»Chávez, Chávez, tritt nicht zurück« (2005)

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»Chávez, Chávez, tritt nicht zurück«

Die Reisegruppe – eine durchaus repräsentative Bestandsaufnahme der internationalistischen Linken in Deutschland

Als ich 1984 als Teilnehmer einer Brigade nach Nicaragua flog, pflückte ich voraussehbar schlecht Kaffee und sammelte dabei wertvolle Erfahrungen über eine Revolution, die die sichere Außenlinie linker Theorien verlassen hatte und sich in der Wirklichkeit zu behaupten versuchte. Der Altersdurchschnitt meiner Mitreisenden lag so um die Mitte Zwanzig, von wenigen ›Prominenten‹ (wie dem damaligen Hamburger Oberbürgermeister Henning Scherf) abgesehen, die diesem Brigadeeinsatz mediale Präsenz sichern sollten.

Der Altersdurchschnitt der TeilnehmerInnen der politischen Reise nach Venezuela 2004 lag bei über Vierzig. Die politische Herkunft und Geschichte der meisten hätte vielsplittriger, bunter und zusammengewürfelter kaum sein können. Nur am minoritären Anteil der Frauen hat sich nichts geändert.

Khaled[1] ist palästinensischer Herkunft, so um die Mitte Zwanzig, lebt in München und verdient sein Geld als Computerspezialist bei BMW. Sein Vater arbeitet als Arzt im Gazastreifen. Zu den zahlreichen israelischen Militär-Operationen vor dem angekündigten Rückzug aus diesem besetzten Gebiet gehörte die Zerstörung von über 900.000 Olivenbäumen, eine bedeutende Einkommensquelle für die »palästinensische Autonomie«. Als Khaled vor ein paar Monaten seine Eltern besuchte, wurde er wochenlang an der Ausreise gehindert.

Kurt lebt in einem kleinen Städtchen in Mittelhessen, ist verrentet und beteiligte sich in den 80er Jahren in Nicaragua am Wideraufbau des zusammengebrochenen Elektrizitätsnetzes. In Deutschland engagierte er sich bei ›Gewerkschaftler gegen Wallmann‹.

Ernst ist Mitte Fünfzig und war zu DDR-Zeiten Offizier in der Deutschen Volksarmee. Stolz erwähnt er, dass er denselben Dienstgrad hatte wie der heutige Präsident von Venezuela Hugo Chávez. Er war mehrere Jahre in der damaligen Sowjetunion und studierte dort Militärwissenschaften. Während ich nur Hügel und Gräben sah, konnte Ernst mit Begeisterung und Verve deren militärische Bedeutung bzw. Überwindbarkeit trocken erklären – auch wenn ich das nicht immer für wichtig hielt.

August ist ebenfalls Mitte Fünfzig. Er ist Sozialpädagoge in der Nähe von Tübingen, arbeitet in der Einzelfallhilfe, die dem Jugendamt unterstellt ist. Er ist von seinem Wirken nicht sonderlich überzeugt – und hat die Schnauze voll. Politisiert haben ihn die Vietnam-Proteste. Mit leuchtenden Augen erzählt er, wie sie in ihrem kleinen Dorf nahe Tübingen eine Demonstration von über 150 Vietnam-GegnerInnen auf die Beine stellten – vor ca. 35 Jahren.

Mahmoud, über sechzig, ist gebürtiger Iraner. Ende der 60er Jahre kam er nach Deutschland, um Bauwesen zu studieren. Die Heirat rettete ihn vor dem absehbaren Entzug der Aufenthaltsgenehmigung. Seit über 20 Jahren arbeitet Vadji in einem städtischen Unternehmen, das Zug um Zug privatisiert und mit billigen Arbeitskräften outgesourct wird. Er ist überzeugter Marxist-Leninist, würde am liebsten den Ex-Militanten Joschka Fischer persönlich erschießen und lässt sich nur mit lieber Mühe und vorübergehend von der Großherzigkeit einer Revolution überzeugen.

Sein Sohn ist Mitte zwanzig, brach die Lehre zum Hotelkaufmann ab und arbeitet nun als Leiharbeiter einer Sklavenfirma in zwei Hotels. Als Lektüre und Studium hatte er ein Buch von Karl Marx dabei: der Anti-Düring.

Carl ist sage und schreibe 84 Jahre jung und man schmeichelt ihm dabei keine Sekunde. Jeder Unannehmlichkeit und Schwierigkeit begegnete er mit einer Leichtigkeit und Unbezogenheit, um die ich ihn immer wieder beneidete. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er als Soldat. In 5-jähriger sowjetischer Kriegsgefangenschaft lernte er russisch und wurde Antifaschist. Heute ist er Mitglied der Erich-Mühsam-Gesellschaft.

Wenn es nicht so bitter wäre, könnte man mit ein wenig Humor sagen, dass sich über 35 Jahre linke deutsche Geschichte trafen – auf venezuelanischem Boden.

Kann in Venezuela gelingen, was in Portugal und Nicaragua scheiterte? Eine transnationale Reise durch Geschichte und Gegenwart.

Ausgangspunkt dieses Beitrages ist eine Ende letzten Jahres initiierte politische Reise nach und durch Venezuela. Es war keine Regierungstour, sondern eine Begegnung mit zahlreichen Basisorganisationen und –initiativen des ›bolivarianischen Prozesses‹.

