Der Hessenkrimi – Teil I

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Wie die hessische CDU eine verlorene Landtagswahl (2008)

dennoch gewinnt….

Am 3.November 2008 war in Hessen exemplarisch ein ›Lehrstück in Demokratie‹ zu besichtigen, wie bereits ein bescheidenes Reformprojekt, das im Fall des Flughafenausbaus nur die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens garantieren wollte, auf ein Kartell gestoßen war, das zwar Wahlen verlieren kann, aber nicht die Macht.

4 + X
4 + X = - Y


Wie die hessische CDU eine verlorene Landtagswahl (2008) gewinnt – mit Hilfe von Milliarden-Unternehmen und dank des rechten Flügels der SPD

Die hessischen Landtagswahlen vom 27.Januar 2007 endeten mit einer parlamentarischen Patt: Weder die CDU mit dem Wunschpartner FDP zusammen waren in der Lage eine Regierungskoalition zu bilden, noch hatte die siegreiche Herausfordererin Andrea Ypsilanti von der SPD eine stabile Mehrheit für eine rot-grüne Koalition. Die SPD hatte zwar – gegen den Trend – die Wahlen gewonnen, ein anderes Ziel jedoch verfehlt: Sie wollte auf alle Fälle einen Einzug der Partei DIE LINKEN ins hessische Parlament verhindern. Dies unterstrich sie mit dem Wahlversprechen, keine Regierung mit der Partei DIE LINKEN einzugehen, sich auch nicht von ihr tolerieren zu lassen: »Es bleibt definitiv dabei: Mit der Linkspartei wird es keine Zusammenarbeit geben – weder so noch so.«[1] Trotz dieser Ausgrenzungsstrategie zog die Partei Die LINKE mit knappen 5,1 Prozent ins hessische Parlament ein. Ein Pyrrus-Sieg für die SPD, denn die Option einer Großen Koalition war spätestens dann passé, als die CDU die Forderung ablehnte, Koch als Ministerpräsidenten fallen zu lassen. Roland Koch blieb also mit seiner CDU-Regierung geschäftsführend im Amt.

Die hessische SPD – ›Einer muss den Bluthund machen!‹[2]

Der Wahlsieg der Agenda-2010-Gegnerin Andrea Ypsilanti war nicht nur für die regierende CDU eine Schlappe – sondern auch für die Bundes-SPD, die von der Agenda-2010-Politik nicht abweichen wollte. Als der ehemalige Bundeswirtschaftsminister der SPD Wolfgang Clement als BILD-Lieferant vor der Stimmabgabe für Ypsilanti warnte, weil sie u.a. den Ausstieg aus der Atomenergie wolle, wurde deutlich, dass der nach wie vor dominante ›wirtschaftsfreundliche, mittelständische‹ Parteiflügel den Kurs des überwiegenden Teils der hessischen SPD heftig bekämpfte. Der hessische Kronprinz dieses Flügels war Jürgen Walter, der nach dem Willen dieses Bündnisses Spitzenkandidat für die Landtagswahlen 2008 werden sollte, auch nach Wunsch seiner politischen Ziehväter Gerhard Bökel, ehemaliger Innenminister in Hessen und Lothar Klemm, ehemaliger SPD-Wirtschaftsminister in Hessen – heute Aufsichtsratsmitglied der FRAPORT-AG. Walter blieb jedoch stellvertretender Landesvorsitzender und war im Schattenkabinett Ypsilantis als Innenminister vorgesehen. Trotz und gerade wegen dieser ›Und basta‹ Querschläge gelang es der hessischen SPD fast acht Prozent Wähler hinzuzugewinnen. Andrea Ypsilanti war innerparteilich gestärkt und vorerst nicht angreifbar. Als sie jedoch ankündigt hatte, eine Minderheitsregierung mit der Tolerierung der LINKEN anzustreben und der SPD-Bundesvorsitzende Beck dies duldete, begann der mediale und innerparteiliche Kampf um die Vorherrschaft innerhalb der SPD. Im März wurden Grundsatzerklärungen vom rechten Seeheimer Kreis und dem neoliberalen ›SPD-Netzwerk‹ gegen eine Zusammenarbeit mit der LINKEN auch in den Länderparlamenten verabschiedet. Jürgen Walter versuchte auf dem Landesparteitag am 29.3.2008 für die Option einer großen Koalition zu werben und erntete dafür Buhrufe und wenig Beifall. In Hessen erstarrten die Fronten in und zwischen den Parteien nach dem Motto: ›Wer sich zuerst bewegt, hat verloren‹. Daran änderten einzelne Ausfälle von Politikern wie Jürgen Walter (der im Juni in der Bild-Zeitung abermals für eine Große Koalition warb) nichts, deren Zweck ausschließlich darin bestand, den innerparteilichen Gegner aus seiner Stellung zu locken. Zeitgleich bewegte sich Hessen auf einen seiner größten innenpolitischen Konflikte zu: den weiteren Ausbau des Frankfurter Flughafens, der ein Wortbruch des SPD-Ministerpräsidenten Holger Börner aus dem Jahr 1981 zur Bedingung hatte: »Nach dem Bau der Startbahn wird kein Baum mehr für den Flughafen fallen.«

