hüten, sondern deren strategische Überlegungen, deren Praxis, deren Organisationsform als wichtige Erfahrung in all unsere zukünftigen Überlegungen und Einschätzungen lebendig zu halten. Sie wird als ein Teil militanter Geschichte präsent bleiben, wenn wir deren Stärken und Schwächen, deren Erfolge und Niederlagen in dem berücksichtigen, was militante, autonome Politik heute und morgen sein kann und muss.
Die Geschichte der RZ lässt sich nicht wiederholen, weder als Bekenntnis noch als Beschwörung. So täuscht die Parole ›Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle‹ (Plakat anlässlich der drei Verhaftungen in Berlin im November 1999) eine Kontinuität und eine Identität vor, die es nicht gab und nicht gibt. Sich für die RZ entschieden zu haben, war nicht dasselbe, wie in einem besetzten Haus zu leben, in der Antifa oder in einer Frauengruppe aktiv (gewesen) zu sein. Wir halten es für falsch und gefährlich, diesen Unterschied zu verwischen. Das macht Solidarität nicht unmöglich, sondern klarer.«

Bekanntlich ist der Versuch, den Kronzeugen Tarek Mousli unglaubwürdig zu machen und zum Vorwurf der RZ-Mitgliedschaft zu schweigen, völlig gescheitert.
Die zarte Hoffnung, dass nach dem Ende der Prozesse und der vielen Einlassungen eine politische Debatte möglich und eröffnet wird, hat sich nicht erfüllt.
Auch das zweite Ereignis, das ich schildern will, hat mit den Motiven zu tun, die für diese (uneingelöste) politische Einmischung entscheidend waren:
2004/5 fing ich damit an, die (autonome) Geschichte der Startbahnbewegung anhand von fünfzehn damals Beteiligten auf- und niedergeschrieben, um sie als historisches Erbe, als strategisches Reservoir, als Anleitung für eine militante Praxis zur Verfügung zu stellen. Vor allem bin ich einer Verpflichtung nachzukommen, die ich für militante Politik ungeheuer hoch einschätze und für nicht hintergehbar halte: Alles auf den Tisch zu legen, zur Sprache zu bringen, was jahrelang unter einem Strafvorbehalt stand: Die Strommastaktionen, die schwere Verletzung einer daran Beteiligten und alles, was im Rahmen eines 129a-Verfahrens zehn Jahre lang juristisch verfolgbar blieb.
Seitdem das Buch heraufgekommen ist, im Oktober letzten Jahres, habe ich vielleicht zwanzig Veranstaltung dazu gemacht. Bis auf ganz wenige Ausnahmen, die auf persönliche Verbindungen beruhen, fanden alle im Rhein-Main-Gebiet statt. Das heißt im Klartext: Die Startbahnbewegung, die in den 80er Jahren ein bundesweiter Kristallisationspunkt war, ist auf ein lokales Ereignis zurückgefallen.
Die Absicht, mit diesem Buch Überlegungen, Vorgehensweisen, Widersprüche und konkrete Abläufe offen zu legen, als historische Folie zu nutzen für alle, die sich mit dieser Praxis und ihren Grundannahmen auseinandersetzen wollen, ist nicht nur an Landesgrenzen gestoßen.

Warum, denkst du, ist das so?