In folgenden geht es mir darum, die dort gemachten Eindrücke mit früheren revolutionären Prozessen in Verbindung zu bringen. Wenn ich hierzu Portugal 1974 bis 1976 und Nicaragua 1979 bis 1997 als Beispiele herausgreife, dann geht es mir um zweierlei: Zum einen werden damit sehr viele Ähnlichkeiten deutlich, die helfen können, die Veränderungen in Venezuela einzuordnen. Zum anderen ist die Frage zu beantworten: Warum soll in Venezuela etwas gelingen, was u.a. in Portugal und Nicaragua scheiterte? Was ist in Venezuela anders? Was spricht dafür, dass sich die Geschichte nicht (zwangsläufig) wiederholt?

Die Skepsis gegenüber der »bolivarianischen Revolution« ist weder unbegründet noch hinderlich. Sie ist in meinem Beitrag eine notwendige Voraussetzung, um mit eigenen und von anderen gemachten Erfahrungen achtvoll umzugehen. Die eindeutige Parteinahme für diese Revolution darf die (Befreiungs-)Kämpfe der letzten zwanzig, dreißig Jahre nicht ausblenden. In vielen dieser Kämpfe siegte nicht der Sozialismus, sondern (im besten Fall) die nachholende Entwicklung (Chile, Portugal, Nicaragua, El Salvador, Iran u.s.w.). Nicht der Imperialismus wurde besiegt, sondern eine oligarchische Klasse, die der Entwicklung eines modernen Kapitalismus im Weg stand.

»Die Reise des jungen Ché«

Einen Tag vor Abreise schaute ich mir den Film des brasilianischen Regisseurs Walter Salles »Die Reise des jungen Ché« an: »Im Jahre 1952, noch als Studenten, unternahmen Ché und Alberto eine neunmonatige Reise durch halb Lateinamerika (…) Aus den unbesorgten Jünglingen, die in den Tag hineinlebten und mit fantasievollen Abenteuergeschichten die lokalen Dorfschönheiten bezirzten, werden im Laufe der Reise nachdenkliche Männer, die mit eigener Anschauung die wahren Tragödien Lateinamerikas erfahren. Eine endlose Geschichte von Armut und Reichtum, Stolz und Tradition, Temperament und Lebensfreude, Unterdrückung und Ungerechtigkeit.« (Kino-Journal, Frankfurt/Main, November 2004) Für die einen ist der Film nichts weiter als eine rührselige Roadmovie-Geschichte, die den längst kommerzialisierten Ché-Kult um die Jugend des/r Protagonisten bereichert. Für andere ist es politisches Kino, das den richtigen Ton für die im Aufbruch befindlichen Bewegungen gegen »Neoliberalismus« gefunden hat, für eine neue Protestgeneration, die zu Hunderttausenden mit der Parole »Eine andere Welt ist möglich« auf die Straße geht.

Ganz gewiss bündelt dieser Film ein breites Spektrum an Sympathien und Motiven. Auch dafür heimste er zahlreiche Preise ein – und das hat seinen Preis: Der Film »verschont« seine Zuschauer mit den Konsequenzen, die die beiden Protagonisten aus ihrer Reise gezogen haben. Sie werden lediglich im Nachspann kurz angerissen.

Ohne Chávez je begegnet zu sein, trifft man ihn überall in Venezuela. Es gibt kein Armenviertel, kein barrio, in dem nicht Plakate, Parolen und Transparente an Chávez appellieren bzw. erinnern.

»Aló Presidente«

Die Bewohner eines barrios erzählten ganz stolz, dass Chávez einmal im Jahr bei ihnen ist und bei den Arbeiten selbst anpackt. Die Petroarbeiter eines staatlichen Treibstofflagers erinnerten sich ganz genau, dass es Chávez war, der sie 2002/3 – während des Generalstreiks der Opposition – aufforderte, das stillgelegte Treibstofflager zu besetzen und wieder in Betrieb zu nehmen. Jede Woche talkt Chávez in der Sendung »Aló Presidente« stundenlang mit Gott und der Welt – und beeindruckt durch Wissen, Witz und seine Bereitschaft zuzuhören.

Chávez hat nicht nur Militärwissenschaften studiert. Er ist auch ein viel belesener Mann. In einem Interview mit Junge Welt zitiert er auf nicht einmal eineinhalb Seiten Jesus, Simón Bolívar, Antonio Gala, Eduardo Galeano und Noam Chomsky. Befürworter der »Empire«-Theorie sind sich ganz sicher, dass Chávez bei einer seiner vielen globalen Überlegungen und Analysen auch die Namen der Autoren, Negri/Hardt fallen ließ.

Dr. Carolus Wimmer, Mitglied in der Kommunistischen Partei Venezuelas, korrigierte die Ansicht, dass es die venezolanische Regierung gewesen sei, die für Ende dieses Jahres zu einer Diskussion um die »Revolution in der Revolution« aufgerufen hätte: »Der Vorschlag zu dieser Debatte ist nicht von der Regierung ausgegangen, sondern von Präsident Hugo Chávez.« (jW vom 13.12.2004)

Neben all dem hat Chávez noch genug Zeit, über 50 Minister zu entlassen, von der Opposition kontrollierte Institutionen kaltzustellen und neue ins Leben zu rufen, die die verabschiedeten Gesetze mit den Basisorganisationen direkt umzusetzen versuchen.

Wie es Hugo Chávez schafft, auch noch nach Kuba, Russland, Iran, Libyen, Dakar u.s.w. zu fliegen, um neue Allianzen zu schmieden, weiß eigentlich niemand so recht. Chávez ein Tausendsassa, ein Messias, ein Volksheld?