Der Flughafen Frankfurt als »nationale Aufgabe«

Kurz vor der Landtagswahl hatte der CDU-Wirtschaftsminister noch den Planfeststellungsbeschluss für eine der größten Baustellen Europas – die Nordwestlandebahn im Kelsterbacher Wald – erlassen, der der FRAPORT als Bauherrin durch den Sofortvollzug die Möglichkeit gab, mit den vorbereitenden Arbeiten für die Rodung von 250 Hektar Wald zu beginnen. Seit dem Sommer 2008 begannen deren Arbeitstrupps mit Vermessungen, spürten Kampfmittel auf und holzten das Unterholz ab: Die FRAPORT wollte noch vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens im Sommer 2009 mit der Rodung und Baubeginn vollendete Tatsachen schaffen. Das Flughafenausbau-Kartell fürchtete – in Erinnerung an die »bürgerkriegsähnlichen« Auseinandersetzungen um die neue Startbahn West 18 – eine unkontrollierbare Dynamik des Konflikts. Der Ausbau ist mit einem geschätzten Investitionsvolumen von vier bis acht Milliarden Euro Deutschlands größtes Infrastrukturprojekt. Nachdem sich weder durch das sogenannte Mediationsverfahren, noch im Regionalen Dialogforum der Konflikt entschärften, sich weder der BUND seine Klage für 2,5 Millionen Euro abkaufen ließ, noch die Kommunen in Geheimverhandlungen zum Klageverzicht bewegt werden konnten, standen insgesamt 260 Klagen von Kommunen, BUND und Privatpersonen gegen den Planfeststellungsbeschluss des Wirtschaftsministeriums an, von denen ausgewählte Musterklagen im Sommer 2009 vor dem Verwaltungsgerichtshof verhandelt wurden. Die politische Baugenehmigung der CDU-Landesregierung, die schon das Forstgesetz viermal änderte, um der FRAPORT gefällig zu sein, beinhaltete nicht nur den Sofortvollzug, sondern schuf gegen die Ergebnisse des Mediationsverfahrens und den parteiübergreifenden Befriedungskonsens »Kein Ausbau ohne Nachtflugverbot« aus dem Jahr 2000 ein Einfallstor, um das Nachtflugverbot zu torpedieren, indem es 17 Flüge in der Kernzeit von 23 bis 5 Uhr genehmigte, und in den Randzeiten bis zu 150 Flüge gestattete.

Der Wortbruch, der damit begangen wurde, sollte jedoch erst später Karriere machen.

Als am 27.1.2008, etwas mehr als einen Monat nach der Baugenehmigung, Andrea Ypsilanti Siegerin der Landtagswahlen wurde, titelte die FAZ börsentechnisch: »Die Wahlverlierer heißen FRAPORT und K+S«. Für das Ausbau-Kartell stände »die wichtigste landespolitische Entscheidung« (Roland Koch) auf dem Spiel. Ein Spiel, das man nur (noch) gewinnen konnte, wenn man parteiübergreifend das ›Ypsilanti-Projekt‹ kippen würde, das CDU, große Teile der Bundes-SPD und der rechte Flügel der Hessen-SPD als gemeinsame Gefahr ausmachten.