Beginnen wir mit dem verständlichsten Grund: Wer misst sich heute noch mit der Anti-AKW-Bewegung, die 100.000 Menschen mobilisieren konnte, oder mit den Häuserkämpfen der 80er Jahre, wo es auch 10.000 oder 15.000 waren? Das Gefühl, dass man heute wo ganz anders steht, verengt den Blick, schon alleine aus Selbstschutz. Wenn man in einer Gruppe vor sich hinwurschtelt oder mit ein paar Hundert auf der Straße ist, verliert man schnell den Mut, sich mit etwas zu vergleichen, was man für unvergleichbar hält. Aber darum ginge es auch nicht: Denn der Blick in die Geschichte anderer würde zu aller erst deutlich machen, dass die Fragen, die man sich heute stellt, schon damals gestellt wurden, dass vieles nur angefangen werden konnte. Es ginge darum, die ›eigene‹ Geschichte weder als Mythos unerreichbar zu machen, noch als Niederlage abzuschreiben.
Warum zwischen Geschichte und ihrer Aneignung ein so großer Graben liegt, ist nicht nur äußeren Umständen geschuldet: Die Privatisierungswelle seit den 90er Jahren hat auch zu einer Privatisierungswelle innerhalb des militanten Selbstverständnisses geführt: Lebens-, Geschlechter- und Wohnverhältnisse, (Liebes-)Beziehungen, Schule, Uni und Arbeitsverhältnisse ragen immer weniger in die politische Praxis hinein. Sie sind im Großen und Ganzen unsichtbare, undiskutierbare Konstante, die mit immer größer werdender individueller Anstrengung vor der systematischen Prekarisierung in Schutz genommen werden. Damit will ich die 80er-Bewegungen nicht in den Himmel loben, sie hatten nur andere Bedingungen: Man konnte damals noch auskömmlich (und staatlich gestützt) am Rand leben, was die Idee der (zu erkämpfenden) ›Freiräume‹ und die Alternativbewegung materiell stützte. Und noch etwas ganz Wesentliches kam hinzu: Auch wenn die Parole ›Das Private ist politisch‹ etwas gefährlich Penetrantes und Rabiates hat (und zu zahlreichen Überforderungen führte), sie hat einen produktiven, rebellischen Kern: das sichtbar, leb- und genießbar zu machen, was morgen sein soll. Die Systemfrage nicht als Diskurs zu sehen, sondern als Laboratorium des eigenen und kollektiven Tuns. Sich diese Geschichte wieder anzueignen, die durch die 68er-Bewegung erst ins politische Spiel gebracht wurde, ist wirklich riskant.

Der autonomen Bewegung ist immer wieder Theorienfeindlichkeit vorgeworfen worden. Wie habt ihr das während eurer Arbeit erlebt, und wie siehst du das heute? Was bedeutet für dich theoretische Arbeit im Rahmen radikaler linker Politik?

Der Vorwurf ist nicht leicht vom Tisch zu wischen. Ich kann mich noch an den hämischen Kommentar aus der Frankfurter Sponti-Szene der 80er Jahre erinnern, der unseren Häuserkampf so zusammenfasste: »Der Stein ist ihr Bewusstsein.«
Den Stein einfach zurückzuschmeißen, fiel uns in der Tat schwer. Denn die Kämpfe der 70er Jahre hatten ein theoretisches und strategisches Fundament, sie waren in ungeheuer spannende und fetzige Diskussionen eingebunden, die weit über den Häuserkampf hinausragten.
Wir selbst haben immer wieder den Aktionismus, die fehlende theoretische Auseinandersetzung, die doch recht bescheidenen Einflüsse strategischer Diskussionen und die Überhöhung der Militanz als Marken- und Selbsterkennungszeichen kritisiert. Diese Distanz zur schnellen Selbstvermarktung, der immer wieder unternommene Versuch, das eigene politische Handeln gesellschaftlich einzuordnen, hat auch etwas mit glücklichen biografischen Umständen zu tun. Einige waren selbst am Rand der Häuserkampfe in den 70er Jahren groß geworden, andere haben den Deutschen Herbst 1976/77 erlebt und fast alle haben die ›bleierne Zeit‹ danach durchlitten, als Schüler, als StudentInnen, als JoberInnen. Wer dieser politischen Lähmung und Erstarrung entgehen wollte, musste sich mit den 68er-Bewegungen auseinandersetzen, mit dem bewaffneten Kampf der RAF und den massiven Auseinandersetzungen unter und mit den Spontis in den 70er Jahren, zwischen dem bewaffneten Kampf/Illegalität und der beginnenden Vergrünung des außerparlamentarischen Widerstandes. Jeder Begriff war belegt, hatte eine Vergangenheit. Militanz, Gegen-Gewalt, Radikalität mussten immer gegen die gemachte Niederlage verteidigt und neu bestimmt werden.
In diesem Sinne waren wir im Vorteil: Wir mussten uns sehr früh die Frage stellen, warum eine so starke Bewegung wie die in Frankfurt in den 70er Jahren zerbrochen ist, warum ein erheblicher Teil später den Realo-Flügel der Grünen bildete, warum der Versuch, die Politik der Konfrontation neu auszuloten, scheitere, die Politik der Mitgestaltung eine so dominante Rolle in Frankfurt einnehmen konnte und eine Renaissance des Reformismus mitbegründete, die die RAF bereits Mitte der 70er Jahre für gescheitert, für tot erklärte.
Vielleicht liegt es auch an dem Verhältnis zur Theorie. Ich halte nicht viel von einer Theorie, die sich zum Komplizen, zum Mitläufer der (eignen) Praxis macht. Sie muss das erfassen können, was den eigenen Erfahrungen vorausgeht und das, was vor uns liegt, um so der eigenen, kollektiven Praxis die Subjektivität streitig zu machen – auf solidarische und bescheidene Weise. Theorie ist für mich geronnenes Wissen, fermentierte Erfahrungen, die im besten Fall historische und antizipatorische Bewusstheit miteinander in Bewegung halten. Theorie-Arbeit hat also nicht der (eigenen, befürworteten) Praxis zu schmeicheln, sie muss sie durchdringen, ihr das Absolutum des Jetzt nehmen, egal wie das Ergebnis ausfällt.
Wenn ich noch kurz auf meine Eindrücke von heute zu sprechen komme: Ich glaube nicht, dass es an theoretischen Anstrengungen, an theoretischen Verortungsversuchen fehlt. Was mir vielmehr auffällt, ist, dass dies zwei völlig fremde und selbstverliebte Universen sind: die Theorie-Arbeit und die politische Praxis. Ich erinnere mich mit Schrecken an den ›Ums Ganze‹-Kongress in Frankfurt letzten Jahres. Ich war positiv überrascht, dass das Antifa-Spektrum eine grundsätzliche Debatte über systemtheoretische Ansätze (Werttheorie- Deregulierungstheorien…) angesetzt hatte, und fassungslos, auf welchem Abstraktionsniveau die beteiligten Podiumsgäste aneinander vorbeireferierten und der Saal in Ehrfurcht erstarrte und schwieg.