In den westlichen Medien, von rechts bis sozialdemokratisch, ist man sich grob einig: Chávez ist ein »Autokrat«, ein »Linksnationalist«, ein »Populist«. Manche Linke schließen sich diesem Urteil mit leichtem Abstand an.

Linke Militärputsche

Der »bolivarianische« Prozess begann mit einem gescheiterten linken Militärputsch. Wenn man die »bolivarianische Revolution« verstehen und einordnen will, darf man die Bedeutung (linker und rechter) Militärs in diesem Prozess nicht unterschlagen. 1992 scheiterten linke Militärs unter Führung von Hugo Chávez mit einem Putsch, der die sozialdemokratische Regierung Andrés Péres aus dem Amt werfen wollte. Aus der militärischen Niederlage machte Chávez einen politischen Sieg. Im Fernsehen bekannte er sich zum fehlgeschlagenen Putsch, übernahm dafür die Verantwortung und avancierte zum Volkshelden.

In den darauf folgenden Jahren gründete Chávez eine eigene Partei, die Bewegung der Fünften Republik (MVR). Was mit militärischen Mitteln scheiterte, sollte auf parlamentarischem Weg zum Erfolg führen. Tatsächlich gewann Hugo Chávez die Präsidentschaftswahlen im Jahr 1998 – zur Überraschung vieler. Eine breite Verfassungsdiskussion unter Einschluss von Basisorganisationen mündete 1999 in der Verabschiedung einer neuen bolivarianischen Verfassung.

Mit Hilfe der um ihre Macht bangenden Oligarchenklasse organisierten rechte Militärs 2002 einen Putsch. Der gewählte Präsident Hugo Chávez wurde gefangen genommen und für abgesetzt erklärt. Eine breite Massenbewegung befreite nicht nur Chávez, sondern ließ auch den rechten Militärputsch innerhalb von 48 Stunden scheitern. Eine nicht enden wollende Erfolgsstory.

Eine Begegnung zwischen »Movimento das Forcas Armadas« (MFA) in Portugal der 70er Jahre und der »revolución bolivariana« in Venezuela 2004?

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez lud dieses Jahr den portugiesischen Exbrigadegeneral Vasco Gonzales zu einem Besuch ein. Beide sind nicht nur Militärs. Beide haben auch einen (erfolgreichen bzw. gescheiterten) linken Militärputsch angeführt. Vasco Gonzales »war einer der Hauptorganisatoren des Putsches vom 25. April und hat als Theoretiker der MFA das Grundsatzprogramm der Streitkräftebewegung mitverfasst.« (Spiegel, 20/1975). Er stand und steht der KP Portugal nahe und war für kurze Zeit Premierminister.

Die Geschichte eines der spektakulärsten Militärputsche »im Herzen der Bestie« liegt weit zurück, und dessen Bedeutung, vor allem die damit in Gang gesetzten revolutionäre Prozesse, sind weitgehend in Vergessenheit geraten. In Portugal herrschte über 40 Jahre die Diktatur Antonio de Oliveira Salazars, der 1933 in faschistischer Diktion den »estado novo« (Neuer Staat) ausrief. Als er 1968 an einem Schlaganfall starb, führte Marcello Caetano seine Geschäfte weiter.

Trotz der weltweiten Dekolonialisierungsbestrebungen und -bewegungen hielt das diktatorische Regime Caetanos an seinen Überseeprovinzen (Angola, Moçambique, Guinea-Bissau usw.) mit aller Gewalt fest. Hunderttausende starben in diesen Kriegen, 40 Prozent des portugiesischen Staatshaushalts verschlang die blutige Aufrechterhaltung des Kolonialstatus. In den Kolonialkriegen desillusioniert und politisiert, gründete sich aus den Reihen des Militärs die MFA, die Movimento das Forcas Armadas, die Bewegung der Streitkräfte. Am 25.April 1974 gelang es dieser, in einem unblutigen Militärputsch das Regime Caetanos zu stürzen. Die »Nelkenrevolution« wurde geboren – und hatte ursprünglich bescheidene Ziele: Beendigung der Kolonialkriege, Sturz der Diktatur, Überwindung der bitteren Armut und brutalen Unterdrückung der Mehrheit der Bevölkerung. Der Militärputsch setzte ungeahnte Kräfte frei und Bewegungen in Gang. Ein rasanter Radikalisierungsprozess erfasste das ganze Land: Landlose Bauern besetzten Großgrundbesitz, Arbeiter übernahmen Fabriken, Häuser in den großen Städten wurden besetzt. Eine gigantische Streik- und Aneignungswelle erfasste das Land: Im Sommer 1975 werden 380 selbstverwaltete Fabriken, 500 Kooperativen und 330 landwirtschaftliche Kooperativen gezählt. Verstaatlicht wurden nach Angaben des damaligen Finanzministers Jose Joaquim Fragoso »etwa 30 Prozent der Produktion insgesamt: Außer den Banken und Versicherungen die großen Schifffahrtsgesellschaften, die Eisenbahn, die Luftverkehrsgesellschaft TAP, die Elektrizitätsversorgung, die Stahlindustrie und vier Erdölgesellschaften.« (Spiegel, 20/1975)

Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte entstanden, Konzepte einer rätedemokratischen Gesellschaftsordnung wurden entworfen, in die Tat umgesetzt. Sie bestimmten als Parallelmacht zu staatlichen Institutionen die gesellschaftliche Dynamik in diesem Land.