Die politische Intrige gegen die linke SPD

Im Juni 2008 wurde bekannt, dass die Gutachten, die SPD und die Grünen unabhängig voneinander in Auftrag gegeben hatten, um zu untersuchen, ob aus dem Parlament heraus Möglichkeiten bestehen, den Planfeststellungsbeschluss für den Flughafenausbau zu verändern, vorlagen. Beide Gutachten kamen zum Ergebnis, dass eine Regierung nur begrenzte Möglichkeiten habe, die Baugenehmigung noch zu beeinflussen. Noch vor einer Stellungnahme der SPD-Fraktion meldete sich Jürgen Walter im Landtag zu Wort und sagte, dass die SPD den Planfeststellungsbeschluss für rechtmäßig halte und juristisch nicht angreifen werde, was insbesondere bei den Grünen für Überraschung sorgte.

Jürgen Walter, den man durchaus ›FRAPORT’s Mann bei der SPD‹ nennen könnte, hatte nicht zum ersten Mal auf der Seite von CDU und FDP Position bezogen und wurde mehrmals in Regierungs- oder Presseerklärungen der CDU ob seiner Haltung zum Flughafenausbau lobend erwähnt. Für die Grünen waren die Ergebnisse der Rechtsgutachten Anlass, das rot-rot-grüne Tolerierungsmodell in den Raum zu stellen. Die CDU reagierte umgehend mit Warnungen an SPD und die Grünen, den weiteren Ausbau des Flughafens nicht in Frage zu stellen. Zu allem Überdruss stand seit Ende Mai 2008 im Kelsterbacher Wald noch ein Hüttendorf. Für das Flughafen-Kartell, das alle möglichen Risiken möglichst kostensparend ausschalten wollte, wäre eine rot-grüne Minderheitsregierung in der Phase des eskalierten Konflikts bei Rodungsbeginn ein weiterer Unsicherheitsfaktor geworden, der alle Planungen über den Haufen geworfen hätte. Die FRAPORT plante – das von Ausbaugegnern angestrengte Eilverfahren bereits zu ihren Gunsten eingerechnet – den Wald noch im Herbst 2009 abzuholzen. Weil sie innerhalb der Wachstumsperiode von März bis November nicht roden darf, fürchtete sie jede weitere Verzögerung durch die Gerichte. Dieses Bedürfnis des Ausbau-Kartells nach »Verfahrenssicherheit« traf sich mit dem innerparteilichen Interesse des rechten Flügels in der SPD – und die personelle Schnittstelle dieser Interessen war Jürgen Walter.

Anfang August 2008 kam es zu einem Geheimtreffen von Vertretern beider Flügel: Jürgen Walter, Nina Hauer, Carmen Everts, Gerrit Richter und Nancy Faeser (rechter Flügel) mit Andrea Ypsilanti, Gernot Grumbach und Norbert Schmitt (linker Flügel). Die Grundaussage des rechten Flügels war überraschend: Sie sehen keine Alternative mehr zum Tolerierungsmodell, stellen aber Bedingungen an die Zusammenarbeit mit der LINKEN. Diese Kriterien sollten gemeinsam von Jürgen Walter und Andrea Ypsilanti vorgestellt werden. Gemeinsam erstellte man einen innerparteilichen Fahrplan. In einem Interview mit der FAZ vom 16.8.2008 rechtfertigte Jürgen Walter diesen Gesinnungswandel damit, dass dies die »einzige Möglichkeit der Regierungsbildung« wäre. Carmen Everts wurde Mitautorin des Kriterienkatalogs, der der LINKEN vorgelegt werden sollte. Darin wurden Bedingungen an eine Zusammenarbeit formuliert, wie ein Bekenntnis zu Demokratie und Verfassungsschutz und eine »Distanzierung vom SED-Unrecht«. Nach allen Äußerungen, die Jürgen Walter, Silke Tesch und Carmen Everts öffentlich machten, war das Ziel der Koalitionsverhandlungen eindeutig ihr Scheitern: »Gestern sagte Frau Everts, sie habe insgeheim gehofft, die Linkspartei würde diesen Katalog ablehnen.«[3]