Woran liegt deiner Ansicht nach das Schweigen?

Man soll ja angeblich mit den Herausforderungen wachsen. In diesem Fall wurde die Latte so hoch gehängt, dass man sie nur reißen konnte. Der notwendige Streit darüber, ob Antifaschismus nur als Anti-Nazi-Kampf verstanden wird, überspitzt formuliert, als ›militanter‹ Arm der Zivilgesellschaft oder mehr sein soll und muss, wurde nach dem ›Sommer der Staatsantifa‹ 2000/1 nur in Ansätzen und schon gar nicht übergreifend geführt. Und die ganz grundsätzliche Frage, welche Rolle neonazistische Gruppen/Parteien als systemisches Krisenpotenzial spielen (vergleichbar mit den Verhältnissen in der Weimarer Republik), ist seit 30 Jahren ›unterbelichtet‹. Damit hätte man sich der Systemfrage sozusagen vom rechten Rand aus genähert. All diese Fragen jedoch zu überspringen, um sofort ein Bad in der Werttheorie zu nehmen, halte ich für alle politische Gruppierungen für eine gigantische (Selbst-)Überschätzung.
Hinzu kommt eine ›Diskussionskultur‹, die ja vielerorts als einschüchternd und arrogant erlebt wird, eher eine ›Diss- als Streitkultur‹. Die Frage müssen wir uns eben alle stellen, immer und immer wieder: Will man sich nur selbstvergewissern oder zielen Diskussionen darauf ab, andere zu überzeugen, und das hieße, das ›andere‹, die ›anderen‹ nicht aus dem Raum zu mobben, sondern sich begründen lassen. Die Frage, was heute richtig oder falsch ist, wird eh nicht über die bessere Denunziation, sondern die bessere Praxis entschieden.
Hinzu kommt ein fehlendes Selbstverständnis, das von den ReferentInnen verlangt, dass sie sie sich erklären, verständlich machen können. Stattdessen galt das Motto: Wer zuerst nachfragt, hat verloren.

Trotz aller Schwierigkeiten, die du in mehr als zwei Jahrzehnten erlebt hast, bleibst du der Bewegung verbunden. Was sind die Hoffnungen, die da offensichtlich am Leben geblieben sind?