Davon waren nicht nur Teile des putschistischen Militärs überrascht, die nicht mehr als den Anschluss an das demokratische Europa, die Etablierung einer bürgerlichen, kapitalistisch verfassten Gesellschaft im Sinn hatten. Ein rechter Putsch im März 1975 sollte der unerwünschten Entwicklung den Garaus machen und scheiterte. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Die meisten Banken und Fabriken wurden verstaatlicht, Großgrundbesitz enteignet. Angst ging um – bei denen, die etwas zu verlieren hatten. Die Sozialistische Partei Portugals, 1973 als Exilpartei in Bonn gegründet und »stille Reserve« der Sozialistischen Internationale, wurde ins Rennen geschickt. Mit reichlich Geld und Protektion aufgerüstet sollte sie als Gegengewicht zur Kommunistischen Partei Portugals und als Gegenpol zu »linksradikalen« rätedemokratischen Konzepten etabliert werden.

Auch die Kommunistische Partei Portugals hatte Angst, mit ihren Vorstellungen ins Hintertreffen zu gelangen und versuchte, die Führung in den revolutionären Prozessen zu übernehmen.

Das »demokratische Europa« witterte ein Übergreifen des revolutionären Virus, eine Algamisierung verschiedener Bewegungen in Europa und machte ideologisch und propagandistisch Front gegen ein »kommunistisches Portugal«. Wie ernst es damit war, verdeutlicht ein Detail, das im Rahmen der zahllosen Spendenskandale an die Öffentlichkeit kam. Parteiübergreifend wiesen alle im Bundestag vertretenen Parteien den BND (militärischer Bundesnachrichtendienst) an, in einer geheimen Aktion über 30 Millionen DM nach Spanien/Portugal zu transferieren, um dort die jeweiligen »demokratischen« Kräfte gegen »linke Extremisten« zu unterstützen. Und falls diese illegalen Einflussnahme nichts fruchten sollten, stand noch die 6. US-Kriegsflotte vor der Küste Portugals bereit.

Die Interventionsdrohung, die der damalige US-Präsident Gerald Ford am 23. Mai 1975 aussprach, war kein Alleingang. Nur ein paar Tage später, am 29. Mai 1975, wiederholte Bundeskanzler Helmut Schmidt, am Rande der tagenden NATO-Konferenz in Brüssel, »was den Portugiesen von den anderen Regierungschefs schon tags zuvor erklärt worden war: Dass es eine Schwelle gebe, jenseits der man eine weitere Linksentwicklung in Portugal nicht hinnehmen könne. Beide Seiten vermieden jedoch, die möglichen Konsequenzen zu definieren.« (Spiegel, 23/1975)

»Operation Stopp«

Rechte Militärs verstanden diese Drohungen als Ermutigung und putschten am 25. November 1975 ein zweites Mal, diesmal erfolgreich. Die politische und ökonomische Wende war eingeläutet. Eine bürgerliche (Parteien-)Verfassung wurde verabschiedet, die allen Basisorganisationen den Zugang zur Macht abschnitt. Die Wahlen im Jahre 1976 erklärten die Sozialistische Partei unter Mario Soares zum Sieger. In den folgenden Jahren sah diese ihre wichtigste Aufgabe darin, die revolutionären Errungenschaften Schritt für Schritt einzuebnen: Die besetzten Ländereien und Fabriken wurden (gewaltsam) geräumt und an die alten Besitzer übergeben. Die Verstaatlichungen wurden rückgängig gemacht, begleitet von einer Repressionswelle (»Operation Stopp« 1984) gegen all jene, die sich dem nicht fügen wollten. Unter anderen wurde Otelo Saraiva de Carvalho, Brigadegeneral, Mitbegründer der MFA und Präsidentschaftskandidat der FUP (Einheitsfront des Volkes), 1980 wegen »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung«, also für das Festhalten an revolutionären Konzepten, zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt.

Woran scheiterte die portugiesische Revolution im Inneren? Manche machen dafür einen zu schnellen Radikalisierungsprozess verantwortlich, der in Avantgarden gedacht wurde und nicht als breiter, gesellschaftlicher Prozess umgesetzt werden konnte. Andere weisen auf die konterrevolutionäre Rolle der Sozialistischen Partei Portugals unter Mario Soares hin. Isabel do Carmo, Mitbegründerin der »Revolutionären Brigaden«, aus denen Anfang der 70er Jahre die PRP (Partido Revolucionaro do Proletariado) hervorging, macht die Kommunistische Partei für den Erfolg des zweiten Rechtsputsches mitverantwortlich: »Die KP verhandelte vor dem 25. November mehrere Male mit Mitgliedern des Revolutionsrates (höchstes Gremium der MFA, dV.), genauer: mit der Melo-Antunes-Fraktion, die an den Rechtsputschvorbereitungen beteiligt war.« (taz vom 28.4.1984)

Unbeantwortet bleibt auch die Frage: Wurde die Rolle der linken Militärs überschätzt, die Macht der rechten Militärs unterschätzt? So bruchstückhaft die europäische Linke diese revolutionäre Phase Portugals im Gedächtnis bewahrt hat, so lückenhaft und andeutungsvoll bleiben die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen wurden.

Die Einladung, die Hugo Chávez an den portugiesischen Exgeneral Vasco Gonzales ausgesprochen hat, könnte also dem guten Zweck dienen, Zusammenhänge herzustellen, Lehren aus dieser Phase portugiesischer Geschichte zu ziehen. Für einen »bolivarianischen Prozess«, der sich zwischen sozialdemokratischem/peronistischem Machtkalkül und revolutionären Veränderungen einen Weg bahnt.