Das politische Ziel einer große Koalition (»Wir wollten eine Regierung ohne Beteiligung der Linkspartei«, »Wir wollten keine Neuwahlen« Dagmar Metzger/Carmen Everts), sollte mit einer Doppelstrategie erreicht werden: Die linke Parteiführung sollte zu Koalitionsverhandlungen mit Grünen und Tolerierungsgesprächen mit der LINKEN ermutigt werden, um sie in diesen Verhandlungen an internen und externen Widersprüchen scheitern zu lassen. Das Ziel dieser Implosionsstrategie beschreibt der FAZ-Redakteur Volker Zastrow recht plastisch: Andrea Ypsilanti sollte aufs Dach gejagt werden, um ihr »dann die Leiter wegzuziehen.«[4]

Damit hätte man die eigenen Spuren verwischt und wäre bei Erfolg ohne Makel weiter im Rennen.

Zur Überraschung dieser Gruppe nahmen die Verhandlungen jedoch zügig alle Hürden – die Partei DIE LINKE akzeptierte den Kriterienkatalog der SPD und innerhalb der Grünen und der SPD stellten sich die Gremien mit überragenden Mehrheiten hinter den Linksregierungskurs. Die Hoffnungen der Gruppe mussten sich also auf den 23.10.2008 konzentrieren, den letzten Tag der Koalitionsverhandlungen, an dem der Flughafenausbau diskutiert und die Ressorts personell besetzt werden sollten.

Mit den Worten »Wir Sozialdemokraten sind nicht angetreten, um Hessen unter Naturschutz zu stellen« ging Jürgen Walter als Mitglied der Verhandlungsdelegation forsch und auf Konfrontationskurs gegen die Grünen in die Verhandlung – und kam am Ende als großer Verlierer wieder heraus. Weder hatte er das Wirtschaftsministerium erhalten, mit dem er Herr über das Baugenehmigungsverfahren gewesen wäre, um so die Koalition zum Scheitern zu bringen, noch konnte er verhindern, was die Koalitionspartner überraschend ausgehandelt hatten: Die FRAPORT wurde ultimativ aufgefordert, bis zu 15.November 2008 zu erklären, dass sie den Sofortvollzug (den Beginn der Rodungs- und Bauarbeiten) aussetzt, ersatzweise würde das Wirtschaftsministerium den Sofortvollzug gemäß § 80 Abs.4 VwGO bis zum Abschluss aller Gerichtsverfahren aussetzen. Ergänzend beabsichtigte die Landesregierung ein Verfahren zur Umsetzung eines absoluten Nachtflugverbotes einzuleiten (Koalitionsvertrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen). Zusammen mit der personellen Besetzung des Ministeriums mit dem SPD-Linken Herrmann Scheer und als Staatssekretär den Ausbaugegner Frank Kaufmann (Grüne), der den Ausbaubefürworter Güttler (SPD) ersetzen sollte, war der Worst Case für das Ausbau-Kartell eingetreten. FRAPORT-Vorstandschef Bender reagierte sofort und beauftragte die Hauskanzlei mit einer juristischen Prüfung des Koalitionsvertrags. Was folgte, war eine pressure campaign, wie sie im Buche steht: Sofort meldeten sich die Parteien CDU und FDP mit drohenden Untergangsszenarien für den Wirtschaftsstandort Hessen zu Wort: Der Verlust Zehntausender Arbeitsplätze, der finanzielle Ruin des Bundeslandes drohe, immer flankiert von den Wirtschaftsverbänden: Auf dem Hessischen Unternehmertag am 28.10.2008 versprach der Aufsichtsratsvorsitzende der Commerzbank und Chef des Bundesverbandes deutscher Banken dem FRAPORT-Chef Wilhelm Bender: »Wir werden mit ihnen mutig, entschlossen und entschieden dafür kämpfen, dass dieser Flughafen ausgebaut wird, und zwar so schnell wie möglich.« In allen Printmedien, Radiostationen und Fernsehsendern meldeten sich Konzernchefs, Verbände und Experten zu Wort: BDI, BARIG (Verband von Fluggesellschaften), Bankenverband, Industrie- und Handwerkskammern, Heraeus, Lufthansachef Mayrhuber, Arbeitgeberverband Chemie, BJU (Junge Unternehmer), Bauindustrie, Gesamtmetall Hessen, um eindringlich vor dem Zustandekommen der rot-grünen Regierung zu warnen, das drohende Ende des Flughafens als internationale Drehscheibe und Jobmotor beschwörend. Besonders pikant ist der viel zitierte Betriebsratsvorsitzende der Fraport Peter Wichtel, der als Arbeitnehmervertreter und Aufsichtsratsmitglied an vorderster Front gegen Rot-Grün kämpfte, ohne dass öffentlich erwähnt wurde, dass Peter Wichtel im CDU-Landesvorstand sitzt und Mitglied der CdA ist und inzwischen als erster Arbeitnehmervertreter den Preis ›Soziale Marktwirtschaft‹ der Konrad Adenauer Stiftung erhalten hatte. Auf einer Sondersitzung des Aufsichtsrats der FRAPORT am 31.10.2008 wurde mit einer Enthaltung die Forderung der zukünftigen Landesregierung nach Aussetzung des Sofortvollzugs abgelehnt, mit hohen Schadensersatzforderungen gedroht, und die Rechtmäßigkeit des Koalitionsvertrages bestritten. Für das Ausbau-Kartell wurde auch der Universitätspräsident Rudolf Steinberg als Fachmann für Verwaltungsrecht an Bord geholt, um die Rechtswidrigkeit des Vorgehens der Regierung in spe zu bezeugen.