Ehrlich gesagt, hat das wenig mit den gegenwärtigen Bewegungen und Ansätzen zu tun. Und das meine ich nicht geringschätzend, sondern im Hinblick auf meine/unsere eigene Geschichte. Wenn man seine eigene politische Identität davon abhängig macht, ob man mit ihr Erfolg hat, dann sollte man sich schleunigst erfolgversprechenderen Politikmodellen verschreiben bzw. am besten auf politisches Engagement ganz verzichten. Nein, auch wenn man die 80er Jahre als den Höhepunkt der autonomen Bewegung beschreibt und viele heute neidisch auf das damals Mögliche schauen, so haben wir auch zu jener Zeit – zum Verdruss unserer GenossInnen – nie vergessen, dass auch das ein Blick durchs Aquarium war: Selbst zu Hochzeiten, als man vielleicht 50.000 Autonome zählte, blieb man unter der Ein-Prozent-Marke. Und die Kritik, dass vieles sehr selbst-referent, auf sich bezogen blieb, galt auch damals.
Ich möchte das an einem Beispiel erklären, da das Problem der ›militanten Identität‹ auch heute existiert und geradezu paranoide Ausmaße annimmt, wenn man politisch so bedeutungslos ist:
Als Ende der 70er Jahre rund um die geplante Startbahn-18-West der Protest der dort lebenden BürgerInnen wuchs und an Stärke zunahm, war der Blick der allermeisten aus unseren politischen Zusammenhängen hämisch bis abfällig: Man traute ihnen nicht mehr zu, als ihr Eigenheim zu retten, Ruhe zu bewahren und an die Politiker zu appellieren. Bis auf wenige aus dem automonen-anarchistischen Spektrum beteiligte sich niemand an den Aktivitäten der Bürgerinitiativen/Bis. Erst als eine Bauplatzbesetzung 1980 angekündigt wurde, schaute man einmal vorbei. In den über zehn Jahren Startbahn-Widerstand habe ich, haben viele Autonome aus der Region unglaublich viel gelernt; ich würde behaupten, dass es die wichtigste und ernsthafteste Erfahrung war, die ich gemacht habe. Denn wir mussten zweierlei lernen, was für eine militante Praxis, die tatsächlich gesellschaftliche Verhältnisse verändern, das heißt eben auch Kräfteverhältnisse verschieben will, eminent wichtig ist: Erstens mussten wir vor Hunderten, Tausenden, die nicht unserer Meinung waren, erklären, warum der Glaube an Politiker, die man nur überzeugen müsse, falsch ist, warum es in diesem Konflikt nicht um die besseren Argumente geht, sondern um ein Gewaltverhältnis, das nicht zur Wahl steht. Zweitens mussten wir Mut machen und dafür gerade stehen, wenn die Frage im Raum stand, was dieser Desillusionen folgt. Wir mussten eine Praxis entwickeln, die an den Möglichkeiten vieler anknüpft, das heißt im Kern: Masse und Militanz in eine politische Dynamik zu versetzen, anstatt die ›Masse‹ zu instrumentalisieren und die ›Militanz‹ zu mystifizieren.

Gedankenexperiment: Wozu ist die autonome Bewegung im Idealfall in den nächsten Jahren in der Lage? Was sind unsere Möglichkeiten? Und was muss passieren, damit wir diese realisieren können?