Ob dieser Austausch unter (Ex-)Militärs zustande kommt, ist ungewiss: »Was eine Reise nach Caracas betrifft, zu der ich von Chávez eingeladen worden bin: Ich würde sie gerne antreten, muss aber als 83jähriger zunächst den Rat meiner Ärzte einholen. Immerhin handelt es sich um einen langen Flug.« (zitiert nach RotFuchs, 12/2004)

»Chávismus« – eine Spielart der Sozialdemokratie oder ein kluger revolutionärer Prozess?

Manche meinen es analytisch, andere eher verächtlich: Was die Chávez-Regierung bisher gemacht habe, sei doch nichts anderes als Sozialdemokratie. Sie verbessere die medizinische Versorgung für die Ärmsten der Bevölkerung. Sie gewährleiste allen eine kostenlose schulische Grundausbildung, entkoppele damit Bildung von Herkunft und Einkommen. Sie verbreitere den Zugang zu qualifizierten Berufen und verknüpfe Aufstieg und Karriere mehr mit Leistung als mit der Klassenzugehörigkeit.

Was für die übergroße Mehrheit eine Erleichterung des (Über-)Lebens bedeutet, kann von modernen Kapitaleignern als notwendige Reform zur Optimierung der Ressource Mensch begrüßt und vernutzt werden. Tatsache ist, dass die neue Regierung an den kapitalistischen Bedingungen bisher nicht gerüttelt hat. Wer zur Oligarchenklasse zählt, schwimmt immer noch im Geld. Sie ist weitgehend politisch, jedoch nicht ökonomisch entmachtet. So formulierte Hugo Chávez bisher als zentrales Ziel einen »Kapitalismus mit menschlichem Antlitz«. (jW vom 21.5.2004) Am ärmlichen Lohn, an den miesen Arbeitsbedingungen, an den meist in die Armut führenden Renten hat sich nicht viel geändert. Weder ist der Kapitalismus überwunden, noch gibt es eine Vorstellung davon, wie dies unter Weltmarktbedingungen machbar ist.

Das ist der Stand der Dinge in Venezuela. Die neue Verfassung erlaubt die Enteignung – mit Entschädigung zu marktüblichen Preisen. Diese steht jedoch nicht an, wenn ein Fabrik- oder Landbesitzer sein Eigentum nutzt. Die Möglichkeit zur Enteignung ist also zuallererst ein Druckmittel, um die Verwertung von Eigentum zu erzwingen. Die Abschaffung von Privateigentum an Produktionsmitteln und daran geknüpfte Ausbeutung ist damit nicht gemeint.

Dennoch, die bisher verabschiedeten Reformen unterscheiden sich in drei wesentlichen Punkten von Spielarten des Peronismus, des Populismus:

– Alle Reformen sind nicht als »Almosen« an die Armen konzipiert. Neben den materiellen Veränderungen steht die Selbstorganisation, die Partizipation, im Vordergrund. Die Bewohner organisieren sich, bestimmen ihren Bedarf, stellen Forderungen. Die materiellen Ressourcen stellt der Staat, die soziale und gesellschaftliche Kompetenz liegt in den Händen der Basisorganisationen.

– Allen Formen des Paternalismus ist das hierarchische Verhältnis Herr – Knecht eingeschrieben. Die neuen Gesetze hingegen zielen auf politische und gesellschaftliche Teilnahme, wirken in Richtung Aufhebung gesellschaftlicher und politischer Ausschlüsse. Erklärte Absicht ist, die Basisorganisationen in die Konzipierung und Ausführung von Projekten (Gesundheitszentren, Schulen, Medien, Einkaufszentren, Volksküchen, Wohnungsbau) einzubinden, ihnen eine Stimme zu geben.

– Viele Gesetze, mit denen Basisorganisationen und -projekte ins Leben gerufen bzw. gestärkt werden, führen zu Konfrontationen mit einem Teil des Staatsapparats, der solche Gesetze blockiert bzw. hintergeht. Die Basisorganisationen machen ihrem Ärger nicht nur Luft, sie entwickeln auch ein Bewusstsein für den Unterschied zwischen der Chávez-Fraktion, dem Parteienbündnis und Teilen des Staatsapparats. Bislang konnte dieser Konflikt produktiv gelöst werden. Manches deutet auf Entstaatlichung, manches auf einen »besseren Staat«. Ob sich die neuen Formen gesellschaftlicher Macht durchsetzen, kann niemand versprechen. Möglich ist auch, dass sich die vielen Basisorganisationen und -projekte im Dickicht der Macht- und Entscheidungsstrukturen erschöpfen.

Genauso wenig ist die Gefahr der Deregulierung von der Hand zu weisen, die in Europa unter dem Motto ›Mehr Eigenverantwortung – weniger Wohlfahrtsmentalität‹ eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Der venezolanische Staat investiert relativ wenig Geld und vereinnahmt die weitgehend kostenlos zur Verfügung gestellten sozialen und gesellschaftlichen Ressourcen der BewohnerInnen. Dass dies passieren kann, liegt an den kapitalistischen Bedingungen, innerhalb derer diese Projekte bestehen müssen. Wenn man aber diese Gesetze zur Sicherung elementarer Lebensbedingungen und der Selbstermächtigung als Anfang für weitere Veränderungen begreift, sollte man nicht bange werden.

Die Frente Sandinista in Nicaragua

Viele Entscheidungen, die die Chávez-Regierung in den letzten fünf Jahren getroffen hat, erinnern an die Politik der Frente Sandinista in Nikaragua (1979–1997).