Die öffentliche Diskursmaschine war nur die Spitze dessen, was informell und intern in Bewegung gesetzt wurde, um den stillen Druck auf die zukünftige Linksregierung zu erhöhen. Die Bundesführung der SPD hatte den Kurs der Hessen-SPD zwar kritisiert, hielt sich aber öffentlich zurück. Inoffiziell gab es zumindest am letzten Tag der Koalitionsverhandlungen, dem 23.10.2008, direkte Kontakte zwischen rechter Berliner SPD-Führung und der Gruppe um Jürgen Walter: Sigmar Gabriel aus dem Leitungskreis der Seeheimer und Bundesumweltminister weilte im Marburger Wahlkreis bei Silke Tesch, der Adlatus von Müntefering Kajo Wasserhövel, Bundesgeschäftsführer der SPD und Wahlkampfleiter, in Riedstadt bei Frau Carmen Everts. Wahrscheinlich nahm die ›Aktion schwarzer Montag‹ erst nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen Form an, als klar war, dass die Strategie, die Koalition an ihren inneren Widersprüchen zerschellen zu lassen, gescheitert war – ob mit der Zustimmung der Parteiführung in Berlin bleibt dahingestellt. Die innerparteilichen Einflussmöglichkeiten der Gruppe um Walter waren jedenfalls nach den Koalitionsverhandlungen erschöpft: Trotz aller Bedenken und Kritik trug der rechte Flügel, der drei Ministerien erhalten hatte, den Regierungswechsel äußerlich mit. Wenn sie dennoch die rot-grüne Minderheitsregierung verhindern wollten, blieb ihnen als letztes Datum nur noch ein ›finales Ereignis‹ vor der letzten Probeabstimmung in der Fraktion.

Aktion schwarzer Montag

Schon Wochen vor dem Abstimmungstermin wurde befürchtet und vom politischen Gegner erhofft, dass Andrea Ypsilanti ein ähnliches Schicksal wie Heide Simonis in Schleswig Holstein erleiden könnte. Ein ums andere Mal spielte Roland Koch den Ball in diese Richtung: Gegenüber der Wirtschaftswoche äußerte er am 16.8.2008, dass ein Scheitern von Andrea Ypsilanti alles einfacher machen und man danach alle Konstellationen prüfen werde. Im Focus vom 23.10.2008 gerierte er sich als SPD-Insider und deutete vielsagend an, dass Andrea Ypsilanti noch nicht am Ziel wäre. Auch die FDP setzte – gut informiert – auf ein Scheitern von Andrea Ypsilanti in der Abstimmung: »Hochmut kommt vor dem Fall, der Fall von Andrea Ypsilanti wird am 4.November bei der geheimen Abstimmung im hessischen Landtag deutlich werden.«[5]. Unabhängig davon, dass es eine Strategie war, die SPD nervös zu machen, waren CDU und FDP über die Haltung von abtrünnigen SPD-Abgeordneten bestens informiert.