Nun, es gibt viel zu viel, was möglich und bitter nötig wäre. Nehmen wir die größte Wirtschafts- und Finanzkrise seit den 30er Jahren. Mit einem gewissen Respekt betrachte ich die Antworten der Herrschenden, die tatsächlich aus der Krise der 30er Jahre gelernt haben. Ich würde das als ein groß angelegtes Narkotisierungsprogramm (Konjunkturprogramm/Rentenerhöhung, Abwrackprämie…) bezeichnen. Man muss kein Wirtschaftsexperte sein, um zu wissen, dass die über eine Billionen Euro, also zwei Bundeshaushalte, nicht von denen bezahlt werden, die das Geld verbrannt haben.
Den Wunsch ›Wir bezahlen nicht eure Krise‹, mit dem Zehntausende Anfang dieses Jahres auf die Straße gegangen sind, teilen viele. Dass nicht einmal die Veranstalter daran im Ernst glaubten, belegten sie vor Ort und riefen zur Unterstützung der ›Opelaner‹ auf, die mit Verzicht auf Lohn und anderen Opfern ihre Arbeitsplätze zu retten versuchen. Natürlich ist es leicht, das als halbherzlich und systemimmanent zu kritisieren. Es gab auch Pfiffe für diesen Solidaritätsaufruf, einige forderten stattdessen zum Systemwechsel, zum Kampf ›Ums Ganze‹, also für den Kommunismus auf. Meine Kritik daran ist nicht, Unrealistisches, Utopisches in den Raum zu werfen, sondern die völlige Folgenlosigkeit. Stellen wir uns vor, das ›Ums Ganze‹-Bündnis würde sich vor den Werkstoren von Opel versammeln und den ArbeiterInnen zu erklären versuchen, was es mit ihren Forderungen genau meint, während die ›Opelaner‹ an die Frankfurter Uni gingen, um die radikale Linke zu fragen, warum ihre Proteste gerade einmal dafür reichten, die Studiengebühren rückgängig zu machen, um nun fleißig für ihre Master- und andere Elitestudien zu büffeln. Das alleine würde die vielen identitären Stelldicheins im Nu verglühen lassen und die gesellschaftlichen Frontverläufe deutlich machen.
Wenn man auf die letzten 30 Jahre militanter, systemantagonistischer Politik zurückblickt, dann kann man eines festhalten: Es gibt nur zwei Möglichkeiten, gesellschaftlich wirksam den Status Quo zu verändern:
Die radikale, militante Linke muss eine gesellschaftliche (Alltags-)Präsenz, konkret eine Gegen-Macht entwickeln (durch Zentren, Schaffung kollektiver Orte), die der wachsenden Vereinzelung und der Privatisierung existenzieller Fragen etwas entgegensetzt.
Eine radikale Linke, die wirklich den Kapitalismus überwinden will, muss ihre (meist) privilegierten Orte der Kritik (Uni, Wissenschaftsapparate) verlassen und sich riskieren. Denn wenn man einmal die Arbeitsverhältnisse unter die Lupe nehmen würde, die radikale Linke eingehen und ertragen, würde man auf einen Reformismus stoßen, der sich durchaus mit dem der ›Opelaner‹ vergleichen ließe.
In meinen kühnsten Träumen stelle ich mir z.B. vor, das ›Ums Ganze‹-Bündnis und die Interventionistische Linke/IL würden zusammenkommen, um sich exemplarisch für drei, vier kontinuierliche Interventionen in Arbeitskämpfe zu entscheiden. Alleine der Vorschlag würde viele Fragen und Schwierigkeiten konkret machen: Mit wem nimmt man Kontakt auf? Wie sähe eine Unterstützung aus? Wie ist das Verhältnis zur Gewerkschaft, zum Betriebsrat? Wie könnte eine Organisierung aussehen, die einen Betrieb/eine Fabrik als soziales und nicht nur gewerkschaftliches Terrain begreift? Wofür reichen die Kräfte überhaupt?
All das liegt zur Zeit so weit weg von der radikalen, militanten Linken – vielleicht auch, weil man jeden Tag darüber stolpern kann. Zwei aktuelle Beispiele fallen mir dazu ein.
In Berlin streiken die in der FAU organisierten Angestellten des Kinos ›Babylon‹ seit Monaten um einen Tarifvertrag und bessere Arbeitsbedingungen. Das Kino hat einen Namen. Es gehörte einst zu den linken Kinos in Berlin. Zur Zeit laufen in diesem Kino im Rahmen der ›Expo Kolumbien‹ Filme, die Werbung für den mörderischen Standort Kolumbien machen. Deutlicher kann ein Konflikt über den engen Horizont von Lohnkämpfen nicht hinausweisen. Greift die radikale Linke in Berlin zu? Nein.
Seit kurzem streiken zum ersten Mal GebäudereinigerInnen in Deutschland. Sie sind den miesesten Arbeitsbedingungen unterworfen, sie werden mit unverschämt niedrigen Löhnen abgespeist, der migrantische Anteil ist hoch, die willkürlichen und erpresserischen Repressalien ebenfalls. Wer erinnert sich da nicht an den wunderbaren Film von Ken Loach ›Bread and Roses‹, der die mühevollen Versuche einer kleinen Gewerkschaft in den USA nachzeichnet, bis es zum Streik und Happy End kommt. Wie viele Linke haben diesen Film gesehen und waren berührt und bewegt? Warum verlassen diese Sympathien nicht das Kino?
Wenn man sich fragt, warum in Frankreich Millionen auf die Straße gehen, um die geplante Erhöhung des Rentenalters zu Fall zu bringen, wenn man neidisch auf die ›Bossnappings‹ und Betriebsbesetzungen blickt, dann muss man hinter die spektakulären Bilder schauen: Es ist die strukturelle Präsenz der (radikalen) Linke in und außerhalb der Betriebe, die sowohl für diese Mobilisierung als auch für die Radikalität Voraussetzung und Bedingung ist.
Wie eingangs angerissen, wir haben viel in den 80er Jahren theoretisch und praktisch aus Italien übernommen – eines fehlte völlig: Arbeitsverhältnisse als Kampfterrain, verstanden als ein gesellschaftliches Verhältnis, das sich heute mehr denn je nicht auf (gewerkschaftliche) Lohnkämpfe reduzieren lässt. Mehr denn je stellt sich angesichts eines 10-Stundentages, völliger Erschöpfung und permanenter Angst die Sinnfrage, eine Systemfrage, die in der Tat jedes Arbeitsverhältnis ins Rotieren bringen würde.
Wenn man diese Überlegungen mitnimmt, dann wird vielleicht auch die folgende Kritik an der Kampagnenpolitik deutlich: Zahlreiche Papiere und Auswertungen von Kampagnen wurden seit den 80er Jahren geschrieben – ohne die geringste Konsequenz. Natürlich ist es naheliegend, eine Großereignis (NATO-Konferenz, G-8-9-Gipfel usw.) zum Anlass zu nehmen, um verschiedene Strömungen, Gruppen zusammenzuführen. Bereits in den 80er Jahren war das ein ungeheurer Kraftakt, so etwas auf die Beine zu stellen, die Infrastruktur, das politische Programm, die Bündnisse, die das tragen und finanzieren sollen. Damals wie heute war mit einem Kampagnenhighlight immer die Hoffnung verknüpft, dass man damit die Basisarbeit beflügelt, die politische Arbeit vor Ort stärken könne; dass am Ende einer kraftraubenden Kampagne mehr Menschen angesprochen, begeistert, ermutigt und politisiert werden. Wenn man zustimmt, dass eine Kampagne mehr sein muss als ein wichtiges soziales Ereignis, mit vielen auf der Straße zu sein, dann darf man auf das Danach nicht warten, man muss vorbereitet sein.
Die Kampagne gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm 2008 hat unheimlich viel Kraft gekostet und gebunden, für Zehntausende war es ein wichtiges und eindrucksvolles Erlebnis. Doch das Ganze bleibt ein Event, wenn sich die beteiligten Gruppen nicht ernsthaft fragen, ob der gewünschte Effekt tatsächlich eingetreten ist.
Es ist doch eine Realität, dass immer weniger Gruppen immer größere Ereignisse zu stemmen versuchen. Die Lösung ist nicht, damit technisch immer besser fertig zu werden, sondern sich gemeinsam dem Fakt zu stellen, dass immer weniger aktive, handlungsfähige Gruppen immer aufwendigere Großereignisse aus dem Boden stampfen müssen. Man stelle sich nur einmal vor, die über sechs Monate Vorbereitung, die ungeheure Energie, die man reingesteckt hat, wäre in strukturelle Projekte investiert worden, die den Alltag verändern, anstatt ihn für ein paar Tage vergessen zu machen.