Als wir 1984/85 nochmals nach Nicaragua flogen, waren zwar die Euphorie und der ungeheure Elan der Basisorganisationen nicht verschwunden. Doch die Kluft zwischen programmatischen Erklärungen und tatsächlichen Veränderungen war schon zu spüren. Die Unantastbarkeit des kapitalistischen Sektors und die weiterhin mangelhafte Grundversorgung wurden im wahrsten Sinne des Wortes ertragen – mit Verweis auf den Krieg gegen die Contras, dem vieles, zu vieles untergeordnet wurde: »Kritik zu üben wurde immer schwieriger. Wenn die Kritik sehr hart war, lief man Gefahr, beschuldigt zu werden, der Konterrevolution in die Hände zu arbeiten, oder man wurde als ›konfliktiv‹ eingestuft oder, schlimmer noch, bezichtigt, die FSLN zu spalten, die Einheit zu gefährden.« (Gioconda Belli: Die Verteidigung des Glücks, 2001, S. 379)

Doch nicht alles konnte mit dem Krieg gegen die Contras erklärt werden, auch wenn dieser 50 Prozent des Staatshaushaltes verschlang. Die Bedeutung und der Einfluss sandinistischer Basisorganisationen wurden eingeschränkt und der Politik der FSLN unterworfen. Die beabsichtigte Enteignung von Großgrundbesitzern, die Umverteilung des Bodens (Agrarreform) und die Vergesellschaftung von Eigentum wurden nur sehr zögerlich umgesetzt. Das Versprechen, die Entscheidungsstrukturen auf Gemeinde- und Parteiebene zu demokratisieren, wurde nicht eingelöst. Stattdessen wurde eine Verfassung verabschiedet, die den Parteien eine hegemoniale Stellung zuschrieb mit einer alles überragenden Stellung des Präsidenten. Die Tatsache, dass viele genauso ums Überleben kämpften wie unter der Diktatur Somozas, erschöpfte gerade jene, die sich mit dem Einzug der Frente 1979 in Managua eine Verbesserung ihrer Lebenssituation erhofft hatten.

Auf dem Hintergrund eines massiven Wirtschaftsembargos und einer sich militärisch zuspitzenden Situation (US-Truppen marschierten ein Jahr zuvor in Panama ein) siegte 1990 die Opposition. Viele waren fassungslos und sprachlos. Wie konnte eine Opposition gewinnen, die jahrzehntelang für Armut, Unterdrückung und Diktatur stand? – Dieses Mal nicht mit Hilfe der Armee, sondern des Wahlzettels. Die Wähler wählten nicht die Idee des Sozialismus, die Idee einer menschlichen Gesellschaft mehrheitlich ab, sondern den Hunger. Die jahrzehntelange Politik der USA, das sandinistische Nicaragua mit Wirtschaftssanktionen, Sabotage, Interventionsdrohungen und finanziertem Contra-Krieg in die Knie zu zwingen, hat wesentlich zu diesem Erfolg beigetragen.

Doch was die Idee einer menschlichen Gesellschaft zerstörte, war nicht der Wahlsieg der Opposition, sondern die für unglaublich gehaltene Korruption führender Frente-Mitglieder und Ex-Comandantes, von Daniel und Huberto Ortega angefangen, über Thomas Borge bis hin zu Jaime Wheelook: Bevor sie die politische Macht an die Opposition abgaben, bereicherten sie sich mit Eigentumsüberschreibungen, die sie heute Großgrundbesitzer und Mitglieder der wohlhabenden Klasse sein lassen. 1997 wurde in einem Pakt zwischen der ultrarechten Regierung unter Arnoldo Aléman (PLC) und der FSLN die persönliche Korruption ins Politische hinein verlängert: »Der Pakt umfasst im wesentlichen drei Punkte: 1. das von FSLN-Funktionären 1990 erworbene Staatseigentum bleibt unangetastet, 2. im Gegenzug deckt die FSLN die Korruption der Aléman-Riege, 3. soll ein Zweiparteiensystem durch Änderung der Wahlgesetzgebung und der Verfassung eingerichtet werden.« (ak vom 21.12.2000) Der Charme des »mandar-obedeciendo« (gehorchend-befehlen), ein Drahtseilakt zwischen zentralistischem Politikverständnis und basisdemokratischem Korrektiv, endete in einer Farce.

Reform und Revolution?

Es ist nicht unsolidarisch, skeptisch zu sein und auf dem Teppich zu bleiben, wenn in Venezuela überall von der »bolivarianischen Revolution« geredet wird. Vieles ist in Venezuela noch nicht passiert, was sich viele dort und einige hier wünschen und für revolutionär halten würden: Zum Beispiel die Enteignung der venezolanischen Oligarchie und die Entmachtung der politischen Klasse, die seit Jahrzehnten den Staat und seine Institutionen unter sich aufgeteilt hat, oder die Einstellung der Erdöllieferungen an die USA, die zu knapp 15 Prozent vom venezolanischen Öl abhängig sind.

Die Geschichte des Ausbruchs aus der neoliberalen Logik, des Aufbruchs und Umbruchs ist in Venezuela sehr jung. Manche datieren sie auf das Jahr des gescheiterten Putsches 1992, dessen politische Brisanz ohne die niedergeschlagenen Unruhen 1989 nicht zu verstehen ist. Andere sind vorsichtiger und sprechen von einer revolutionären Bewegung erst 2002, als Millionen Menschen den Putsch von rechts vereitelten.

Ganz sicher ist die gewonnene Präsidentschaft Hugo Chávez 1998 Ausdruck des Überdrusses gegenüber Formen der politischen Repräsentation. Aber sie ist auch ein Glücksfall. Chávez und das Parteien- und Wahlbündnis konnten sich auf keine politisch starke Kraft stützen. Das Überleben verdanken sie nicht treuen, eingefleischten Parteianhängern, sondern einer Massenbewegung. Zum ersten Mal hat sich diese Kraft 1989 gezeigt, als Preiserhöhungen zu tagelangen Unruhen und Plünderungen führten, die drei- bis fünftausend Menschen, vor allem aus den Barrios, mit ihrem Leben bezahlten. Für gewöhnlich folgen Unruhen und Plünderungen Repression und Resignation.

Was sich in dem Putsch 1992 andeutete und in den letzten Jahren Gestalt annahm, ist weniger spektakulär, dafür umso wichtiger und beständiger: Die Transformation jahrzehntelanger Ohnmacht in aktives Handeln. Die Bindung spontanen Aufbegehrens in dauerhafte Strukturen von Gegen-Macht. Dieser Prozess ist erst am Anfang, breitet sich langsam und beständig aus. Die Formen der Vernetzung, der Selbstorganisation müssen erst gefunden, erprobt werden. Die Verbindungen zu Institutionen und staatlichen Einrichtungen sind brüchig, provisorisch und alles andere als gesichert. Die institutionelle Einbeziehung von Basisorganisationen in den Prozess von Regierungsentscheidungen steht erst einmal nur in der Verfassung. Das Verhältnis zum regierenden Parteienbündnis ist ambivalent.

Dieser Prozess braucht Zeit und Zuspitzungen, die ihn beschleunigen, stärken und nicht zurückwerfen oder – wie im Fall einer (militärischen) Intervention – ins Aus drücken. Zu diesen Zuspitzungen zählt die »Revolution in der Revolution«. Sie »zielt darauf ab, diejenigen, die nicht den revolutionären Weg gehen wollen oder sich sogar aktiv dagegenstellen, aus ihren Regierungspositionen zu entfernen«. (Dr. Carolus Wimmer, jW vom 13.12.2004)

Portugal – Nicaragua – Venezuela?

Sich auf die Seite dieser sozialen und gesellschaftlichen Prozesse zu stellen, heißt nicht »Solidarität mit Venezuela«, sondern mit ganz bestimmten Bewegungen und Ideen. Die Kräfte, die diesen Prozess verhindern und rückgängig machen wollen, lauern von außen und sind im Inneren präsent. Die Oligarchenklasse ist nach wie vor mächtig. Das Regierungsbündnis schließt Parteien und Personen ein, denen alles andere als die Ermächtigung der Ausgeschlossenen am Herzen liegt. Und das Militär ist nicht nur Garant, sondern auch eine Gefahr in diesem umkämpften Prozess – wenn man den rechten Putschversuch 2002 nicht ganz vergisst.

Sich eindeutig auf die Seite dieser sozialen und gesellschaftlichen Prozesse zu stellen, heißt nicht, die Erfahrungen internationalistischer Solidaritätsarbeit und »nationaler Befreiung« der letzten 30 Jahre auszublenden – mit der Behauptung, in Venezuela sei alles ganz anders und etwas ganz Neues. Portugal und Nicaragua stehen stellvertretend für viele Bewegungen und revolutionäre Prozesse, in denen nicht nur viel Neues gewagt wurde, sondern auch viel Altbekanntes die Oberhand behielt.

Wenn man sich den Putsch linker Militärs in Portugal vergegenwärtigt, dann gilt die Erinnerung nicht nur der ungeheuren Faszination, die von diesem Militäraufstand ausging. Die rechten Militärs in Verbindung mit der nie entmachteten alten Klasse hatten schließlich den längeren Atem.

Auch von den Comandantes in Nicaragua waren viele (nicht nur im Land selbst, sondern gleichermaßen in der internationalistischen Solidaritätsbewegung) in den Bann gezogen. Doch was passiert, wenn diese de facto nicht mehr (ab-)wählbar sind, wenn sie weder durch die eigene Partei noch die Basisorganisationen kontrollierbar sind, belegt die Entwicklung in Nicaragua.

Während die Gefahren im Inneren sehr ähnlich sind, hebt sich ein Unterschied sehr deutlich ab: Sowohl Portugal als auch Nicaragua waren und sind ökonomisch arme Länder, ganz im Gegensatz zu Venezuela. Es verfügt über die fünftgrößten Erdölvorkommen der Welt. Die Gewinne aus dem Erdöl machen über 50 Prozent des Staatshaushaltes aus. Eine relativ autarke Entwicklung ist möglich. Knapp 15 Prozent des Erdölbedarfs der USA werden durch Einkäufe in Venezuela gedeckt. Bisher hat die Chávez-Regierung nicht die geringste Andeutung gemacht, die Zuverlässigkeit dieser Lieferungen in Frage zu stellen, so wenig wie die Tilgung der Schulden. Vieles spricht dafür, dass die US-Regierung zur Zeit kein Interesse daran hat, diese sichere Ölquelle zu riskieren – zum Beispiel durch bürgerkriegsähnliche Unruhen, indem man die Opposition »bewaffnet« oder indem man rechte Paramilitärs aus Kolumbien zur Destabilisierung nach Venezuela schleust. Auch eine militärische Intervention scheint zurzeit kein reales Szenario zu sein. Über 150.000 US-Soldaten sitzen im Irak fest, in dem Versuch, das politische Debakel doch noch militärisch zu wenden.

Diese gegenseitige Abhängigkeit und die weltpolitische Lage verschaffen Luft. Notwendige Zeit für einen revolutionären Prozess, der nicht von permanenten Interventionsdrohungen zermürbt wird oder durch »Contra«-Angriffe auszubluten droht.

Wenn revolutionär nicht bedeutet, das zu tun, was man sich wünscht, sondern das, was heute die gesellschaftliche Basis derer verbreitert, die morgen die Umwälzung der Verhältnisse erreichen wollen … dann besteht Hoffnung.

Ein filmreifes Ende

Die Reise nach Venezuela endete wie der Film »Der Aufstand« von Costa Gavras anfängt: Man sieht ein Flugzeug landen. Ein gut gekleideter Mann steigt aus und wird von mehreren Männern an der Gangway erwartet. Die Szene wirkt banal, man begreift sie erst mit Fortgang des Filmes. Der Mann löst einen anderen CIA-Agenten ab und soll die Aufstandsbekämpfung in einem unbenannt gebliebenen lateinamerikanischen Land koordinieren.

Ich besteige das Flugzeug in Caracas nach Paris, ein beliebter Kurztrip der venezolanischen Oligarchie. Deren politische Macht ist mit Sicherheit angegriffen. Im Geld schwimmt sie dennoch. Ich suche meinen reservierten Platz, der bereits von einem Mann in schwarzem Anzug, Mitte 30, besetzt ist. Ich zeige ihm meine Bordkarte, er zeigt mir seine, mit derselben Platzreservierung. Großzügig bietet er mir den Fensterplatz an. Als er dazu aufsteht, merke ich, dass er ein Priester ist. Ich bedeute ihm, er möge sitzen bleiben, schließlich sei er dem Himmel mehr verbunden als ich. Wir kommen sofort ins Gespräch. Er ist ein Mann Gottes, arbeitet seit drei Jahren in Caracas und ist auf dem Weg nach Rom, für ein paar Tage. Eigentlich lebt er in Santiago de Chile.

»Wie lange bleiben Sie in Caracas?«

»Vielleicht noch ein, zwei Jahre.«

»Und dann?«

»Dann komme ich woanders hin.« Mit dem Finger malt er einen Kreis in die Luft.

»Und wissen Sie, wohin Sie kommen?«

Er lächelt vieldeutig: »Nein.«

Ich frage ihn, wie er die Veränderungen in Venezuela deutet.

»Seit fünf Jahren geht es abwärts.« Seine flache Hand zeigt nach unten.

»Seit Chávez an der Macht ist. Er hat viel versprochen und nichts gehalten. Schauen Sie sich die Straßen, die Schulen, die Häuser, die Stadt an. Alles zerfällt. Caracas ist ein einziges Barrio.«

»Aber es wurden doch in den letzten Jahren viele Straßen, Schulen errichtet, das Gesundheitswesen neu aufgebaut …«, wende ich vorsichtig ein.

»Ach was, das ist doch alles Propaganda. Sehen Sie, vor Chávez gab es ausgezeichnete Universitäten. Jetzt liegt alles am Boden.«

»Aber vor Chávez konnten nur die Reichen die Universität besuchen …«

»Das stimmt nicht. Auf den Universitäten konnten auch Menschen studieren, die arm waren.«

Es werden Getränke angeboten, bei Air France auch Champagner. Ich scherze mit dem Mann Gottes auf französisch, wir persiflieren die den Franzosen zugeschriebene Kunst, das Leben zu genießen und stoßen darauf an.

»Woran liegt das Ihrer Meinung, dass jetzt alles im Argen liegt?«

Der Mann Gottes schaut sich prüfend um und redet gedämpft weiter:

»Das Problem heute ist, dass Chávez alles unter Kontrolle gebracht hat, die Bürgermeister, die Polizei, die Justiz, das Militär.«

»Aber im Obersten Gerichtshof sitzen noch Leute der Opposition, Richter, die Gesetzesvorhaben der Regierung blockieren oder kassieren! Oder nehmen Sie die Medien: Von sieben nationalen Fernsehsendern sind sechs in der Hand der Opposition!«

Der Priester schaut mich ganz und gar nicht milde an, gibt mir keine Antwort und wechselt das Thema.

»Es ist doch eine Schande, dass in einem so reichen Land wie Venezuela so viele Menschen arm sind. Schauen Sie sich doch die Barrios an. Das ist doch ein Skandal!«

»Da haben Sie recht. Aber die barrios sind nicht in den letzten fünf Jahren entstanden, sondern unter den vielen Regierungen und Parteien davor, die heute die Armut anprangern.«

Der Mann Gottes gibt mir wieder keine Antwort. Wir wechseln das Thema endgültig, und er preist mir die Schönheiten Venezuelas, die Ferieninsel Margarita, die traumhaften Strände, die ausgezeichneten Hotels…

Nach einer Stunde steht der Mann Gottes auf. Er muss sich die Füße vertreten. Als er zu seinem Platz nicht zurückkehrt, bin ich froh und nutze beide Sitze. Ich dämmere in die Nacht hinein und erwische mich bei dem Gedanken, dass der Priester gar kein Priester ist, sondern ein CIA-Agent, erst in Chile, jetzt in Caracas, dann…

Wolf Wetzel 2005


[1] Die Namen der Teilnehmer wurden redaktionell geändert

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