Die vier SPD-›Rebellen‹ auf Abruf und das ›Last-Minute-Gewissen‹

Wer zu dieser ›Walter-Gruppe‹ gehörte, war zumindest intern bekannt: In einer Presseerklärung vom 31.10.2008 nannte die ›Bürgerinitiative gegen Flughafenerweiterung ‹die vier SPD-Abgeordnete namentlich, eine zugespielte Indiskretion, die deutlich macht, dass die vier SPD-Abgeordnete nicht wie Phönix aus der Asche aufstiegen und am aller wenigsten ihr ›Gewissen‹ in letzter Sekunde entdeckt hatten. Der Countdown lief, wozu man auch das Vorwort des Chefredakteurs Di Lorenzo in der Zeit[6] vom 31.10.2008 zählen darf, ein Aufruf zum Königinmord: Zuerst bezeichnete er die mögliche rot-grüne Regierung als »linker Putsch gegen den Wählerwillen«, und »Betrug am Wähler«, um dann für ein Notwehrrecht zu werben, das diesen »Pakt mit der Linken« verhindern und einen Neuanfang ermöglichen würde. Ein gewichtiges und zeitlich gut platziertes Vorwort zum vorauseilenden Adelsschlag für die ›Vier Rebellen‹ oder ›Vier Musketiere‹ in Wartestellung. Parallel dazu wurden Serien von Meinungsumfragen abgeschossen, um der privilegierten Minderheit der Kampagnen einen ›Wählerwillen‹ zu verschaffen. Vorneweg generierte das Meinungsforschungsinstitut FORSA, dessen Chef Manfred Güllner und Schröderfreund auch schon mal Becks Rücktritt forderte, das erwünschte Wahlergebnis: Wahlweise 66 Prozent oder auch 80 Prozent lehnten ihnen zufolge eine Tolerierung von Rot-Grün durch DIE LINKE in Hessen ab.

Wieviele um die bevorstehende Enthauptung wussten, ob die designierte hessische Landesregierung überrascht oder nichts mehr in der Hand hatte, lässt sich nur erahnen: Fakt ist, dass am Morgen des 3.11.2008 die FRAPORT-Aktie bereits fünf Prozent positiv tendierte. Um 11.50 Uhr, also eine Stunde vor der Pressekonferenz, hatte die Aktie von FRAPORT bereits 13,35 Prozent zugelegt. Dass an der Börse Erwartungen gehandelt werden, die dank Insiderwissen[7] ›wilde‹ Spekulationen überflüssig machen, bestätigte sich nur eine Stunde später. Im Schutz von Personenschützern, die das CDU-Innenministerium stellte, entdeckten vier SPD-Abgeordnete in einer Presseöffentlichkeitsshow im Dorinthotel ihr Gewissen. Das Ergebnis war überwältigend, politisch und kurstechnisch: Der Schaden für die hessische SPD war maximal, eine rot-grüne Minderheitsregierung gescheitert und die Ausbaupläne des Flughafen-Kartells gesichert. Zugleich war der Machtkampf innerhalb der SPD entschieden: Eine SPD-Landespolitik, ein wenig links von ›Agenda 2010‹ und einer ›Boss der Bosse‹-Politik, sollte es nicht geben.

SPD-Kamarilla im Interesse des Kapitals

Wolfgang Clement, der ehemalige Wirtschaftsminister, der Hartz IV-Empfänger Parasiten und Schmarotzer nannte, gehört zu einer ganzen Riege von Sozialdemokraten wie Lothar Klemm (Aufsichtsrat FRAPORT), Alfred Tacke (Vorstandsvorsitzender STEAG), Hermann Borghorst (Arbeitsdirektor Vattenfall) oder der Wirtschaftsminister aus Schröders Kabinett Werner Müller, jetzt Aufsichtsratsvorsitzender der Bahn AG und Vorstandsvorsitzender der RAG, oder dem ›Genossen der Bosse‹ Gerhard Schröder (Aufsichtsratsvorsitzender des NEGP-Konsortiums von Gazprom, Eon und BASF), die in die Energiewirtschaft oder ehemaligen Staatskonzerne befördert wurden.

Wolfgang Clement meldete sich nach dem ›schwarzen Montag‹ erleichtert zu Wort und ist »froh, dass der Kelch an uns vorübergegangen ist«[8], und hofft, dass »der Spuk der Zusammenarbeit mit der Linkspartei vorbei sei«[9]. Clement ist nicht nur Aufsichtsrat bei RWE Power AG, sondern auch bei der Dussmann-Gruppe, beim Zeitarbeitsunternehmen DIS und beim Zeitungsverlagskonzern DuMont-Schauberg, dem die Frankfurter Rundschau zu 50,1 Prozent gehört. Er ist Mitwirkender des ›Konvent für Deutschland‹, einem Beratergremium für die Politik, und Organ des ›Klassenkampfs von oben‹, dem zum Beispiel Klaus von Dohnanyi, Roman Herzog, Oswald Metzger, Jutta Limbach und Otto Graf Lambsdorff angehören, und von FRAPORT, TUI, Linde, Continental, Porsche, WestLB, RWE, Deutsche Bank und vielen anderen finanziert wird. Eng verwandt mit diesem Gremium ist die ›Initiative neue soziale Marktwirtschaft‹, für die Clement ebenfalls aktiv ist: eine PR-Agentur für neoliberale Politik (Fortsetzung der Agenda 2010), finanziert von Gesamtmetall und Elektroindustrie – eine elitäre Lobbyorganisation des Kapitals, deren Ziel es ist, den ideologischen und kulturellen Boden für ›marktradikale‹ Reformen zu bereiten.

Am 3.November 2008 war in Hessen exemplarisch ein ›Lehrstück in Demokratie‹ zu besichtigen, wie bereits ein bescheidenes Reformprojekt, das im Fall des Flughafenausbaus nur die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens garantieren wollte, auf ein Kartell gestoßen war, das zwar Wahlen verlieren kann, aber nicht die Macht.

Wolf Wetzel     2008 (aktualisierte Fassung)


[1] Andrea Ypsilanti, ein Tag vor der Wahl, am 17. Januar 2008

[2] Mit diesem Satz begründete 1919 der SPD-Reichswehrminister Gustav Noske das Massaker an streikenden Arbeitern (Spartakusaufstand), das mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht seinen furchtbaren Höhepunkt fand.

[3] Die Zeit vom 4.11.2008

[4] Volker Zastrow, Die Vier. Eine Intrige, Rowohlt Verlag 2009

[5] FDP-Presseerklärung von Jörg Uwe Hahn vom 25.10.2008

[6] Mitherausgeber Ex-SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt

[7] Wenn man den zeitweiligen Kursgewinn von knapp 15 % auf den entsprechenden Kapitaleinsatz umrechnet, kann man erahnen, wie man auf geradezu spielerische Weise die Kampagnenkosten refinanzieren konnte.

[8] WAZ vom 3.11.2008

[9] WAZ vom 10.11.2008

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6 Kommentare

  1. Allgemein weiß ich ja, daß dieser und alle anderen Staaten von einer Finanzmafia regiert werden.
    Im konkreten Fall, mit Menschen, die mein Nachbar sein könnten, macht mich das vollkommen sprachlos.
    Ich glaubte zu denken, die korrumpierten Chefs kämen nur bei Hollywood vor.
    Götter in Weiß ohne jede Berufsehre….

    !! Warum ist das nicht DAS TOPTHEMA in allen Nachrichten ? !!

    Wie ist es möglich, solche Informationen dermaßen unter den Teppich zu kehren, auf daß sie fast nur auf der harmlosen Website eines harmlosen (sorry) Journalisten erscheinen?

    Armes Deutschland.
    Ich habe mir erlaubt, links zu diesem Artikel in meinem Blog zu verwenden, für größere Verbreitung.

    Ich wünsche mir eine neue Staatsform.
    Demokratie im Kapitalismus ist offensichtlich nur eine andere Form von Diktatur.
    Und ein Land voller ehrlicher Menschen.

    1. So ist der Zustand: Ohne die vielen Mikro-Blogs wäre das Ganze gar nicht in den beherrschenden Medien erwähnt worden. Und wenn Du weißt, wem die Medien gehören, dann beantwortet sich die Frage nach Pressefreiheit und TOPTHEMA von selbst. Also muss vieles andere Wege gehen – wie durch deine Bereitschaft, den Text zu verbreiten. Danke.

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