In Deinem Vorschlag, das verkaufte Leben in den Mittelpunkt zu stellen, hört sich sehr nach ›alter‹ Zentralität, nach Haupt- und Nebenwiderspruch an, dem ihr ja auch in den 80er Jahren widersprochen habt.
Ein berechtigter Verdacht. Ich glaube jedoch, dass dies heute keine ideologische Frage ist, auch keine, die andere Gewaltverhältnisse ausblendet. Es geht um die Berücksichtigung existenziellen Veränderungen.
In den 80er Jahren hatten wir das Privileg, dass sehr vieles noch außerhalb von rigiden Lohnarbeitsverhältnissen möglich war. SchülerInnen hatten genug Zeit, noch etwas anders zu tun als zu büffeln, StudentInnen konnten ihr Studium nebenbei machen, viele kamen mit Teilzeit-Gelegenheitsjobs erträglich über die Runden, nicht wenige lebten von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Heute haben sich diese Bedingungen radikal geändert. Nur noch wenige haben das Glück, über ihre Zeit frei zu verfügen. Viele sind einfach erschöpft, wenn sie von der Schule, von der Uni, von der Lohnarbeit nach Hause kommen. Sie sind froh, wenn sie ihre Ruhe haben und haben alle Hände voll zu tun, das Private einigermaßen erträglich zu regeln.
Die Schlinge, die heute um die Lebenszeit gelegt wird, ist nicht beliebig, man kann sie sich nicht mehr aussuchen.
Wenn heute kaum noch handlungsfähige Gruppen existieren, das meiste über Treffen schnell und hektisch abgewickelt werden muss, dann liegt das nicht nur an dem fehlenden Wunsch nach Kollektivität. Die meisten können sich eine solche einfach nicht mehr ›leisten‹, sie ist viel zu zeitaufwendig. Denn die ›Freizeit‹, die vielen noch bleibt, ist mehr von der Lohn-Arbeit geprägt, als von dem Wunsch, endlich etwas ganz anderes zu machen.
Diese erpresserischen Lebensverhältnisse haben selbstverständlich maßgeblichen Einfluss auf alle politischen Projekte. Ich habe von der Notwendigkeit von sozialen Zentren, von kollektiven Orten angesprochen, in denen es nicht um (Selbst-)Verwertung und Selbstoptimierung geht. Um solche Orte zu schaffen und zu erhalten, braucht man neben Geld vor allem viel Zeit, die ohne Entlohnung zur Verfügung gestellt werden muss. Wenn diese (Lebens-)Zeit aber gar nicht zur Verfügung steht, wenn sie längst verkauft ist, dann brechen solche kollektiven Orte in sich zusammen. Ich befürchte, dass es nicht nur in Frankfurt so ist: Die wenigen Ort, die diesen Anspruch verfolgen, platzen nicht aus allen Nähten. Im Gegenteil: Sie stehen größtenteils ungenutzt herum, weil es zu wenige Gruppen und Initiativen gibt, die solche Ort tragen können und wollen. Der Appell, dass wir gegen die vielfältigen Formen der Privatisierungen von öffentlichem Eigentum bis hin zu Räumen etwas unternehmen müssen, zerschellt nicht am guten Willen und an der Einsicht, sondern an Bedingungen, die irgendwie ertragen und individuell gemeistert werden. Der Verlust von vielen selbstverwalteten Zentren, der Mangel an handlungsfähigen Gruppen, das Fehlen von kollektiven Orten, die allen kostbar sind, korrespondieren mit der wachsenden Vereinnahmung unserer Leben durch Arbeitsbedingungen (wozu G-8-Schulen, Master- und Elite-Studien usw. ebenso zählen) gegen die wir uns nicht wehren. Es geht um die Rückeroberung von Lebenszeit, und die müssen wir uns dort zurückholen, wo sie uns geraubt wurde.

Wolf Wetzel         18.2.2010


Aus: ak wantok (Hg.), Perspektiven autonomer Politik, Unrast Verlag April 2010

(1) »Gerade weil unsere Solidarität den Genossen im Untergrund gehört, weil wir uns mit ihnen so eng verbunden fühlen, fordern wir sie von hier auf, Schluss zu machen mit diesem Todestripp, runter zu kommen von ihrer ›bewaffneten Selbstisolation‹, die Bomben wegzulegen und die Steine und einen Widerstand, der ein anderes Leben meint, wieder aufzunehmen.« Rede von Joschka Fischer auf dem Pfingstkongress in Frankfurt 1976, zit. nach ID Nr. 129, Juni 1976

(2) »Das alles wird ›rechtsstaatlich‹ verlaufen, so daß die Mehrheit den fließenden Übergang vom Rechtsstaat zum Unrechtsstaat … gar nicht bemerken wird.« ehemaliger Düsseldorfer Polizeipräsident, Hans Lisken, zit. nach Rolf Gössner, jW vom 11.09.2006

Visits: 734

8 Kommentare

  1. Inpatient Drug Rehabilitation Centers Near Me http://aaa-rehab.com Drug Rehab http://aaa-rehab.com Substance Abuse Treatment Centers Near Me
    http://aaa-rehab.com

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert